[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-80-5
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Leseprobe aus Heft 6/2024
Mora, Terézia
Über Serpentinen und Menschen
Eis bedeckt die Olivenbäume. Eis bedeckt die abschüssige, kurvenreiche Straße. Außer mir geht niemand zu Fuß. Die Hunde bellen mich an, während ich zum kleineren der beiden Geschäfte gehe, dem, das noch einigermaßen oben liegt. Dort gibt es zwei Sorten Schinken, »cotto« und »crudo«, eine Sorte Ricotta, eine Sorte schwarze Oliven ohne Stein. Das ist alles, was ich kaufe. Und ein wenig Nudeln. Broccoli wächst im Garten. »Mangia il broccolo!« sagt mir Pasquale jeden Tag. Und ich esse jeden Tag den Broccolo. Pasquale erinnert mich an meinen schon toten Urgroßvater, nicht weil er so alt ist, obwohl er alt ist, sondern weil er genauso klein und hager ist. Eine italienische Variante. Mit Oliven und Broccoli statt Wein und Walnüssen. Er ölt meine quietschende Tür mit Olivenöl. Er lädt mich zum Essen ein im Dorf und redet über die Griechin, die vor mir da war. »Questa greca!« Die hat gleich sehr schön Italienisch gelernt. Anders als ich. Ich bin die, die nicht viel »capisce«, wie eine junge Frau den Busfahrer über mich instruiert. Die Bushaltestelle ist einige Kurven weiter unten im Dorf, nahe dem größeren der beiden Geschäfte, in dem es mehrere Sorten von allem gibt. Der Bus fährt nach Rom, aber ich nehme ihn nur einmal. Nach der Ankunft in der Hauptstadt Italiens suche ich als erstes eine Toilette, um mich all dessen zu entledigen, was sich in meinem Verdauungstrakt befindet. Dann rufe ich bei der Villa Massimo an, die die Serpentara mitverwaltet, und frage um Rat: Wie könnte ich wieder nach Olevano gelangen, ohne einen Hunderter fürs Taxi zu zahlen, denn noch einmal überstehe ich diesen Bus nicht. So lerne ich Horst Müller und Sabine Straßburger aus Bremen kennen, die in der Casa Baldi wohnen, und weil sie bildende Künstler sind, sind sie mit dem Auto da. Ab da fahre ich mit Horst und seiner Frau Gudrun zum nächsten Bahnhof in Valmontone, ich sitze vorne, weil ich die bin, der immer schlecht wird. In Valmontone kann ich einmal durch ein Fenster in jemandes Wohnung sehen, dort hängt ein Schinken von der Decke. Später werde ich diesen Blick durchs Fenster auf diesen Schinken verwenden, in »Alle Tage«, meinem ersten Roman, den ich zu dieser Zeit schreibe.
Das Schreiben geschieht in der Villa. Ich sollte von der Villa erzählen. Vorweg: Im Eichenwald darüber, im sogenannten Schlangenhain, war ich in den ganzen drei Monaten meines Aufenthalts nur einmal. Stand ein bißchen zwischen den Eichen herum. Es war Winter. Ein Winter wie zu Hause. Überall gelato. Eigentlich ghiaccio, aber ich schwöre, Pasquale hat »gelato« gesagt. Oder vielleicht war es auch »gelido«, also eiskalt. Adjektiv, nicht Substantiv. Andererseits sagte er zur Kurve auch »gurba« und nicht »curva«. Das erinnerte mich auf angenehme Weise an das ungarische Zwillingswort »girbegurba«, als Adjektiv für eine gewundene Linie oder eine Straße, wobei im Wörterbuch Antal Horgers steht, daß nicht das Italienische, sondern das slawische Wort für Buckel, »grba«, Ursprung dieses Lehnworts ist. Ich stand also ein wenig unter Eichen, ringsum »olivi congelati«, und dann ging ich wieder ins Haus, wo sich ein kleiner, brauner Skorpion in der Badewanne wärmte. Ich war ihm eine gute Gastgeberin, denn auch ich wärmte mich häufig am warmen Wasser, das nur sehr, sehr langsam aus dem Hahn floß, aber ich gab nicht auf, ich wartete so lange, bis das Wasser mindestens 10 cm hoch stand, und nachdem ich die Wanne verlassen hatte, bekam der kleine Skorpion noch etwas von der Restwärme ab. Außer diesem ersten und bisher einzigen Skorpion meines Lebens gab mir das Haus noch ein ganz gutes koreanisches Pianoforte, an dem ich immer und immer wieder die gleichen zwei Stücke übte und zum ersten Mal in meinem Leben einigermaßen beherrschte. Zudem gab es einige Bücher, die jemand dort gelassen hatte, darunter »Die Clique« von Mary McCarthy und einen Band mit den Gedichten Ingeborg Bachmanns, der sich, als ich ihn aufschlug, bei »Alle Tage« öffnete. Ich las: Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt. Ich las das und erkannte meinen Helden darin, den ich Abel Nema nannte. So bekam mein erster Roman seinen Titel.
Das war der erste wirklich große Schritt voran im Schreiben, mit dem ich schon seit zwei Jahren jeden Tag beschäftigt war. Ich erzählte das auch Horst aus der Casa Baldi, als er mich mal wieder irgendwohin fuhr. Diesmal vielleicht nicht nach Rom, sondern zum Kloster Subiaco, dessen Fresken später ebenfalls in »Alle Tage« auftauchen: »In den Fresken der Hauptkirche mischen sich byzantinischer und westlicher Stil. Die Gesichter, als wären es Geschwister, oder hundertmal derselbe in verschiedenen Gewändern. Ein wunderbares Gesicht, mit Zügen des Weiblichen, Männlichen und Kindlichen. (…) Manchmal dicht beieinander wie Reben an der Traube, manchmal einzeln in die Ecke gedrängt, durch die Nase läuft ein Knick, die eine Wange auf der einen Wand, die andere auf der anderen. Beten werde ich leider nie können. Aber ich kann meine Tage in Liebe verbringen in Betrachtung seines Gesichts.« Das mit dem byzantinischen und dem westlichen Stil habe ich sicher nicht selber gewußt. Das war bestimmt Horst oder es gab eine Beschreibung vor Ort. Noch davor redeten Horst, Gudrun und ich darüber, was wir bis dahin gemacht haben, im Leben, aber vor allem in der Kunst. Bei mir war es in der Hauptsache ein Erzählband, »Seltsame Materie« mit Titel. Ich erzählte den beiden wenig über den Inhalt, dafür viel über die Form, weil ich gerade um eine tragfähige Form für das immer voluminöser werdende Material des zu schreibenden Romans rang. Ich erzählte also von den Erzählungen, wie ich in ihnen Bruchstücke angeordnet habe, zwischen denen ich, um zu zeigen, was ich da mache, jeweils eine Leerzeile ließ. Woraufhin Horst nickte und sagte: »Und an den Bruchkanten, in den Pfaden dazwischen, wie in einem Labyrinth, verläuft auch Geschichte.«
Woraufhin ich »rannte«, schreibe ich in meinen Frankfurter Poetikvorlesungen. Obwohl ich nicht weiß, ob ich gleich, sofort oder überhaupt rannte. Ich hatte es eilig, soviel ist gewiß, zurück in die Serpentara, zum gesegneten Internet, so langsam und teuer es damals auch war, aus dem ich aber quasi sofort den Unterschied zwischen einem Labyrinth und einem Irrgarten lernen konnte. Daß das, was ich für meine wieder einmal aus Stücken bestehende Geschichte brauchte, ein Irrgarten war, kein Labyrinth, »aber wenn du dich konzentrierst, kriegst du es vielleicht hin, daß es beides wird. Daß es Kehren hat, wie ein Labyrinth, in dem du auf einem abzweiglosen Weg sieben- oder neunmal umkehren mußt, bevor du in der Mitte ankommst, wo das Monster und die Erlösung auf dich warten, und wie ein Irrgarten, in dem du immer wieder abbiegen mußt. In beiden Fällen gilt, daß der, der dort unterwegs ist, nicht weiß, wo er genau ist, weiter vorausschauen als die nächsten paar Meter kann er nicht, er weiß nicht, wer hinter der nächsten Ecke, der nächsten Biegung steht, und das ist genau so, wie auf uneinsehbaren Pfaden durch ein Dickicht zu gehen, das ist, wie Abel Nemas Situation ist, und wie er sich fühlt, die Art und Weise, wie die Erzählung sich im Raum bewegt, ist so, wie sich das innere Problem des Abel Nema (die Entwurzelung, die Trauer, die Wut, die Schuldgefühle) bewegt.«
Das war ein schöner Moment. Möglicherweise der schönste, den ich in Olevano hatte. Später wurde es wärmer, das Eis schmolz, und die Bremer Künstler saßen auch mal auf meiner Terrasse. Später saßen wir im Olivengarten von jemandem aus dem Ort, den natürlich nicht ich aufgetan habe, sondern die Bremer, und einer hatte einen schönen, schon etwas gebrochenen Tenor. Und einmal waren wir bei jemandem zu Hause eingeladen, der immer alle »artisti tedeschi« zu sich einlud, auch die scrittori und die scrittrice, obwohl die ihm keine Skizzen schenkten, mit denen er dann seine Wände vollhängen konnte. Inzwischen hatte ich wohl doch ein wenig Italienisch gelernt, denn ich kann mich nicht erinnern, nichts verstanden zu haben oder nicht verstanden worden zu sein. Ich war dort, als gehörte ich dazu.
Und dann war das vorbei, ich fuhr nach Hause und beendete mein zweites Buch, den Roman, der mich auf die neue Ebene brachte, auf die ich, das wußte ich, für die Fortsetzung meiner Laufbahn kommen mußte. Um noch ein drittes Buch schreiben zu können, ein viertes und so weiter. Vieles, was mir die Serpentara brachte, waren reine Zufälle, aber wäre ich nicht dort gewesen, hätte es genau diese Zufälle nicht gegeben. Die mit Eis bedeckten Olivenbäume werde ich eines Tages vielleicht auch noch verwenden.
SINN UND FORM 6/2024, S. 853-855