[€ 14,00] ISBN 978-3-943297-81-2
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Leseprobe aus Heft 1/2025
Krauß, Angela
Unterstrom.
Mein Verleger Siegfried Unseld
Frühjahr 1989. Es war in Leipzig etwas im Gange, an der Oberfläche Ruhe, aber ein Unterstrom war fühlbar. Für die Innewohnenden. Wie eine Woge, von Meeresboden her aufgebaut. Diese Wahrnehmung kann ich seit einem Jahr besonders klar abrufen; ich kenne, was jetzt gerade geschieht.
Niemand von den Innewohnenden hatte schon verstanden, was sich anbahnte, aber wir waren hellwach und jeder persönlich verwickelt in das Ganze, die Postfrau, der Bäcker, ich.
Es war, als stünde ich – wie oft als Kind – in der Dunkelkammer meines Vaters und wartete gespannt, was sich auf den Fotopapieren im Entwicklerbad zeigen würde.
Ich war ja erst seit 1988 im Suhrkamp Verlag. 88 – numerologisch die gesteigerte Unendlichkeit. Aber handgreiflich war das schwierig, die Anträge auf Erlaubnis, die Pässe für 24 Stunden, die Grenzübergänge – das haben wir längst vergessen.
Während hier alles wankte, die Gegenwart, die eigene Vergangenheit und die des Nachbarn, mit ihren kleinen, großen, tapferen Errungenschaften, alles einer plötzlichen Fragwürdigkeit ausgeliefert schien, war auf der anderen Seite alles stabil, selbstgewiß, unerschütterlich, wissend, großzügig.
Jeder in Ost und West konnte sich nun entscheiden, was er für den Westen und den Osten halten wollte. Die Auswahl war groß, von der politischen Bühne angefangen bis zur Urlaubsbekanntschaft mit Neckermannreisen. Jeder begegnete jetzt seiner Zukunft, so er danach suchte.
Und so kam es, daß ich es leicht hatte. Alles, was ich mir im schönsten Fall unter dem Westen vorstellen wollte – denn das Wollen entscheiden wir selbst –, kam mir entgegen.
Jener Mensch, den ich meinen Verleger hätte nennen können, aber dazu war ich zu schüchtern, Siegfried Unseld, verkörperte das. Das Stabile, Selbstgewisse, Wissende, Großzügige, Freundliche.
Eine Leitfigur des Westens geschenkt zu bekommen – ich erkannte darin erst später eine wundersame Fügung. Der Westen präsentierte sich mir als das Ideal – denn der Westen war nun die Weltliteratur und nicht die Treuhand.
Der Westen war damit das Bewahrenswerte, Gewichtige, Gediegene, Feine. Er war das Ambivalente, Abgründige und Euphorische der Literatur.
Da hatte der Westen Glück! Er sollte Siegfried Unseld dankbar sein.
Ich war nun entschlossen, aus dieser Perspektive auf all das zu sehen, was uns Anfang der Neunziger bevorstand an Abbau, Umbau, Aufbau.
Das verdanke ich ihm.
Dabei kannte ich ihn noch gar nicht näher, kurze Begegnungen, wenn es mit Antrag, Erlaubnis, Paß, Grenzübergang geklappt hatte. Dann kam im Frühjahr ’89 etwas Unverhofftes.
Der Suhrkamp Verlag plante, erfuhr ich von Burgel Zeeh, einen Betriebsausflug.
Es gibt wenige Worte, die die vier Jahrzehnte Teilung überlebt haben, obwohl sie systemverhaftet schienen. Wenn ich damals nach den Resten von Einer Nation in zwei Staaten gesucht hätte – wir alle haben das getan –, so wäre mir nichts vertrauenerweckender erschienen als das Wort Betriebsausflug. Als wäre ein Wort vergessen worden von der ideologischen Schere. Ganz harmlos schien es in den unteren Etagen überdauert zu haben, dort, wo zusammen gearbeitet, zusammen gefeiert und einer draufgemacht wird. Dort unten war das Wort unbeachtet, also unbeschadet in Deckung gegangen für vierzig Jahre. Es war noch nicht alles verloren!
Der Suhrkamp Verlag plante einen Betriebsausflug, erfuhr ich von Burgel Zeeh. Und zwar rüber in den Osten. Und nicht nur das. Sondern nach Leipzig.
Also wo doch grade diese Woge im Kommen war, unterirdisch noch.
Mittendrin stand dieses Hotel, das höchste in der Stadt, wo internationale Messebesucher abstiegen, dafür war es gebaut. Dort gab es Herberge für den Suhrkamp Verlag. Ich lebte schon lange in Leipzig und betrat zum ersten Mal dieses Hotel. Es wurde ein schönes Fest, es gibt schöne Bilder davon, ich empfing Siegfried Unseld und den Suhrkamp Verlag also – so plötzlich wie alles, was damals geschah – in meiner Stadt, ich möchte sagen: eh ich mich’s versah. Und Burgel Zeeh hat’s gesehen, das ist dokumentiert: Der Verleger küßte mir die Hand.
Dann gab es das 27. Stockwerk, die Bar unter dem Nachthimmel – wer wußte in Leipzig schon davon –, ich sah meine Stadt zum ersten Mal aus dieser Perspektive. Nachts, glitzernd unter Sternen.
Und dort oben, einige an der Bar waren schon betrunken, dort konnte ich sagen: Schaut, das ist meine Stadt. Ihr seid eingeladen, sie zu erleben. Das haben sie auch gemacht bis zum Morgengrauen, als ich einige durch mein Viertel führte.
Der Verleger war nicht dabei, aber von ihm hatte ich ja schon den Handkuß entgegengenommen, als Gastgeberin.
Siegfried Unseld hat seinen Verlag zum sensibelsten Zeitpunkt dieses historischen Geschehens, nämlich als es noch im Heraufkommen war, nur geahnt werden konnte, dorthin geführt, wo es einige Wochen später kulminieren und die Welt verändern sollte, nach Leipzig. Mir ist kein einziger Betriebsausflug eines westlichen Unternehmens zu diesem Zeitpunkt, also über die Mauer hinwegspringend, bekannt.
Das ist mit Berechnung nicht möglich.
Dazu gehört jener Sinn, Spürsinn, Wachsinn für lebendige Entwicklungen, für die Zukunft, mit dem er beschenkt war und uns beschenkt hat.
In seiner »Chronik« notierte Siegfried Unseld später, am 5. November 1989:
»Ich stelle mir vor, daß sich die Bezirke der DDR in die alten Länder umwandeln und diese sollen sich uns wirtschaftlich anschließen, politisch administrativ aber selbständig bleiben.
Und in zehn Jahren entscheiden die Deutschen in beiden Ländern, ob sie einen einheitlichen
Staat wollen oder nicht.«
Das vermochte nur jemand zu denken, zu sagen, der in der Weltliteratur zu Hause ist.
Der die Kühnheit besaß, den pragmatischen, berechnenden Kräften einerseits und den erschöpften, verwirrten Kräften andererseits in diesem fragilen Moment der Geschichte das Äußerste vorzuschlagen: das Ideal.
Er hat uns tatsächlich Geduld, Besonnenheit, er hat uns Weisheit zugetraut.
SINN UND FORM 1/2025, S. 140-141