Leseproben aus den zuletzt erschienenen Heften:
Adorno, Theodor W.
6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek
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Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist. (...)
LeseprobeAstel, Arnfrid
5/2024 | Den Augenblick beim Schopf fassen. Ein Gespräch über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern. Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, vorbereitet habe. Das hast du nie gemacht. Ich habe einen Großteil deiner Gesprächssendungen im Studio mitgekriegt, aber du hattest nie einen Zettel dabei. Warum eigentlich nicht? Ist das Snobismus?
ARNFRID ASTEL: Nein. Ich bin kein sehr systematischer Mensch. Das habe ich ja mal in einem Buch geäußert, das Steffen Aug im Pocul-Verlag herausgegeben hat. Es heißt »Im Chaos schwimmt der aufgeräumte Kopf«. Man kann natürlich Ordnungen schaffen, und das ganze Leben, der ganze Staat und alles um uns herum besteht aus dieser Ordnung. Nur im Kopf wird nichts vernetzt. Ich habe nicht die Kraft, außerhalb meines Kopfes Ordnung zu schaffen, und (...)
Baldwin, James
2/1988 | Gespräch mit Jordan Elgrably
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JORDAN ELGRABLY: Würden Sie uns sagen, warum Sie die Staaten verlassen haben?
JAMES BALDWIN: Ich war blank. Ich kam nach Paris mit 40 Dollar in der Tasche, aber ich mußte weg aus New York. Die Not anderer Menschen schlug mir auf die Reflexe. Über lange Zeiträume hatte mich das Lesen entrückt, dennoch mußte ich mit den Straßen, mit den Behörden und mit der Kälte fertig werden. Ich wußte, was es hieß, weiß zu sein, und ich wußte, was es hieß, Neger zu sein, und ich wußte, was mich erwartete. (...)
Borchardt, Rudolf
3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster
Vorbemerkung Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« – einsetzend mit Reflexionen über den »Sinn der Autobiographie«, gefolgt von Details zur jüdischen Familien- und Gelehrtengeschichte als Beispiele für die (...)
LeseprobeBrecht, Bertolt
2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold
Vorbemerkung
Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober (...)
Canetti, Elias
6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek
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Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist. (...)
LeseprobeCzapski, Józef
4/2023 | Tumult und Gespenster
(…)
Cannes. Das Schiff ist gerade erst aus Genua eingelaufen. Auf den Wellen schaukelt eine riesige, weise Schmuckschatulle mit einem roten Streifen am Schornstein und einem grünen dort, wo es die Wellen berührt: »Giulio Cesare«. Schiffsreisen liegen mir überhaupt nicht. Ich kann Schiffe nicht leiden, nicht einmal die schönsten. Die überlangen Flure und Treppen, überall ein eigenartiger Geruch (Lack? Schmiere?), die Enge der Kabinen – auch der ärmste Schlucker wohnt auf Erden geräumiger –, das sanfte Schaukeln, auch wenn der Kreuzer stillsteht – mir wird schon aus bloßer Angst, seekrank zu werden, leicht übel. Nervosität, das normale Reisefieber. Wo sind die Kisten? Wo steht welcher Koffer? Hektisches Suchen, um die »beste« Liege auszuwählen, obwohl alle (...)
Elgrably, Jordan
2/1988 | Gespräch mit James Baldwin
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JORDAN ELGRABLY: Würden Sie uns sagen, warum Sie die Staaten verlassen haben?
JAMES BALDWIN: Ich war blank. Ich kam nach Paris mit 40 Dollar in der Tasche, aber ich mußte weg aus New York. Die Not anderer Menschen schlug mir auf die Reflexe. Über lange Zeiträume hatte mich das Lesen entrückt, dennoch mußte ich mit den Straßen, mit den Behörden und mit der Kälte fertig werden. Ich wußte, was es hieß, weiß zu sein, und ich wußte, was es hieß, Neger zu sein, und ich wußte, was mich erwartete. (...)
Gröschner, Annett
2/2023 | Minutentexte
Für Alexander Kluge
1: Hartguß und Herzweiche oder der Elefant im Raum,
über den ich sprechen will
Mit den Zufällen ist es wie mit den Seelen von Häusern. Ich glaube nicht an sie, aber sie können mich trotzdem überwältigen. Nehmen wir das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23 mit seinen verborgenen Bewohnern. In der Villa kreuzen sich die Zufälle auf ganz besondere Art.
Ich liebe Bauakten, weil sie so unbestechlich auf ein Ergebnis hinauslaufen. Das Ergebnis ist ein Haus, das sich nach und nach der Bauakte entfremdet oder ganz und gar wieder verschwindet, worauf das nächste kommt und in die gleiche Akte eingespeist wird. In dieser hier klebte hinter dem Umschlag der Grundbuchauszug, auf dem der Name Louise Hildebrandt stand, geborene Gruson – die (...)
Hamburger, Michael
2/2024 | Moderne deutsche Literatur in England. Ein persönlicher Erfahrungsbericht (1981). Mit einer Vorbemerkung von Till Greite
Michael Hamburger, Übersetzer aus der Not des Übersetztwerdens. Eine Vorbemerkung
Der mit dem Werk Michael Hamburgers vertraute Leser mag in der erstmals auf deutsch abgedruckten Rede über eine bemerkenswerte Auslassung stolpern. Denn anders als in seiner Autobiographie »Verlorener Einsatz« oder in seiner Essaysammlung »Zwischen den Sprachen« bleibt die Urszene seiner literarischen Existenz, seiner dreifachen Identität als Dichter, Übersetzer und Kritiker hier unberührt. Immer wieder greift Hamburger in seinem Werk ein Schlüsselerlebnis auf: den Schreck des verstummenden Kindes, dem in der Fremde keine Worte mehr zur Verfügung stehen. Es beginnt 1933 mit einem neunjährigen Jungen aus Berlin-Charlottenburg, der über die Flure einer britischen Schule geistert. (...)
Hein, Christoph
5/2009 | Gespräch mit Ralph Schock
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RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)
Hertmans, Stefan
2/2016 | Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität
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»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später, (...)
LeseprobeHines, Thomas S.
4/2024 | Christa Wolf und der Überzieher von Dr. Freud. Erinnerungen an eine kalifornische Freundschaft
Achtzehn Jahre war ich mit Christa Wolf befreundet. Zum ersten Mal hörte ich von ihr in den frühen neunziger Jahren, als ich in der New York Times eine Besprechung ihrer Werke las. Der Roman »Nachdenken über Christa T.« wurde besonders hervorgehoben, was mich zur Lektüre des Buchs anregte. Als eine Art Bildungsroman verfolgt es die Freundschaft der Erzählerin mit Christa T., einer Frau, deren fiktive Identität zum Teil mit der von Christa Wolf verschmilzt. Ganz eigentümlich berührte mich, daß Wolf als Motto Johannes R. Bechers »Was ist das: dieses Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen?« wählte. »Nachdenken über Christa T.« brachte mich dazu, das genauso berührende Buch »Kindheitsmuster « und einige andere ihrer Romane zu lesen.
Als ich wenig später erfuhr, daß (...)
Horn, Eva
5/2023 | Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten
Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte oder Bildmotive mit fallenden Blättern. Jahreszeiten sind banal wie Wettergespräche, peinlich wie die Rede vom »Wonnemonat Mai«, langweilig wie alles, was so erwartbar ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Gelegentlich ist die Rede von untypischen Jahreszeiten, aber das ist mittlerweile so unoriginell wie der Reflex, jedes schlechte Wetter auf den Klimawandel zu schieben. Immerhin hat es der Frühling im Sommer 2022 mal in die Nachrichten geschafft. Zwei Mitglieder der italienischen »Letzten Generation« hatten sich in den Uffizien an ein Kunstwerk geklebt, das nicht besser gewählt sein konnte: Sandro Botticellis »Primavera«. (...)
LeseprobeHuchel, Peter
5-6/1962 | Gedichte
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Der Garten des Theophrast
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
(...)
Kienlechner, Sabina
5/2024 | Kafka und die Fakten
I.
Möglicherweise begann das Ganze ja tatsächlich schon zu biblischen Zeiten, mit Pontius Pilatus, als er fragte: »Was ist Wahrheit?« Jedenfalls will man uns das offenbar glauben machen, denn nahezu alle, die sich mit dem Thema befassen – Philosophen, Theologen, Journalisten, Wissenschaftler –, eröffnen ihre Abhandlungen mit eben dieser Episode. Geht man aber davon aus, daß es damals begann, dann gab es mit der Wahrheit von Anfang an ein Problem. Denn Pontius Pilatus stellte die Frage ja nicht wie einer, der etwas wissen will oder der überhaupt eine Antwort erwartet. Er stellte vielmehr die Wahrheit selbst in Frage, im Sinne von: Was heißt schon Wahrheit, oder: Wahrheit – was soll das denn sein …?
Doch die Wahrheit selbst in Frage zu stellen – das ist und (...)
Klein, Thomas
5/2024 | Gedächtnisprotokoll einer Inhaftnahme
Vorbemerkung
Am 7. September 1979 wurde ich zusammen mit zwei weiteren Personen vom Ministerium für Staatssicherheit unter dem Vorwurf staatsfeindlicher Verbindungen beziehungsweise landesverräterischer Agententätigkeit inhaftiert. Die Inhaftierung war das Resultat einer »operativen Kombination« des MfS, in deren Vollzug ein in Westberlin lebender IM im Auftrag der Sicherheitsorgane Zeitschriften des in Westdeutschland tätigen Sozialistischen Osteuropakomitees in einem Schließfach in Ostberlin deponierte, dieses Paket mit unseren Namen versah und das MfS dann diese von ihm selbst organisierte Zusendung beschlagnahmte.
Dieser IM war für uns als Kurier zu unseren Genossen im Westen tätig. Seiner »Nebentätigkeit « für das MfS verdankten die Sicherheitsorgane auch (...)
Kohlhaase, Wolfgang
1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt (...)
LeseprobeLangner, Beatrix Katharina
3/2024 | Die Dinge suchen ihren Dichter oder Lob des unfertigen Denkens. Giordano Bruno, Johannes Kepler und die Entdeckung der Unendlichkeit
1 Welche tiefe Erschütterung aller Gewißheiten es bedeutete, als zum ersten Mal das Universum als unendlicher Raum gedacht wurde – das können wir heutige Menschen uns nur noch schwer vorstellen. Denn was heißt das, Unendlichkeit? Zweitausend Jahre lang hatte das aristotelische Dogma, daß die Welt eine fest geschlossene Kugel und die Erde deren Mittelpunkt sei, der Menschheit ein Zuhause geschenkt; unsere Wohnung war begrenzt von der inneren Wölbung der Himmelskugel, ihre Wände waren der blau gestrichene Horizont, um den sich die zweite konvexe Wölbung der Fixsternsphäre legte, aus der die Sterne wie Nägel in einem gläsernen Iglu herableuchteten. Dahinter war nichts. Das Nichts, die absolute Leere läßt sich genauso wenig denken wie das Unendliche – ob wires nun En Sof, (...)
LeseprobeLent, Dora
4/2024 | Im freien Fall wird die Wolke Gewicht. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Wolfgang Matz
Vorbemerkung
Die Literaturgeschichte ist an Dora Lent vorbeigegangen, zu unzeitgemäß war das, was sie dachte und schrieb. Auch sie selbst ist vorbeigegangen, hat sich wohl allzu fern gehalten von der Literatur ihrer Zeit; war zum Fernhalten aber noch mehr gezwungen, denn unter dem Druck der Gewalterfahrung der dreißiger, vierziger, bis in die fünfziger Jahre war an freies Publizieren nicht zu denken, also gerade während jener wesentlichen, erwachsenen Lebensjahre, in denen ein literarisches Werk seine Öffentlichkeit finden muß.
Dorothee »Dora« Buch wird am 11. April 1897 in Brandenburg an der Havel geboren, geht dort zur Schule, legt das Abitur ab (»Drei großartige Studienrätinnen, 1. Generation studierter Frauen, die wir öfter zu Fahrten einluden«, heißt es in (...)
Martynova, Olga
4/2024 | Elkes ABC
»… der Weg unserer Freundschaft ist durch Bücher gekennzeichnet, wie der Weg eines Trecks in der Steppe durch Skelette gegessener Kühe«, schrieb Oleg Jurjew in seiner Laudatio auf Elke Erb anläßlich des Preises der Literaturhäuser 2011. Dem kann ich mich nur anschließen. Seit 1995 war Elke Erb für uns beide eine Freundin, bewunderte Dichterin, Gesprächspartnerin, unsere Übersetzerin, immer überraschend, spöttisch, ernst, zugewandt.
Wenn jemand erst vor kurzem gestorben ist, bleibt er noch eine Weile bei den Lebenden, wie der letzte Sonnenstrahl am Abend. Ich versuche, etwas zu erhalten, das noch ein bißchen Gegenwart ist, bevor es endgültig Vergangenheit wird.
Nach der Nachricht von Elkes Tod versuchte ich, einige Erinnerungen zusammenzutragen, nichts (...)
Meerapfel, Jeanine
5/2023 | Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt.
Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen; sie verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird … eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, die Erinnerungen durch eine (...)
Mensching, Steffen
5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
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1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. (...)
Nimtz-Köster, Renate
2/2024 | Tauben auf dem Arm, Tarnfleck auf den Straßen. Czernowitz im zweiten Kriegsjahr
Schon wieder Czernowitz? Ist nicht alles über diese Stadt in der ukrainischen Bukowina gesagt worden? Auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa gelegen, galt sie einst als »heimliche Hauptstadt Europas«, schwärmte noch in den neunziger Jahren der Journalist Georg Heinzen. Mit Rosensträußen, wie er poetisierte, seien die Bürgersteige gefegt worden. Und es habe mehr Buchhandlungen als Bäckereien gegeben.
Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt, es gibt zahllose Konditoreien feinster Güte, überschaubar ist hingegen die Zahl der Buchhandlungen. In deren Fenstern ist der Lesestoff eher wahllos ausgelegt. Das traditionsreiche »Literaturcafé« am Rathausplatz ist zur »Literaturbank« umgestylt worden – die Bücherwand hinter der alten Wendeltreppe (...)
Nowka, Michael B.
5/2020 | Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983 –1990)
Beschreibung eines geheimen Berufs Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, Faulbaum, jungen Kiefern, Birken, Eichen und Robinien. Brombeerhecken und Wipfelbrüche umging ich. Herabgefallene, ins Gras eingewachsene Äste und alte, ebenfalls überwachsene Fuchsbaue waren (...)
LeseprobeOpitz, Michael
3/2024 | Günter de Bruyns Nachlaß. Aus dem Abseits nach Beeskow
»Mit beginnender Dämmerung überfiel mich eine Lustigkeit«, notierte Günter de Bruyn am 24. Februar 1969 angesichts des Glücks, ein »Haus zu besitzen«, in seinem Tagebuch. »Ich sitze am Ofen, rauche eine Zigarre u(nd) bringe es fast fertig, zu faulenzen.« Das Haus, das ihm so viel bedeutete, hatte er zwei Jahre zuvor eher zufällig gefunden, wie aus seiner Autobiographie »Vierzig Jahre« (1996) zu erfahren ist. Im Juni 1967 hatte er zusammen mit Bekannten eine Wanderung in eine Gegend unternommen, die nicht zu den bevorzugten Ausflugszielen der Berliner gehörte. Sensationelles war in Görsdorf und Umgebung nicht zu erwarten, aber man hoffte, auf zwei Mühlen zu stoßen, folgte dem Lauf eines Baches; und suchte eigentlich – so de Bruyn – die »Abwesenheit von Mensch und (...)
LeseprobePlessen, Elisabeth
3/2024 | Katia Manns unerwünschte Memoiren
Der Mauerbau im August 1961 veränderte das Leben in der Viersektorenstadt Berlin radikal. Sie war nun in zwei Hälften zerschnitten. Westberlin war nicht Westdeutschland, war etwas Drittes, der Status blieb in der Schwebe – und die Stadt hing am Bonner Tropf. Ab 1964 studierte ich an der Freien Universität Berlin Philosophie und Literaturwissenschaft, wechselte aber bald zu Walter Höllerer, der an der Technischen Universität den Lehrstuhl für Neuere Germanistik innehatte und ein renommiertes Doktorandenseminar leitete – ein quirliger, innovativer Geist, der unendlich viel für die Belebung und Erhaltung des literarischen Lebens tat. Er erfand das Literarische Colloquium, schuf wichtige Zeitschriften wie »Akzente« und »Sprache im technischen Zeitalter«, mit seinen (...)
LeseprobePrabala-Joslin, Avrina
3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum
Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn. Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten. Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht »Chellaiya hier«, wenn er abhebt. Sagt nicht »Wiederhören«, wenn er auflegt. Sie findet, das sollte er. Zwei seiner Freunde sind vor kurzem gestorben. Ihre Mom ist Wissenschaftlerin. (...)
LeseprobeRegler, Gustav
4/2023 | Paris bei Nacht
Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem gußeisernen Herzen den Kopf in die Federn steckt,
wenn das Barmädchen Suzanne auf ihre Nase eine kleine Wolke von Puder tupft, die Flaschen wegstellt und sagt: »Il fait tard«,
dann ist Nacht (...)
Röckel, Susanne
4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius
(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein (...)
Różycki, Tomasz
2/2023 | Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine
Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können und das Entwirren des Geflechts von Namen und Zeichen großen Schmerz bereitet. Ich tauche ein in das Dunkel und versuche, einige Winkel kurz zu erhellen. Ich beuge mich vor und sammle ein paar verkohlte Klumpen, Fetzen und Rußpartikel. Ich muß mich an die Erde schmiegen, mit dem Kopf ins hohe Gras des Bahndamms eintauchen. Ungerecht, wie überaus ungerecht sind diese Teile, diese Bruchstückchen. Nie wird man sie zu einem Ganzen fügen können, zu einem vollständigen, gerechten und objektiven Bild. Immer ist es bloß ein Bruchstück, das man retten und entziffern konnte, der Rest – wo ist der Rest? Ich weiß es nicht, noch immer hat (...)
LeseprobeSchock, Ralph
5/2009 | Gespräch mit Christoph Hein
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RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)
Schuster, Gerhard
6/2024 | »Dafür zu sorgen, dass diesem Ausländer nicht etwas vorberlinert wird«. Rudolf Borchardt 1929: Eine Intervention in Florenz und ihre Vorgeschichte
Vier Kilometer Fußmarsch sind es bis zur Villa Chiappelli im Weiler Candeglia nordöstlich von Pistoia, vom Bahnhof erst durch die Stadt und dann noch eine Dreiviertelstunde Wegzeit. Am Nachmittag des 11. April 1926 wandert ein Dutzend Kursteilnehmer des zwei Wochen dauernden »Studiengangs für Kunsthistoriker preussischer Universitäten« die (damals kaum befahrene) Strada Provinciale Nr. 24 entlang, als Abschluß ihrer ersten Exkursion zur italienischen Kunst des 13. Jahrhunderts. Der sie begleitende Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Dr. Heinrich Bodmer (1885 – 1950), aus der weitverzweigten Zürcher Familie stammend, zu der auch Borchardts Mäzen Martin Bodmer gehört, ist schon im Mai des Vorjahres hier mehrere Tage zu Gast, »eine alte Bekanntschaft B’s, ein (...)
LeseprobeSeghers, Anna
6/1949 | Das Argonautenschiff. Sagen von Jason
Befristetes Angebot:
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»Die Gäste sahen offen oder verstohlen zu dem Fremden hinüber, der allein in der Hafenkneipe saß, ohne sich in ein Gespräch zu mischen. Was war denn das für ein Mann, der plötzlich hier eingedrungen war? (...)«
LeseprobeSeiler, Lutz
2/2023 | Die Moosbrand-Geschichte
Grüne Schläfen
Woran ich mich erinnere: daß Schnee gefallen war am Abend der ersten »moosbrand«-Lesung im Spätherbst 1993. Die Adresse hieß An der Trift 5 in Wilhelmshorst. Elf Autorinnen und Autoren lasen ihre unveröffentlichten Texte und sprachen darüber, die meisten kannten sich schon aus den achtziger Jahren und waren befreundet, darunter Elke Erb, Thomas Böhme, Cornelia Saxe, Thomas Kunst, Nadja Gogolin, Jörg Schieke, Katrin Dorn, Klaus Michael. Einige kamen aus Berlin, einige waren aus Leipzig angereist – man würde übernachten, man nahm sich die Zeit.
Schon am Nachmittag, während unserer Wanderung über die Felder von Wilhelmshorst nach Langerwisch und Wildenbruch, hatte es zu schneien begonnen. Wir gingen die Chaussee nach Langerwisch hinunter; ich (...)
Tawada, Yoko
3/2023 | Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang
1
Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. Die Vernunft hat ein solches Gebäude schon längst als eine bösartige Zelle der Geschichte diagnostiziert. Lassen wir es weiter stehen, vermehren sich möglicherweise unbemerkt seine Zellen. Sie (...)
Trott zu Solz, Adam von
1/2024 | Ein böser Traum. Mit einer Nachbemerkung von Benigna von Krusenstjern
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Wir marschierten ganz früh morgens auf einer schmutzigen Straße zwischen kahlen Bäumen. Linker Hand zeigte sich der erste helle Streifen am Horizont. Ich war ziemlich weit vorn in dem Zug. Von Zeit zu Zeit überholte mich in der lockeren Marschordnung mein Hintermann – einer, mit dem ich mal zusammen auf der Schule gewesen war. Dahinter liefen, das wußte ich, noch allerlei Freunde aus der Studentenzeit und Beamte, die ich dann später auf den Büros kennengelernt hatte. Wir alle aber trugen die gleiche schmutziggrüne Uniform, Wickelgamaschen und Stiefel, deren Nägel auf dem Schotter im Straßendreck schürften. Wir marschierten aus, um uns eine Hinrichtung anzusehen.
(...)
Winkels, Hubert
2/2024 | Der Ziegen-Zyklus
Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins Bewußtsein drängt, hat man ein spontanes Gefühl für den ursprünglichen Grund der Verdrängung oder den nachträglichen, wie in diesem Fall. Bei einer Reise durch Jordanien konnte ich wie einst Moses vom Berg Nebo aus nicht nur das Heilige Land sehen, sondern auch Jerusalem, die Heilige Stadt, und weiter nördlich bis Jericho, den Ort selbst nicht richtig. Die biblische, heute palästinensische Stadt auf der Westbank liegt tief im Jordantal und ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, wie es heißt. Und die älteste, wie es ebenfalls heißt. Hier hatte ich mich in einen zweibeinigen Ziegenbock verwandelt, vor etlichen Jahren, als junger Student, bei (...)
LeseprobeWodin, Natascha
6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit
TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde? NATASCHA WODIN: Das Schreiben kann in der Tat sehr hart sein, aber ich habe nie an einem Lebenswerk gearbeitet. Daß ich immer mit den Worten kämpfen mußte, gehörte einfach dazu, es liegt in der Natur der Sache (...)
Leseprobe