
[€ 14,00] ISBN 978-3-943297-85-0
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Leseprobe aus Heft 5/2025
Davar, Mitra
Das zweite Regal
Ich befinde mich in der ersten Reihe, im zweiten Regal. Herr Gerami sitzt im angrenzenden Regal.
Wir müssen so sitzen, daß wir in das Regal hineinpassen – eine besondere Art zu sitzen, die wir mit viel Übung erlernt haben: die Beine an den Bauch ziehen und die Arme darum schlingen.
Diejenigen, die vor uns einsortiert wurden, sind inzwischen verstaubt. Der Lagerleiter hat eine gelbe Plastikfolie über sie gelegt. Es reicht, sie leicht anzustoßen – schon zerfallen sie zu Staub und rieseln zu Boden.
Der Abteilungsleiter kommt täglich vorbei, manchmal macht er Bemerkungen:
»Warum ist die Frau dort so schief?«
Oder: »Die Haare dieser Frau!«
Manchmal kritisiert er auch unser Verhalten. Einmal sagte er zu mir:
»Wenn die Chefs vorbeigehen, sticht dein großer Zeh seltsam ins Auge.«
Ich antwortete:
»Mein Zeh ist einfach lang. Mehr kann ich ihn nicht einziehen.«
Ein paar Mitarbeiter des Direktors kamen näher, sahen sich meinen Zeh an, und zum Glück glaubten sie mir, daß keine Absicht dahintersteckte.
Manchmal hören wir Gerüchte aus den benachbarten Regalen: Nach zwanzig Jahren in der Kiste erreichen wir das Rentenalter – allerdings mit nur dreißig Tagen Rente. Das ist für uns nicht sehr erfreulich.
»Wir sitzen so lange hier, bis wir mit dreißig Tagen Rente in den Ruhestand gehen.«
Dieser Satz wird unter uns jeden Tag wiederholt.
Wichtige Nachrichten erregen uns – wir rucken dann ein wenig, versuchen, die Arme kurz zu lösen und tief Luft zu holen.
Kürzlich haben wir gehört, daß Menschen in Regalen nun unter das Gesetz für schwere Arbeit fallen. Falls dieses Gesetz in Kraft tritt, könnten wir vielleicht aus den Regalen herauskommen. Doch das lange Sitzen hat uns schwer und träge gemacht.
Vorgestern wollte eine Frau das Regal verlassen. Kaum stand sie auf, brach ihr Bein. Mit jedem Schritt knackten ihre Knochen lauter. Sie war nur knapp zur Tür gekommen, da heulte schon der Krankenwagen heran.
Die Liebe haben wir hier fast vergessen. Nur manchmal erinnern wir uns daran, daß Herr Gerami im oberen oder benachbarten Regal sitzt. Meist merken wir es am Geruch seines verschwitzten Körpers.
Da wir so lange unbeweglich sitzen, haben sich unsere Geruchssinne geschärft – wir nehmen Gerüche sofort wahr.
Wenn wir einen Finger durch die Regale strecken können, machen wir kleine Gesten, ich vielleicht, damit Herr Gerami merkt, daß ich hier bin und an ihn denke.
Das ist unsere einzige Freude – so können wir wenigstens die niedrige Decke ertragen.
Doch heute ist es anders. Ich will mich befreien – meine Beine aus dem Regal strecken, den Rücken, wenn möglich, aufrichten.
Der Grund: Ich habe geträumt, ich hätte zwei kleine Flügel bekommen, wäre aus dem Regal geflogen, hätte mich auf dem Dachboden niedergelassen, in einem doppelwandigen Regal ein Ei gelegt.
Dort oben konnte mich niemand erreichen – das war mein Traum.
Es gab auch andere Träume, die mich beunruhigten:
Als wären meine Brüste geschmolzen, und ich lernte gerade, zu jeder Musik zu tanzen.
Ich sagte:
»Papa, wir konnten nie tanzen – aber sie spielten so viele verschiedene Melodien für uns, daß wir lernten, nach ihrer Pfeife zu tanzen.«
Es ist jetzt zwölf Uhr mittags. Ich habe gegessen und will mein kurzes Mittagsschläfchen halten – eine der schönsten Zeiten des Tages. Ich habe meine Beruhigungstabletten genommen, damit ich keine Alpträume bekomme.
Ein weicher, betäubender Schlaf senkt sich über mich – aber ich denke noch ans Fliegen. Ich will ein Orakel befragen, aber merke, daß ich eingeschlafen bin und im Traum Hafis um ein Zeichen bitte, ob Fliegen gut oder schlecht sei.
Ich hielt das Buch verkehrt herum. Schaute in den Spiegel. Meine Pupillen, einst die schwärzesten der Welt, waren nun ganz weiß geworden.
Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Jemand hatte mich geweckt – es war der Lagerleiter, der laut rief:
»Dame, Sie schulden uns Süßigkeiten! Sie sind jetzt offiziell unter das Gesetz für schwere Arbeit gefallen. Nach zwanzig Jahren können Sie nun mit dreißig Tagen Gehalt in Rente gehen!«
Ich suchte nach Herrn Gerami – es war wohl die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen. Ich beugte mich vor, bewegte – glaube ich – meinen großen Zeh. Keine Antwort.
Da hörte ich den Lagerleiter sagen:
»Suchen Sie ihn nicht! Wir haben ihn gestern mit Plastikfolie abgedeckt.«
Ich hörte sein schallendes Lachen, während er auf eine Ecke des Lagers zeigte.
Ich blickte dorthin – auf die Stelle, wo gelbe Plastikplanen die Regale bedeckten.
Aus dem Persischen von Mehrpuyan Mirchi
SINN UND FORM 5/2025, S. 710-711