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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 14,00]  ISBN 978-3-943297-83-6
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Leseprobe aus Heft 3/2025

Willumsen, Noah

»Und was micht selbst angeht? Ich spiele«
Helene Weigel, ein Porträt


Mehr als fünf Jahrzehnte nach dem Tod der großen Schauspielerin Helene Weigel, die am 12. Mai diesen Jahres 125 geworden wäre, ist ihr künstlerisches Vermächtnis schwer zu fassen. Denn im Gegensatz zu den Texten ihres Mannes, Bertolt Brecht, ist ihr Spiel nicht mehr direkt erlebbar. Es läßt sich nur rekonstruieren: aus den Erinnerungen ihrer Freunde, den Medien ihrer Zeit und den wenigen Zeugnissen, die sie selbst hinterließ. Spuren muß man suchen und eine Sprache finden für das Transitorische.
Weigel selbst hat ihren späteren Archivaren kaum zugearbeitet. Als Matthias Braun 1978 daranging, im Bertolt-Brecht-Archiv ein Helene-Weigel-Archiv einzurichten, mußte er mit einiger Bestürzung feststellen, daß fast gar nichts vorhanden war. Schriften von Weigel gibt es im eigentlichen Sinne nicht. Sie schrieb zwar aufschlußreiche und oft schöne Briefe, die von »Theater der Zeit« herausgegeben wurden (»Wir sind zu berühmt, um überall hinzugehen.« Briefwechsel 1935 – 1971). Aber alle Angebote, Rezensionen oder Artikel zu verfassen, lehnte sie mit extravaganter Bescheidenheit ab: »Ich kann nicht schreiben, bin ein besserer Analphabet, und außerdem, unter uns gesagt, ich hasse die Äußerungssucht.« Das meiste, was wir über ihr Selbstverständnis wissen, läßt sich zwei längeren biographischen Gesprächen entnehmen, zu denen sie sich 1959 von Hans Bunge und 1969 von Werner Hecht überreden ließ. Auszüge aus dem ersten wurden in »helene weigel 100«, aus dem zweiten in Hechts »Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts« abgedruckt. Auch Braun entsann sich seines Tonbandgeräts und führte über hundert Zeitzeugengespräche, um den mageren Bestand zu ergänzen. Sie bleiben eine unschätzbare Quelle für Weigels Leben und Werk und bilden die Basis für Sabine Kebirs maßgebliche Biographie »Helene Weigel. Abstieg in den Ruhm« (2002).
Wer aber »die Stimme der Weigel« direkt hören möchte – eine Stimme, die nach Anna Seghers »soviel wert sein könnte wie Zeitungsauflagen oder viele Packen Flugblätter oder ein paar Waggon Munition« –, kann auf Aufnahmen zurückgreifen, die für Rundfunk oder Schallplatten gemacht wurden und im Internet kursieren. Weigel als Frau Luckerniddle etwa, in der Hörspielfassung von »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« (1932), die vor Hitlers Machtergreifung noch gesendet werden konnte. »Ihre Stimme ist voll und dunkel«, schreibt Brecht in »Über eine große Schauspielerin unserer Generation«, »und auch in der Schärfe und im Schrei angenehm.« Aber hier schreit sie nicht. Im schleppenden Tonfall ihres geschmeidigen Alts deutet sich das unvorstellbare Leid der verhungernden Arbeiterfrau, deren Mann versehentlich zu Büchsenfleisch verarbeitet worden ist, lediglich als Trägheit an. Apathisch, ohne teilnahmslos zu sein, scheint Weigel an den Lippen der von ihr verkörperten Figur zu hängen, die sich selbst benommen zuhört, ohne fassen zu können, daß sie noch spricht.
Zwölf Jahre früher, am Anfang ihrer Karriere, pflegte sie allerdings einen ganz anderen Vortragsstil. Sie hatte, wie sie im Gespräch mit Bunge erzählt, »enormes Glück«: Mit neunzehn, mehr oder weniger ohne Schauspielausbildung, wurde die junge Wienerin direkt in Frankfurt engagiert. Zwar ließ ihr »sonores, von tiefer Empfindung getragenes Organ« die Kritik bald aufhorchen, denn sie verfügte von Natur aus über »eine Biegsamkeit der Stimme« und besaß »in hohem Maße die Kunst der Instrumentation der Rede«. Doch habe sie, bemängelte Max Geisenheyme, der sie 1921 als das Dienstmädchen Pauline Piperkarcka in Hauptmanns »Die Ratten« erlebte, ihre Worte »mit einer Vehemenz hochgeschleudert, daß sie oft ihren Sinn verloren. Helene Weigel drängte sich mit brennender Vitalität in den Vordergrund des Geschehens. Ihr Brüllen, Heulen und Schluchzen hatte Unterirdisches. Ein kleiner Vulkan begann zu speien.«
Das einzige Dokument, das diesen ihren ersten Stil belegt, ist eine Szene von vielleicht 50 Sekunden aus Fritz Langs »Metropolis« (1927). Während Heinrich George in der Rolle des Vorarbeiters Grot vor seiner zerstörten Herz-Maschine eine Art expressionistischen Anfall erleidet, tritt Weigel wie in Vorwegnahme ihrer berühmtesten Rolle als eine hart bedrängte Mutter auf, die ihre Kinder durch eigenes, unüberlegtes Handeln verloren zu haben glaubt, ersoffen in den unteren Schächten der Stadt, aus denen die Maschine das Wasser nicht mehr abpumpt. Die Kamera wechselt hin und her zwischen dem riesenhaften George und dem Arbeiterchor, aus dem Weigel immer auszubrechen im Begriff scheint. Ihre Affekte lösen sich mit jeder Einstellung gleichsam stroboskopisch ab: Panik, Flehen, Verzweiflung, Haß. Selbst im Stummfilm ist das Schreien der »lärmendsten Schauspielerin Berlins«, wie sie Norbert Falk 1928 noch nennen konnte, unüberhörbar.
»Ihr sehr emotionales Spiel, ihr leidenschaftliches Schöpfen aus mystischen Urgründen, ihre lautstark eingesetzte Stimme, ihre Tendenz zu Übertreibungen«: All das war, unterstreicht Hecht, »nahezu das Gegenteil der von Brecht angestrebten epischen Spielweise«. Wie kam es zu dieser radikalen Transformation? In den ersten Jahren ihrer Verbindung mit ihm, ab 1923, war er noch dabei, eine Beschreibung der neuen Spielform, die ihm vorschwebte, zu entwickeln. Ihre Liebesbeziehung wurde aber erst langsam zu einer beruflichen. »Am Anfang, als wir uns kennenlernten, habe ich auf Brecht keinen großen Eindruck als Schauspielerin gemacht«, erinnerte sie sich am Ende ihres Lebens: »Ich interessierte ihn vielmehr als Frau.«
Die erste Rolle, die sie mit ihm einstudierte, war die Klara in Hebbels »Maria Magdalena« (1925); es war zugleich ihr Durchbruch in Berlin. Kann es Zufall sein, daß Felix Joachimson in ihrem Spiel »Akzente des Körpers und der Sprache « entdeckte, »die weniger Hebbel als der jüngsten Dramatik zukommen, die dennoch bezwingen und mitreißen«? Doch der Einfluß war ein gegenseitiger. »Der Übergang vom Bedenkenlosen zum Überlegten« wurde Weigel zufolge durch Brecht herbeigeführt. Aber als Schauspielerin war sie, wie Marieluise Fleißer in ihrer Brecht-Erzählung »Avantgarde« schreibt, »die wahre Ergänzung für so einen Mann, das brauchte er wesentlich«: »Sie machte es ihm vor, was sich darstellen ließ und was nicht, das Irgendmögliche holte sie ihm zuliebe heraus und konnte auch einmal warnen, bis hierher, nicht weiter! Er tappte dann nicht mehr im Dunklen.«
Danach scheint sie die meisten Rollen mit ihm durchgearbeitet zu haben, darunter die Magd in »König Ödipus« (1929), die er im Berliner Börsen-Courier als Prototyp der »neuen Art« von Schauspiel lobte. Sie habe Jokastes Selbstmord »mit ganz gefühlloser, durchdringender Stimme« verkündet, »ohne jede Klage, aber so bestimmt und unaufhaltsam, daß die nackte Tatsache ihres Todes gerade in diesem Augenblick mehr Wirkung ausübte, als jeder eigene Schmerz zustande gebracht hätte«. »Nicht ihre Stimme, wohl aber ihr Gesicht« habe sie dem Entsetzen übergeben – eine Strategie, die ihrer »Courage«-Darstellung 1949 einen beispiellosen Erfolg bescherte.
Die Eigenart dieses Gesichts, nicht weniger als die ihrer Stimme, prägte ihren künstlerischen Werdegang entscheidend mit. »Eine Schönheit nach Hollywoodfilm-Begriffen bin ich in meinem Leben nicht gewesen«, lautete ihre trockene Selbsteinschätzung. Ein amerikanischer Journalist bezeichnet sie in späteren Jahren als »unique beauty«, was zumindest zweischneidig war – Arnolt Bronnen, dem eine frühe Beziehung mit ihr nachgesagt wird, fand sie schließlich »zu interessant«. Selbst die Schriftstellerin Karin Michaëlis, über lange Jahre ihre wichtigste Förderin, beschrieb sie 1919 in der Vossischen Zeitung als »wohl häßlich«, »nicht ungleich dem Bilde, das man sich von einer jungen, halb abnormen, halb schamlosen Kindesmörderin macht, der es an der Fähigkeit gebricht, die Tragweite ihrer Untat zu erfassen«. Bevor Michaëlis die dramatischen Verwandlungen miterlebte, zu denen Weigel als noch ganz junge Frau offenbar fähig war, hielt sie eine Karriere am Theater für ausgeschlossen: »Es gibt Dinge, die sinnlos sind. Will man Schauspielerin sein, so muß man haben, was dazugehört.« Sobald Weigel auf der Bühne stand, gab Michaëlis zu, meldeten sich solche, die meinten, »das Mädel sei immer schön gewesen«. Aber in frühen Rollenfotografien – als Frau Dworschak in Anton Wildgans’ »In Ewigkeit Amen«, laut Personenverzeichnis eine »ausrangierte Prostituierte minderster Sorte«, frech und stumpfsinnig, als ihre Berufsgenossin Anna Leiser in Hanns Johsts »Der König«, grobschlächtig, aber verzückt, als Molières Kammerzofe Claudine, fesch, flott und keck – ist sie überhaupt nur mit Mühe als ein und dieselbe Person zu erkennen, geschweige denn als Helene Weigel.
Derartige Kommentare über das Aussehen einer bedeutenden Künstlerin mögen unangebracht erscheinen, doch Urteile über das Äußere einer Schauspielerin waren damals wie heute keine Nebensächlichkeit. Sie entschieden nicht nur darüber, wie Michaëlis befürchtete, ob man überhaupt Rollen bekam, sondern legten genau fest, welche man bekommen konnte. Weigel machte sich keine Illusionen: »So wie ich aussah und so wie ich angefangen hatte, ging das alles ins Charakterfach«, ein Sammelbegriff für alles, was in das Rollenfachsystem, das den Theaterbetrieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein strukturierte, nicht zu passen schien.

[...]

SINN UND FORM 3/2025, S. 343-351, hier S. 343-346