
[€ 14,00] ISBN 978-3-943297-83-6
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Leseprobe aus Heft 3/2025
Nossack, Hans Erich
»Weil mir alle Bücher und die ganze Vergangenheit verbrannt ist«.
Briefwechsel mit Ilse Molzahn 1946/47
Vorbemerkung
Als Ilse Molzahn dem sechs Jahre jüngeren Hans Erich Nossack einen ersten Brief schrieb, war sie eine gebrochene Frau. Die ehemals vitale und modisch-elegant auftretende Schriftstellerin hatte sich als Feuilletonistin und Autorin von drei Romanen einen Namen gemacht. Doch 1938 war ihr Mann, der avantgardistische Maler Johannes Molzahn, als »entarteter Künstler« in die USA emigriert und hatte dort erneut geheiratet, ihr Freund, der Kulturredakteur und Journalist Paul Fechter, hatte sich einer anderen Frau zugewandt, und ihre beiden Söhne kamen aus dem Weltkrieg nicht zurück. Michael, der Ältere, war ein verträumter, musisch begabter, langsamer und ganz und gar unsoldatischer junger Mann, der in drei Jahren Kriegsdienst keinen einzigen Tag Urlaub erhielt und bis fast zuletzt, bis zu seinem Tod in Stalingrad, einfacher Soldat blieb. Der Jüngere, Ernst Uriel, war schnell, gewitzt und konnte sich im Kreis seiner Kameraden behaupten, verabscheute den Krieg aber vom ersten Tag an. Kurz vor Kriegsende, am 16. März 1945, schrieb er von schrecklich verwundeten Siebzehnjährigen und von der Aufgabe, »von der ich glaube, daß sie mir ein Gott oder das Schicksal gestellt hat: der Kampf gegen den Krieg«. Das war sein letztes Lebenszeichen. Er blieb spurlos verschollen.
Ilse Molzahn wurde 1895 als Ilse Schwollmann geboren und verlebte ihre ersten Jahre im Kowalewo, einem selbständigen Gutsbezirk im damals preußischen Posen. Ihr Vater, deraus Soest stammende Gutsherr, hatte sein Glück in der größeren wirtschaftlichen Freiheitdes Ostens gesucht, mußte das Gut aber wegen mehrjähriger Dürre und Mißernten 1901 wieder aufgeben. Ilse besuchte anschließend die Schule in Posen, Soest, Hannover und schließlich Kempen an der deutsch-russischen Grenze. Hier fand sie die Freiheit wieder, die sie im bürgerlich-konservativen Westen schmerzlich vermißt hatte. Im Umgang mit christlichen, jüdischen und polnischen Mitschülerinnen erlebte sie eine Toleranz »jenseits von Konfessionsdünkel plus Rassenhaß«, die für sie prägend wurde. An der fortschrittlichen Fröbel-Frauenschule in Leipzig ließ sie sich zur Jugenderzieherin ausbilden. Als sie 1915 das Examen mit »sehr gut« ablegte, war der Krieg schon in vollem Gange. Sie nahm nun in dem kleinen Majorat Laski in der Nähe Kempens gleich zwei Stellen an, als Kindergärtnerin und Leiterin der Krankenstation. Später arbeitete sie in einer Pulverfabrik in Bomlitz in der Lüneburger Heide, wo sie in zehnstündiger Schicht explosive Schießwolle schleudern mußte und die Industriearbeit kennenlernte. Nach einer kurzen Zeit in der Kriegsfürsorge wurde sie nach dem Zusammenbruch Deutschlands wie viele Frauen entlassen – die zurückgekehrten Soldaten mußten ins Brot gesetzt werden. Die erst Vierundzwanzigjährige hatte bereits verschiedene Berufe und Milieus kennengelernt, streng-bürgerliche, frei-bürgerliche und proletarische. In den letzten Jahren hatte sie ernsthaft zu schreiben begonnen und wurde 1919 ans eben gegründete Bauhaus in Weimar zu einer Lesung eingeladen. Hier traf sie Johannes Molzahn, der abstrakt expressionistisch malte und mehrfach in der »Sturm«-Galerie Herwarth Waldens ausstellte. Die beiden wurden bald ein Paar. Sie zogen in das großelterliche Haus in Soest, wo die beiden Söhne geboren wurden. In Magdeburg begann Ilse Molzahn einige Jahre später für Zeitungen zu schreiben und hatte mit Feuilletons erste Erfolge.
1928 erhielt ihr Mann einen Ruf als Professor an die Kunstakademie Breslau, die auf dem Weg war, zum Zentrum der Moderne im Osten zu werden. Für Ilse Molzahn wurden die Jahre dort zur Glanzzeit ihres Lebens. Sie fühlte sich wohl in der Stadt und unter den Künstlern, die alle an der Durchsetzung moderner Positionen arbeiteten. Wie diese verkehrte sie im Café Fahrig, wo sie durch ihre elegante und zugleich extravagante Erscheinung Aufsehen erregte. Hier begann sie ihren ersten Roman »Der Schwarze Storch«, der 1936 bei Rowohlt erschien. Er ist stark autobiographisch geprägt und schildert aus der konsequent eingehaltenen Sicht eines etwa sechsjährigen Mädchens eine Kindheit auf einem Landgut in Posen, unschwer erkenntlich als Kowalewo. Diese Kinderperspektive war damals ungewöhnlich – und machte das Buch zu einem Meisterwerk. Die Protagonistin lebt, ohne Anschluß an Gleichaltrige, in einer Erwachsenenwelt und sieht und erfährt vieles, auch Dunkles, das sie oft nicht versteht, so die Vergewaltigung des geliebten Kindermädchens und seinen Tod durch die versuchte Abtreibung mit einer rostigen Schere. Es bleibt weitgehend dem Leser überlassen, sich einen Reim darauf zu machen. Als das Buch erschien, war Ilse Molzahn mit ihrer Familie bereits nach Berlin umgezogen: Die in Breslau besonders rabiaten Nazis hatten ihren Mann 1932 entlassen. Es war nun an ihr, die Familie mit Schrei ben durchzubringen. Neben journalistischen Arbeiten verfaßte sie im Dritten Reich noch zwei Romane, ohne sich dabei den Nazis anzubiedern: den dichten, multiperspektivischen und anspruchsvollen »Nymphen und Hirten tanzen nicht mehr« (1938) und den deutlich konventionelleren »Töchter der Erde« (1941), der auch kommerziell ein Erfolg wurde.
Ilse folgte ihrem Mann 1938 nicht in die Emigration, sondern blieb mit den Söhnen in Berlin-Britz. Sie konnte sich nicht vorstellen, in Amerika zu leben und zu arbeiten. Zudem war die Ehe mit dem ernsthaften, verschlossenen und nur für seine Kunst lebenden Molzahn schon seit langem schwierig. Er konnte dem romantischen Konzept von Liebe, an dem seine Frau lebenslang festhielt, nicht gerecht werden. Sie ging eine Beziehung zu dem verheirateten Redakteur und Kulturjournalisten Paul Fechter ein, dessen nationalkonservative Haltung sie allerdings nicht teilte. Auch diese Verbindung hielt sie davon ab, ihrem Mann zu folgen.
Nach dem Verlust der Söhne begann sie, an einem großen polyperspektivischen Roman mit dem Arbeitstitel »Seraphus« zu schreiben. Die Titelfigur war dem Sohn Michael nachgebildet, der im Roman unerwartet als Deserteur mit reiner Seele in einem böhmischen Dorf auftaucht und dieses durch sein bloßes Erscheinen in Aufruhr versetzt. Pralle Dorfszenen, naturmystische Züge, ein Hang zur Symbolik und eine sich manchmal ins Hymnische steigernde Sprache prägen den Text, der nur in einer stark überarbeiteten Fassung aus den fünfziger Jahren überliefert ist.
Im September 1946 stieß Molzahn in den Nordwestdeutschen Heften auf ein Gedicht von Hans Erich Nossack: »Der Sohn«. Es traf sie ins Innerste. Der Autor stand mit 45 Jahren noch ganz am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn. Er hatte bis dahin für die Schublade geschrieben und gerade drei Gedichte im »Dritten Reich« veröffentlicht. Der Sohn aus großbürgerlichem Hamburger Kaufmannshaus hatte in den frühen Zwanzigern Geld vom Vater abgelehnt und darauf einige Jahre ein bescheidenes Leben als kleiner Angestellter geführt. 1930 trat er mit seiner Frau in die KPD ein, um die Nationalsozialisten zu verhindern, und 1933 in die väterliche Firma, um sich vor der Gestapo zu schützen. Er unterlag keinem Publikationsverbot, aber seine Dramen paßten nicht ins »Dritte Reich«. So blieb er bis 1947 ein Schriftsteller ohne Buch. Viele seiner Arbeiten, auch seine Tagebücher, waren bei der Bombardierung Hamburgs verbrannt. »Der Sohn« war seine fünfte Veröffentlichung überhaupt. Das Gedicht umfaßt sechs gereimte Strophen mit je sechs Versen, wovon hier die ersten beiden und die letzte Strophe zitiert seien:
DER SOHN
Ich bin es, Mutter. Nein, rühr mich nicht an.
Tu so, als schliefest du, damit es den Mann,
der da im Bett neben dir schläft, nicht stört.
Er würde zu uns sagen … Mutter, darum
sag keinem, daß ich hier war und warum! …
Denn er hat recht, weil es sich nicht gehört.
Denn daß ich tot bin … Mutter, sei doch still!
Das weißt du ja auch ohne mich. Ich will
was andres sagen. Aber sag niemals: Tot!
Zu ihm da. Sage immer nur: Gefallen
läge sein Sohn an der Grenze mit allen,
Die mit ihm fielen, wie man es gebot.
(…)
Er denkt von mir … Wenn es ihm so gefällt,
sag ihm doch dann und wann, ich sei ein Held.
Doch nicht zu laut, nur um ihm Kraft zu geben.
Du aber … ja, ich muß es sagen … Schnell!
Vater wacht auf, nun wird es wieder hell:
Mutter, ich möchte furchtbar gern noch leben.
Ein nächtlicher Besuch des toten Sohnes bei der Mutter, von dem der neben ihr schlafende Vater nichts mitbekommen darf, weil der Sohn nicht als Held gefeiert werden, sondern »furchtbar gern noch leben möchte« – daß Ilse Molzahn davon so tief getroffen wurde, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist es, daß Nossack der Verfasser war, der sich gleich in seinem ersten Brief an Molzahn zur »Urfeindschaft zwischen Mutter und Sohn« bekennt. Nossack schrieb in dieser Zeit an seiner bereits 1942 begonnenen ersten größeren Prosaarbeit, »Nekyia. Bericht eines Überlebenden«, die 1947 erschien. In dieser in einer toten Stadt spielenden surrealistischen und traumhaft-mythischen Erzählung wird der Protagonist am Ende von seinen imaginierten Lehrern zur Mutter geschickt. Die deutlich an die Geschichte von Orest und seiner Mutter Klytämnestra, der Mörderin ihres Mannes Agamemnon, angelehnte Begegnung führt nicht wie im Mythos zur Blutrache, sondern zur Versöhnung mit der Mutter – der einzigen im Werk und in den Tagebüchern Nossacks. Es ist also wohl kein Zufall, daß »Der Sohn« in derselben Zeit entstand. Nossack antwortet auf Molzahns Brief schnell und ausführlich und bringt gleich sein Orest-Thema zur Sprache. In der Folge entwickelt sich ein großer, bis ans Ende der fünfziger Jahre intensiver, später sporadischer Briefwechsel, der erst 1973 endet. Er umfaßt 134 erhaltene, meist lange bis sehr lange Schreiben, einige davon auch an oder von Nossacks Frau Gabriele. Nicht wenige sind verlorengegangen. Die meisten sind mit der Maschine geschrieben, das erste Nossacks vom 7. Oktober 1946 und der zweite Teil seines Briefs vom 10. November 1946 (datiert auf den 16. November) liegen in seiner äußerst schwer lesbaren Handschrift vor.
Die Briefpartner haben beide Tausende von Schreiben hinterlassen. Was Nossack angeht, so ist die Korrespondenz mit Molzahn wohl seine mit Abstand umfangreichste und ausdauerndste mit einer Frau. Beide verband die Überzeugung, »daß man das Leben nur fühlt beim Schaffen« (siehe die Briefe vom 21. März und 6. April 1947).
Im Lauf der Jahre hat sich ihr Verhältnis verändert. Am Anfang ihrer Beziehung ist Molzahn eine erfahrene und anerkannte Autorin, die an einem großen Roman schreibt, Nossack in der literarischen Welt dagegen noch ein Nobody, der »überhaupt gern lernen« möchte, wie er in seinem ersten Brief schreibt. Molzahn aber steht, das weiß sie noch nicht, vor dem Ende ihrer schriftstellerischen Laufbahn, denn der Verleger Eugen Claassen, der sie mit Vorschüssen unterstützt hat, will den »Seraphus«, als er 1948 endlich vorliegt, doch nicht publizieren. Die Währungsreform hat die Verlage risikoscheu gemacht, das Publikum will vom Krieg nichts mehr hören. Für die Autorin ist das nach den persönlichen Verlusten ein weiterer Schlag. Sie lebt schon seit Jahren in Kleinmachnow, das nun in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der DDR liegt, die sie lange nicht verlassen will – bis sie es 1953 dann doch tut, weil der Druck der sozialistischen Kulturpolitik immer größer wurde. Auch ihr Festhalten an Kleinmachnow hat Claassen nicht gefallen und eine Zusammenarbeit erschwert. Sie schrieb danach noch einen Roman, »Schnee im Paradies«, der 1953 bei Bertelsmann erschien und erfolglos blieb. Molzahn gehört wie zum Beispiel Horst Lange zu den Autoren, die sich in der Nachkriegszeit an den neuen sachlichen Stil nicht anpassen wollten und konnten und kein Gehör mehr fanden. Nossack dagegen wurde ein anerkannter und gefragter Schriftsteller. Nun war er es, der zu ihr hielt, sie teilnehmend beriet und zu helfen versuchte, etwa mit einem Stipendium der Mainzer Akademie und indem er bei Verlegern vorsprach, den von ihm bewunderten »Schwarzen Storch« neu aufzulegen. Dazu (und zu einem beachtlichen Erfolg sowie einer Verfilmung) kam es aber erst 1972 bei Herbig. Nossack steuerte ein Nachwort bei. Dieser Erfolg kam zu spät, um die Autorin noch einmal zum Schreiben einer größeren Arbeit zu motivieren.
Für ihr literarisches Schaffen gab ihr Nossack einen Rat: »Was für wunderbare Briefe Sie doch zu schreiben pflegen, ich staune immer aufs Neue darüber. Sie sollten genau so Bücher schreiben wie Sie Briefe schreiben, dann ist alles da, was nötig ist. Wir verderben unsere Bücher durch allzuviel Prätensionen etc, Stil, Aufbau-, Aussage etc.« (20. Dezember 1950)
Am 26. August 1958 kam er darauf noch einmal zurück. Molzahn hatte in einem nicht erhaltenen Brief offenbar geklagt, ihr Name gelte nichts mehr. Nossack meinte, sie müsse nur wieder ein gutes Buch schreiben, dann sei sie sofort wieder da, und fuhr fort: »Ein Anderer kann immer besser beurteilen, wo die eigentliche und einmalige Begabung eines Menschen liegt. Die Ihrige liegt, ich glaube, das habe ich schon einmal erwähnt, darin, daß Sie mit erstaunlich wenigen Strichen eine Person, Situation oder Atmosphäre zu zeichnen und sinnenhaft fühlbar zu machen wissen. Ich bewundere diese Ihre Gabe immer wieder in Ihren Briefen und Artikeln und beneide Sie darum. Das bedeutet, wenn ich nicht irre, daß Sie unbedingt autobiographisch oder zum mindesten biographisch schreiben sollten, und zwar dies im weitesten Sinne verstanden. Sie dürften keine Szenen erfinden wollen, sondern erzählen und schildern, woran Sie selber teilgenommen haben oder was Ihnen gegenübergesessen hat, und da Sie viel erlebt haben und vielen Menschen begegnet sind, dürfte es niemand weniger an Stoff fehlen als Ihnen. Das Ich braucht dabei gar nicht erwähnt zu werden. (…) Nochmals: schreiben Sie Bücher, so wie Sie Briefe schreiben. So wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist.«
Der Rat erreichte Molzahn im Krankenhaus, eine schwere Depression hatte sie dorthin gebracht. Sie antwortete deshalb erst spät: »Alles in Ihrem Brief an mich stimmt, nur ›stimmt‹ im Augenblick die ganze Person nicht, an die der Brief gerichtet ist.« (19. November 1958) Jahre später hat Molzahn den Rat insofern befolgt, als sie kleine und schöne autobiographische Texte schrieb, die sie zu einem Buch vereinigen wollte. Dazu ist es bisher nicht gekommen. Sie starb am 13. Dezember 1981 sechsundachtzigjährig im Jüdischen Krankenhaus in Berlin.
Die hier abgedruckten acht (nur von Tippfehlern bereinigten und um Kommata ergänzten) Briefe aus der Anfangszeit, als beide »ja gemeinsam vor den Abgründen« standen, zeichnen ein eindrückliches Bild des schwierigen Lebens in den ersten Nachkriegsjahren in der Sowjetischen Besatzungszone und im zerstörten Hamburg. Möglich, daß heute in der Ukraine wieder solche Briefe geschrieben werden.
Thomas Ehrsam
[…]
SINN UND FORM 3/2025, S. 293-315, hier S. 293-297