[€ 14,00] ISBN 978-3-943297-81-2
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Leseprobe aus Heft 1/2025
Bülow, Ulrich von
Psychoanalyse und Krieg.
Zum Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud
1.
Als klassisch gelten Werke, von denen über lange Zeiträume hin oft die Rede ist, und es liegt in der Natur der Sache, daß sie dabei gelegentlich trivialisiert werden. Das gilt auch für klassische ideengeschichtliche Konstellationen, die immer wieder in neuen Versionen erzählt werden. Eine von ihnen betrifft Rilkes Freundschaft mit Lou Andreas-Salomé und seine Skepsis gegenüber der Psychoanalyse. Sie war auch dem Modeschöpfer Karl Lagerfeld bekannt, der in einem Interview Rilkes Vorbehalte teilte: »Meine Mutter sagte immer: ›Wenn man ehrlich zu sich ist, braucht man keine Psychoanalyse.‹ Und ich habe mal einen Brief gefunden von der Freud-Schülerin Lou Andreas-Salomé an ihren Liebhaber Rilke. Sie schrieb: ›Laß dich nie analysieren. Das tötet die Kreativität.‹«
Damit ist die Geschichte mehr oder weniger auf den Punkt gebracht. Allerdings war die Sache etwas komplizierter, und es lohnt sich in jedem Fall, genauer zu rekonstruieren, wie Rilke zu Freud und seiner Therapiemethode stand. Aus Berichten weiß man, daß die beiden sich zweimal begegnet sind. Was sie miteinander besprachen, ist leider nicht überliefert. Bis jetzt war auch nicht bekannt, daß sie 1916 miteinander korrespondierten. Ihre Briefe, die hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, werfen ein neues Licht auf das Verhältnis der beiden berühmten Männer.
Aber der Reihe nach. Rilke hörte Genaueres über Freuds Psychoanalyse wohl um 1909 in Paris, mitten in der Arbeit an seinen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, durch Gespräche mit dem jungen Psychologen und Schriftsteller Viktor Emil Freiherr von Gebsattel. Zwei Jahre später behandelte Gebsattel, der inzwischen auch Lou Andreas-Salomé kennengelernt hatte, Rilkes Frau Clara Rilke-Westhoff. Wie aus Briefen hervorgeht, die Rilke im Winter 1911/12 aus Duino an Lou Andreas-Salomé schrieb, erwog er, sich ebenfalls von Gebsattel analysieren zu lassen, obwohl ihm, was er von Freud gelesen habe, »unsympathisch und stellenweise haarsträubend« erschien, »aber die Sache selbst, die mit ihm durchgeht, hat ihre echten und starken Seiten und ich kann mir denken, daß Gebsattel sich ihrer mit Vorsicht und Einfluß bedient«. Rilkes Leidensdruck war beträchtlich: Ihn quälten Hypochondrien, psychosomatische Störungen und Ängste. Doch auf andere Weise empfand er auch die Therapie als Bedrohung: »Etwas wie eine desinfizierte Seele kommt dabei heraus, ein Unding, ein Lebendiges, roth korrigiert, wie die Seite in einem Schulheft.« Lou Andreas-Salomé riet offenbar von der Therapie ab. Das läßt sich, obwohl ihr Brief nicht überliefert ist, aus Rilkes Antwort schließen. (Lagerfeld erinnerte sich in diesem Punkt nicht korrekt.) Rilke war überzeugt, daß er nach einer Analyse nicht mehr würde schreiben können, und meinte daher, »daß die Analyse für mich nur Sinn hätte, wenn der merkwürdige Hintergedanke, nicht mehr zu schreiben, (…) mir wirklich ernst wäre. Dann dürfte man sich die Teufel austreiben lassen, da sie ja im Bürgerlichen wirklich nur störend und peinlich sind, und gehen die Engel möglicherweise mit aus, so müßte man auch das als Vereinfachung auffassen (…).«
Am 8. September 1913 lernte Rilke Freud persönlich kennen, als er mit Lou Andreas-Salomé den IV. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in München besuchte. Genaues ist darüber nicht bekannt, offenbar fanden die drei einander sympathisch, Andreas-Salomé berichtet, »sie [Freud und Rilke] gefielen sich, und wir blieben noch zusammen, auch abends bis sehr spät nachts«. Unter anderem hatte Freud wohl erzählt, wie sehr sein 21jähriger Sohn Ernst, der in Wien Architektur studierte, Rilkes Werke bewunderte. Daraufhin fügte Rilke auf einer Karte, die Freud an seinen Sohn schrieb, einen kurzen Gruß an.
Bei ihrer Begegnung in München hatte Rilke Freud vermutlich versprochen, ihn bei seiner nächsten Reise nach Wien zu besuchen. Darauf bezog er sich anderthalb Jahre später – inzwischen hatte der Erste Weltkrieg begonnen – in einem Zusatz zu einem Brief von Andreas-Salomé an Freud vom 30. März 1915, den man als Beginn der Korrespondenz zwischen Rilke und Freud auffassen kann: »Verehrter Professor Freud, ich war immer noch nicht in Wien seit unserer Begegnung; aber einen herzlichen Gruß für Ihren Sohn, falls er bei Ihnen ist, und für Sie alle Ergebenheit. Ihr R M Rilke«. Freud antwortete indirekt in seinem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 1. April 1915: »Herrn R. M. Rilke wollen Sie sagen, daß ich auch eine 19j. Tochter habe, die seine Gedichte kennt, zum Teil auswendig herzusagen weiß, und dem Bruder in Klagenfurt um den Gruß neidisch ist.«
Ernst Freud hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und befand sich bei einer Militärausbildung in Klagenfurt. Im November 1915 wurde auch Rilke vom österreichischen Militär gemustert und für tauglich befunden, mit der Waffe im Landsturm zu dienen. Alle Bemühungen, sich freistellen zu lassen, schlugen fehl. Am 19. Dezember traf Rilke in Wien ein. Einen Tag später war er bei der Familie Freud zu Gast, die am Tag zuvor die Hochzeit des Sohns Oliver gefeiert hatte. Der Tochter des Hauses und Verehrerin seiner Lyrik widmete Rilke bei dieser Gelegenheit ein Exemplar seiner Gedichtsammlung »Das Buch der Bilder «: »Fräulein Anna Freud – in ihr Buch dieses Datum der ersten Begegnung herzlich einschreibend: Rainer Maria Rilke 20 Dezember 1915«. Viel mehr weiß man von Rilkes Besuch in der Bergstraße nicht. Am 24. Dezember 1915 berichtet Freud knapp in einem Brief an Sándor Ferenczi: »Olis Hochzeit verlief sehr animiert. Montag abends waren sie noch bei uns mit Rainer Maria Rilke zusammen, der seines Militärdienstes wegen in Wien ist und ein reizender Gesellschafter war. Sie würden sich auch sehr leicht mit ihm verstehen.«
Am 4. Januar 1916 trat Rilke seinen Dienst im Landwehr-Schützenregiment Nr. 1 an. Zunächst mußte er am Rand Wiens eine Baracken- und Feldausbildung absolvieren, die ihn physisch und psychisch vollkommen überforderte. Infolge einer Nachmusterung wurde er am 28. Januar ins Kriegsarchiv in der Stiftskaserne kommandiert, wo außer ihm zahlreiche Schriftsteller damit beschäftigt waren, propagandistische Texte zu verfassen. Da Rilke dazu nicht in der Lage war, mußte er einfachere Arbeiten verrichten, etwa Linien auf unbeschriebenes Papier ziehen oder Katalogkarten schreiben.
Zunächst wohnte Rilke in der Victorgasse 5 a bei Fürst Alexander von Thurn und Taxis, der sich um ihn kümmerte und ihm sogar einen seiner Diener überließ. Dann wurde das Zimmer anderweitig benötigt, und Rilke zog in Hopfner’s Park-Hôtel, nahe am Park Schönbrunn. Am 5. Februar schildert er seiner Mutter die Lage: »Es sind sehr viel Schriftsteller unter dem Dach des Archivs zusammengekommen, mein Zimmernachbar ist Stefan Zweig, vor der Hand theile ich, durch eine große Bücherwand von ihm getrennt, meine Stube mit dem bekannten Journalisten Sil-Vara, der auch in der Neuen Fr. Presse oft publiziert; der Chef unserer Abtheilung ist Franz Karl Ginzkey, auch ein näherer Landsmann, sonst technischer Ober-Offizial am militär-geografischen Institut; jetzt Leiter der Schriftenabtheilung, in der verschiedene Seiten und Episoden des gegenwärtigen Krieges bearbeitet werden und in der eine sorgfältige Registrierung der ungeheueren Materialien stattfindet. Arbeit in Fülle also.«
Rilke verdient 17 Kronen und 30 Heller wöchentlich. Nach dem Dienst besucht er gelegentlich die Galerie im Palais Czernin und trifft Mitglieder des Fürstenhauses Thurn und Taxis und deren Freunde, etwa den ehemaligen Botschafter in Petersburg Fürst Franz I. von Liechtenstein. Meist jedoch bleibt er, auch weil er die langen Straßenbahnfahrten ins Stadtzentrum haßt, abends allein im Hotel, wo er nach zwei Stunden Lesen und Schrei ben oft schon um halb neun schlafen geht. Vom 11. bis 16. Februar reist Rilke in seiner Uniform als Landwehr-Infanterist »dienstlich« nach München. In Wirklichkeit besucht er Clara Rilke und seine Tochter Ruth, sieht eine Strindberg-Aufführung in den Kammerspielen und besorgt seine Korrespondenz. Vor allem aber bemüht er sich um seine Freistellung vom Militärdienst. Bei seiner Rückkehr findet er einen Brief von Sigmund Freud vor.
Damit beginnt ihr kurzer Briefwechsel. Die beiden Briefe Freuds fanden sich im Nachlaß von Rilke, der Ende 2022 vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erworben wurde. Rilkes Brief liegt als Teil der Sigmund Freud Papers in der Library of Congress in Washington und ist seit kurzem als digitale Reproduktion im Internet zugänglich. Erstaunlicherweise wurde er bis auf einen kurzen Auszug bisher noch nie in transkribierter Form veröffentlicht.
(…)
SINN UND FORM 1/2025, S. 8-15, hier S. 8-11