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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 14,00]  ISBN 978-3-943297-83-6
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Leseprobe aus Heft 3/2025

Krauß, Angela

Das Werk sind nicht die Bücher.
Ein Gespräch mit Jörg Magenau über Lebenskunst und poetische Existenz


JÖRG MAGENAU: Dein Werk umfaßt fünfzehn Titel, geschrieben in zweiundvierzig Jahren. Es ist überschaubar, auch deshalb, weil es sich um schmale Bände handelt. Die Texte brauchen nicht viel Raum, weil sie so dicht sind. Sie öffnen sich beim Lesen nach innen, weiten sich aus in der Zeit, denn davon handeln sie auch: von Raum und Zeit, vom All und der Unendlichkeit. Doch zugleich verharren sie im ganz Konkreten, Dinghaften, Alltäglichen, wo das Leben sich abspielt. Zumeist läßt du ein Ich, eine Ich-Erzählerin sprechen. Nur im Debüt »Das Vergnügen« und in einigen Erzählungen ist das anders. Was ist das für ein Ich, das du in deinen Texten einsetzt? Eine literarische Figur? Ein Alter ego? Eine Erzählinstanz?
ANGELA KRAUSS: Am Anfang meines Erwachsenenlebens wollte ich bildende Künstlerin werden. Ein erstes Studium ging in Richtung Gebrauchsgrafik und Schrift, bevor ich mich für die Literatur entschied. Warum, könnte ich gar nicht erklären. Anfang zwanzig kamen in mir Fragen auf, die ich schon in der Pubertät gefühlt hatte: Was ist das hier? Wo bin ich? Mit diesen Fragen nähere ich mich offenbar seit jeher der Welt. Das zieht mich in jeder Weise ins Leben hinein. Damals nun hatte ich das prägende Ereignis meiner Jugend zu verarbeiten, den Freitod meines Vaters. Literarisch? Der Anspruch war zu hoch. Ich spürte das. Was in mir war, hatte keine Worte. Jetzt stellte sich die Frage so: Wer will da eigentlich schreiben? Wer ist das? Ich? Welches Ich? Diese Frage ist so fundamental – die Antwort kann eigentlich nur gefühlt werden, kaum formuliert. Wer kann sagen, welchen Raum dieses Ich in uns einnimmt? Zweifellos reicht es weit über das Autobiographische hinaus. Um dieses autobiographische Ich – das wußte ich instinktiv – ging es mir nicht. Das war nicht das, was ich an Erkenntnis suchte im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters. Und so habe ich bewußt Umwege eingeschlagen, habe im ersten Buch »Das Vergnügen« etwas ganz anderes erzählt und in der dritten Person. Erst achtzehn Jahre später war ich in der Lage, in der Art und Weise Ich zu sagen, in der ich die Geschichte meines Vaters schreiben konnte. Als Künstler soll man erklären, warum man etwas so und nicht anders macht. Aber es ist nicht zu erklären. Dem sogenannten Schaffensprozeß liegt keine Erklärungsnot zugrunde, sondern das freie Erleben, das umgesetzt wird in eine Form, in eine Gestalt. Das Konzept, so es das gegeben hat, löst sich im geglückten Kunstwerk auf. Es ist nicht mehr auffindbar. Erst mit »Der Dienst«, der Geschichte meines Vaters, war ich so weit, Ich zu sagen, weil ich mir dieses Ichs nun sicher war.
MAGENAU: Was ist das für ein Ich?
KRAUSS: Ein überpersönliches, das dem Leser gestattet, hineinzuschlüpfen, eines, das mich mit allen Lesern verbindet. Es hat mich fortan vor diesem Autobiographie-Ich bewahrt, auch wenn autobiographischer Stoff in meinen Büchern zu finden ist. Dabei ist die Grenze zur Fiktion für mich selbst nicht auszumachen, sie löst sich bereits vor dem Schreiben auf. Und das zunehmend. Es ist eine Frage der Intensität. Die Erlebnisstärke beim Schreiben übertrifft die ursprüngliche mühelos. Übrigens eine phantastische Erfahrung, im wahrsten Wortsinn.
MAGENAU: Also es ist ein Sich-weg-Schreiben vom Autobiographischen, das aber der Ausgangspunkt bleibt? Das Material sind Fragmente des gelebten Lebens, das zur Sprache kommt. Das läßt das Autorinnen-Ich erkennen. Und gleichzeitig ist es ein Ich, das etwas ganz anderes darstellt.
KRAUSS: Es ist offen für alle. Auf einer tiefen Ebene bin ich es, in meiner überzeitlichen Essenz sozusagen. Das geht weit über das Autobiographische hinaus.
MAGENAU: Die Hoffnung, daß andere sich in das eigene Ich hineinlesen und hineinfinden, können autofiktionale Autoren doch aber genauso haben, also Karl Ove Knausgård zum Beispiel oder Annie Ernaux, die ganz direkt am eigenen Leben entlangschreiben. Warum bist du da skeptisch?
KRAUSS: Ich wäre gefangen in meiner eigenen Biographie. Nach der suche ich aber nicht, ich suche nach Erweiterung, Entgrenzung, deshalb schreibe ich. Mein persönliches Leben ist dabei eine Inspiration. Eine Inspiration, über es hinauszugehen.
MAGENAU: In »Eine Wiege« habe ich die schöne Formulierung gefunden: »Die einzige ersehnte Konsequenz des Dichtens: daß meine Person in ihrer poetischen Gestalt restlos auf- also untergeht.«
KRAUSS: Das würde ich mein Credo nennen.
MAGENAU: In »Eine Wiege« arbeitest du mit Fotos aus der Kindheit, Fotos, die dein Vater gemacht hat. Da würde man doch sofort sagen, das ist eine Form von Autobiographie, von Kindheitsbuch. Es ist zugleich lyrisch, poetisch und doch Prosa.
KRAUSS: Wie gesagt, ich habe keinerlei Interesse an Autobiographie. Deshalb war der von dir zitierte Vorsatz nötig, damit das von meiner Seite ausgeschlossen wird. Wir wissen, wie verlockend es ist zu glauben, etwas sei autobiographisch, worunter gern die sogenannte Wirklichkeit verstanden wird. Keiner kann sich dem ganz entziehen, ich selbst auch nicht. Der Mensch ist neugierig auf den anderen. Wer dazu noch private Fotos aus der Kindheit bietet, lädt ja geradezu zu dieser Lesart ein. Aber gerade das hat mich ungeheuer gereizt. Die erste Prüfung war »Der Dienst«, weil er auf autobiographischen Tatsachen beruht. »Eine Wiege« bedeutete angesichts der Fotografien: Erhöhung der Prüfungsbedingungen. Aber man ist mir auch hier nie zu nahe getreten mit der Bemerkung: Oh, das bist ja du! Meine Person ist also in ihrer poetischen Gestalt auf- und untergegangen.
MAGENAU: Wann hast du zum ersten Mal auf deine Bücher geschaut und gesagt, das sind nicht nur einzelne Titel, sondern ein Werk? Hast du das Gefühl, da ist etwas Ganzes, das zusammengehört? Gibt es so etwas wie ein Werk-Gefühl?
KRAUSS: Das bildet sich allmählich heraus. Auf meiner Website gibt es eine Rubrik »Werk«, aber das ist eher so gemeint, daß ich da am Werk bin. Damit ist kein qualitativer Werkbegriff gemeint. In Werk steckt ja das Werken mit drin. Zusammenhänge ergeben sich auch dadurch, daß ich mich immer wieder mal spielerisch selbst zitiere. Mozart hat das auch so gemacht. Beim letzten Buch »Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen« geht das bis in den Titel. Der Satz stammt aus »Im schönsten Fall«. Das war 2011. Das Weltgebäude zu errichten hat heute eine ganz andere Dringlichkeit bekommen, deshalb habe ich den Satz als Titel gewählt. Ich mache das also nicht nur, um die einzelnen Bücher miteinander zu verbinden. Es ist wie ein Knüpfen am ganzen Netz, dem der Literatur und des Lebens. Dabei merke ich ganz nebenbei, daß ich tatsächlich an einem Werk schreibe.
MAGENAU: Gibt es so etwas wie eine Entwicklung? Schreibst du dich zu etwas hin, dem du von Buch zu Buch näherkommst?
KRAUSS: Das geschieht von selbst, es ist ein Wachsen im Leben. Ich komme im Leben einem Etwas näher. Was ist das? Vollkommenheit, Erkenntnis im Rahmen dessen, was Beschränktheit und Unvorhersehbarkeit des Lebens erlauben. Ich reflektiere, komponiere das schreibend, in Formen, Szenen.
MAGENAU: In deiner Poetikvorlesung »Die Gesamtliebe und die Einzelliebe« erzählst du einen Traum, in dem du das Werk siehst. Das ist ein Block aus Sandstein, kantig behauen. Als Gegenstand läßt es sich aber nicht festhalten. Die Träumerin weiß, wenn sie jetzt zum Stift greifen würde, um das alles aufzuschreiben, wäre es verloren. Also läßt sie es und gleitet zurück in den Traum.
KRAUSS: Ich habe damals den »Dienst« gesehen. Eine Zeitlang hatte ich eine ganze Traumserie. Immer wenn ich zu einem neuen Buch ansetzte, habe ich es im Traum gesehen. Einmal als barocken Schuh mit einer Schleife darauf, einmal diesen Sandsteinblock, und jedesmal wußte ich, ich sehe jetzt mein Werk. Ich habe das Symbol seltsamerweise immer sofort verstanden, es wies auf Gestalt und Rhythmus des Textes hin. Einmal war es eine Torte, eine feinziselierte Schokoladentorte.
MAGENAU: An einer anderen Stelle in der Poetikvorlesung setzt du das Werk mit dem Sein gleich. Da sprichst du von Eigensinn, von der Zauberkraft des Bewußtseins, von Sehnsucht, Erwartung, Phantasie, Liebe. Das sind die Kräfte, die das Sein hervorbringen. Und dann schreibst du: »Das war mein Werk, mein Kunstwerk.« Da geht es nicht mehr um ein einzelnes Buch, sondern tatsächlich um ein in Jahrzehnten geschaffenes Werk: das Sein.
KRAUSS: Das Werk sind nicht die Bücher. Es ist die Lebenskunst. Sie besteht in erster Linie darin, daß man sich seiner bewußt wird. Nur dann kann man aus dem Leben mit all seinen Banalitäten ein Kunststück schaffen. Es muß nicht unbedingt Literatur daraus werden. Es kann auch etwas anderes entstehen. Ein Spiel etwa, eine bewußt gewordene Lebensweise, ein Lebensentwurf, der eine Versuchsanordnung bleibt, alles mögliche. Mir wurde offenbar in die Wiege gelegt, nach einer poetischen Existenz zu streben, das Leben als Kunstwerk auffassen zu wollen. Daß dabei Bücher entstehen, ist ein schöner Nebeneffekt.

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SINN UND FORM 3/2025, S. 357-367, hier S. 357-360