[€ 14,00] ISBN 978-3-943297-81-2
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Leseprobe aus Heft 1/2025
Röckel, Susanne
Die Erniedrigung des Rebhuhns
Daedalus, der große Baumeister und hochgerühmte Künstler, Architekt des Labyrinths und Erfinder des ersten Flugapparats der Welt, Schutzpatron aller Handwerker und Kunstschaffenden des Altertums – auch Sokrates, der wie sein Vater als Steinmetz arbeitete, betrachtete ihn als seinen Ahnherrn –, dieser gefeierte Meister wird zum gemeinen Verbrecher, als er seine prestigeträchtige Stellung in Athen bedroht sieht. Konkurrenz droht Daedalus von weiblicher, nämlich schwesterlicher Seite. Die Schwester, Perdix, von der uns nichts weiter bekannt ist, gibt ihren Sohn als Lehrling in seine Werkstatt, wo sich der Knabe bald als erstaunlich begabt erweist. Ovid erzählt, daß der Zwölfjährige durch geschickte Nachbildung des Rückgrats eines Fisches die Säge erfindet. Dann den Zirkel. (Andere Quellen schreiben ihm auch die Erfindung von Töpferscheibe und Kompaß zu.) Der Lehrherr aber wird angesichts dieser Fähigkeiten von Neid ergriffen und stößt seinen Neffen in mörderischer Absicht von der Akropolis. Hier kommt Athene ins Spiel, die Beschützerin geistvoller und genialer Menschen. Sie fängt den Stürzenden auf, hüllt ihn in der Luft in Gefieder und macht ihn zu einem Vogel, der fortan mit dem Namen seiner Mutter gerufen wird. (Perdix perdix lautet seit Linné der wissenschaftliche Name des Rebhuhns.) Die Mutter erhängt sich aus Gram über den Verlust ihres Sohnes. Daedalus fürchtet die Entdeckung und Verfolgung des versuchten Mordes und flieht nach Kreta. Dort setzt er seine Karriere fort und die Sache, die Ovid mit gewohnter Lakonik berichtet (nur an einer Stelle wird klar, auf welcher Seite er steht, wenn er Daedalus in direkter Ansprache die blutige Tat zum Vorwurf macht), könnte an ihr Ende gekommen sein – aber der Mythos verlangt Sühne.
Gemäß einer merkwürdigen, von Ovid hervorgehobenen Symmetrie verliert Daedalus später den eigenen Sohn. Um der Gefangenschaft des kretischen Königs Minos zu entkommen, fertigt er Flügel für sich und Ikarus. Doch Ikarus läßt sich bekanntlich dazu verleiten, die vom Vater vorgegebene Flugroute zu verlassen, er stürzt mit seinem künstlichen Gefieder ins Meer, und der unglückliche Vater muß ihn begraben:
»Während er barg im Hügel den Leib des bejammerten Sohnes,
Schaute vom schlammigen Graben ihm zu das geschwätzige Rebhuhn,
Schlug mit den Schwingen erfreut und bewies durch Krächzen Genuß.«
Seit seinem eigenen Sturz lebt das Rebhuhn nah am Boden und fürchtet die Höhe. Der Tod des Ikarus ist begleitet von der Schadenfreude des zum Vogel gewordenen Perdixsohns. Ein Ausgleich ist hergestellt: Der Vater, der sich den Neffen mit allen Mitteln vom Hals schaffen wollte und doch nicht vermochte, ihn zu töten, will den eigenen Sohn mit allen Mitteln retten und kann doch nicht verhindern, daß er stirbt. Der verheimlichte mörderische Hinabwurf kehrt wieder und bringt Daedalus in Form des Ikarussturzes Jammer und Unglück. Für uns, die Rezipienten des erzählten Mythos, ist das eigenartige Paradox ein erneuerter Hinweis auf die Bedeutung des erniedrigten Schwestersohns. Daedalus war, das läßt uns Ovid erkennen, wohl ein höchst erfindungsreicher, zu Recht gerühmter, doch keineswegs einzigartiger Meister. Das Rebhuhn – im Lateinischen feminin –, ein damals noch überall anzutreffender, äußerst anpassungsfähiger, scheuer und gern gegessener Vogel, erinnert an den beseitigten Zweiten, den gefürchteten Widersacher, in tiefster Bedeutung vielleicht an jene frühe schwesterliche Rivalin, deren Abkömmling einst die Autorität des großen Künstlers bedrohte und mit deren Tod das Wissen um seine böse Tat verschwand. Das rauhe, heisere, abgerissene Knarren und Krächzen, das sich mit der Dämmerung auf Äckern und Feldern und an Waldrändern hören ließ, ist die halberstickte Stimme des Verlierers (und der Verliererin), der nach seinem Sturz für immer den Mut verlor, sich aufzuschwingen, um höhere Gefilde zu erkunden. Schwerfällig fliegend, wird der Vogel, der Daedalus’ Schande verkündet, dem Jäger zur leichten Beute.
Daß Perdix perdix zu den stark gefährdeten Arten zählt, also in Mitteleuropa schon bald völlig verschwinden könnte, hätte sich in den Epochen nach Ovids Dichtung bis zur Industrialisierung der Landwirtschaft niemand träumen lassen, obwohl das Rebhuhn seit jeher von Menschen verfolgt wurde. Wie Hase, Kaninchen, Dachs, Fuchs, Fasan und viele mehr wird es zum sogenannten Niederwild gerechnet, was bedeutet, daß nicht nur der Hochadel, sondern gewöhnliche Landgrafen, Ritter und Barone, aber auch Mitglieder des Klerus sowie städtische Bürger das Privileg hatten, es zu jagen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehörte gebratenes, gebackenes, gedämpftes, gefülltes, gekochtes Rebhuhn, Rebhuhn in Rahmsauce und Rebhuhn mit Rotkraut auf den Speisezettel nicht nur adeliger Haushalte. Im Märchen »Der gestiefelte Kater« der Brüder Grimm wird erzählt, wie die Freßlust eines Königs, der gewohnt ist, Rebhühner in großen Mengen zu verspeisen, zur Bereicherung eines Emporkömmlings führt. Der schlaue Kater, der im Dienst eines verarmten Müllersohnes steht, fängt die in Familiengruppen lebenden, von Samenkörnern und kleinen Insekten lebenden Vögel dutzendweise mit Hilfe eines einfachen Tricks: »Als er in den Wald kam, machte er seinen Sack auf, breitete das Korn auseinander, die Schnur aber legte er ins Gras und leitete sie hinter eine Hecke. Da versteckte er sich selber, schlich herum und lauerte. Die Rebhühner kamen bald gelaufen, fanden das Korn – und eins nach dem andern hüpfte in den Sack hinein. Als eine gute Anzahl drinnen war, zog der Kater den Strick zu, lief herbei und drehte ihnen den Hals um.«
Diese Methode des Erbeutens kleiner Tiere entsprach nicht der jagdlichen Norm. Geschildert wird hier wohl eher das Vorgehen von Wilderern, die in von Bauern bewohnten Jagdgebieten häufig tätig waren. Die Norm war – vom späten Mittelalter bis zum Revolutionsjahr 1848 – die Jagd als organisiertes gesellschaftliches Ereignis der Feudalherren, bei dem die beteiligten Hunde ihre Fähigkeit zu ausdauernder Hetze über riesige Entfernungen hinweg, die Wildhüter und Treiber ihre waidmännische Zuverlässigkeit, die anwesenden Herren und Damen aber ihre Reit- und Schießkünste üben und zur Schau stellen konnten. Zu besonderen Gelegenheiten, als festliches Ritual und theatralisches Spektakel, fanden Prunkjagden statt, bei denen in wenigen Tagen Hunderte von Tieren zusammengetrieben und abgeschossen wurden.
Den Hofmalern kam es zu, die großen Netzjagden oder »eingestellten« Jagden zum Ruhm ihrer fürstlichen Auftraggeber festzuhalten. Stellvertretend für viele andere sei das 1529 geschaffene Gemälde »Hirschjagd des Kurfürsten Friedrich des Weisen« von Lucas Cranach d. Ä. erwähnt, das erste von mehreren Gemälden desselben Genres, die von Cranach bekannt sind. Es hängt heute im Kunsthistorischen Museum in Wien und zeigt ein solches repräsentatives Jagdereignis, veranstaltet vom sächsischen Landesherrn in Anwesenheit des kaiserlichen Ehrengasts Maximilian I. Zahlreiche Hirsche, die man zuvor auf einer Insel in einem größeren Gewässer zusammengetrieben hatte, werden gerade von Hunden und mit Spießen bewaffneten Berittenen ins Wasser gehetzt, wo sie von den im Gebüsch lauernden, mit Armbrüsten bewaffneten Schützen – an prominenter Stelle der Kurfürst mit seinem Gast – bequem getötet werden können. In einem Boot befinden sich neben dem stakenden Bootsführer die eleganten Zuschauer, Herren mit Jagdspeeren und Damen mit Schoßhündchen, die wie gelangweilte Partygäste, die Besseres gewohnt sind, dem Spektakel nur mit halber Aufmerksamkeit folgen: Zwei liebreizende junge Damen versuchen sich an den Rudern, zwei Paare sind in angeregte Plaudereien versunken, ein weiteres, im Heck sitzend, gibt sich handfesten erotischen Handlungen hin. So amüsiert sich die Hofgesellschaft in frischer Luft, während ringsum die Hirsche, von rasenden Hunden angefallen, von Spießen bedroht, von Stahlbolzen durchbohrt, im aufgewühlten Wasser um ihr Leben kämpfen. Das grausige Schlachtfest geht in entrückter Ferne seinen Gang. Ein Hund liegt offenbar verletzt auf dem Rücken. Sonst ist keine Wunde, kein Tropfen Blut zu erkennen. Das Gras ist grün, das Wasser klar, alles scheint klinisch rein und sozusagen geruchlos zu sein, wie in einem frühneuzeitlichen Legoland. Die gejagten Tiere entstammen dem malerischen Musterbuch, es sind physisch eindrucksvolle, doch seelenlose und leidensunfähige Geschöpfe, für die Menschen offenbar keine Empfindungen hegen – sieht man von dem aggressiven Drang ab, sie zur Strecke zu bringen. Ihre Kadaver (am unteren Bildrand liegt ein völlig unversehrt wirkender toter Hirsch in der Nähe des Ehrengastes) sind Trophäen, um die die Schützen wetteifern. Die Jagd ist hier spektakuläre Inszenierung von Kontrolle über »Natur«, Demonstration von Macht über Lebewesen, die man als Wild radikal von sich abgrenzt.
Neben den Prunkjagden gab es die durchaus alltäglichen Hetz- oder Parforcejagden, bei denen einzelne Tiere über viele Kilometer hinweg von Berittenen samt Hundemeute verfolgt und ermüdet wurden, bis man sie durch Fangschuß oder Stiche mit dem Hirschfänger tötete. Die Jagderfolge der adligen Herren wurden penibel dokumentiert und veröffentlicht. So ist verbürgt, daß etwa Markgraf Ludwig Georg von Baden-Baden in einem einzigen Jahr (1749) 1215 Hirsche, 376 Rehe, 8282 Hasen und 1015 Enten tötete. Die Jagd, die Kurfürst Karl Albrecht von Bayern im November 1735 zur Feier seines Geburtstags veranstaltete, erbrachte 1105 Bären (und vermutlich Tausende anderer Tiere), Herzog Karl Eugen von Württemberg war stolz darauf, in zwei Wochen knapp 5000 Tiere erlegt zu haben, und vom bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, berühmt für seine Erfolge im Türkenkrieg, weiß man, daß er im Lauf seines Lebens exakt 39 715 Stück Wild tötete: ein body count wie nach einer Schlacht.
In geräumigen Schloßhöfen wurden Jagdspiele veranstaltet, etwa das höchst beliebte »Fuchsprellen« in großer Gesellschaft, bei dem gefangenes Niederwild, gelegentlich burlesk kostümiert, mit Tüchern in die Luft geschleudert und fallengelassen wurde. Den bereitstehenden Jägern kam es dann zu, die verstörten und schwerverletzten Tiere zu töten. (Erst zu Zeiten der Aufklärung wurde das Fuchsprellen allmählich durch das Federballspiel ersetzt, dessen Ursprung dann schnell in Vergessenheit geriet.)
In der Nähe der ländlichen Jagdschlösser schuf man mit enormem Aufwand sogenannte Tiergärten, sternförmig angelegte Parks mit breiten Schneisen für Pferde und begleitende Kaleschen, in denen die Beute optimal beobachtet und von Treibern und Jägern bequem erreicht werden konnte. Dort fand außer der Jagd bei besonderen Gelegenheiten auch das im Rokoko gern praktizierte »Hirschstechen « statt. Dabei amüsierten sich die vornehmen Herrschaften, indem sie unter großem Hallo mit Spießen und Speeren auf die gefangenen Tiere zielten und sie so langsam töteten. Heutigen Spaziergängern würde es kalt den Rücken herunterlaufen, wäre ihnen bewußt, welche Metzeleien in diesen anmutigen künstlichen Landschaften einst stattfanden.
(…)
SINN UND FORM 1/2025, S. 34-51, hier S. 34-37