
[€ 11,00] ISBN 978-3-943297-80-5
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Leseprobe aus Heft 6/2024
Schuster, Gerhard
»Dafür zu sorgen, dass diesem Ausländer nicht etwas vorberlinert wird«. Rudolf Borchardt 1929: Eine Intervention in Florenz und ihre Vorgeschichte
Vier Kilometer Fußmarsch sind es bis zur Villa Chiappelli im Weiler Candeglia nordöstlich von Pistoia, vom Bahnhof erst durch die Stadt und dann noch eine Dreiviertelstunde Wegzeit. Am Nachmittag des 11. April 1926 wandert ein Dutzend Kursteilnehmer des zwei Wochen dauernden »Studiengangs für Kunsthistoriker preussischer Universitäten« die (damals kaum befahrene) Strada Provinciale Nr. 24 entlang, als Abschluß ihrer ersten Exkursion zur italienischen Kunst des 13. Jahrhunderts. Der sie begleitende Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, Dr. Heinrich Bodmer (1885 – 1950), aus der weitverzweigten Zürcher Familie stammend, zu der auch Borchardts Mäzen Martin Bodmer gehört, ist schon im Mai des Vorjahres hier mehrere Tage zu Gast, »eine alte Bekanntschaft B’s, ein Schweizer«, wie Marie Luise Borchardt nach Deutschland berichtet, »der in Florenz eine halb diplomatische halb kunsthistorische Stellung einnimmt – langweilig, aber ganz klug«. Finanziell unabhängig, wenngleich ohne wegweisende Qualifikation als Wissenschaftler – seine Basler Dissertation über Lorenzo di Credi bleibt 1921 ungedruckt –, ist Bodmer mit Mary-Elisabeth von Arnim verheiratet, einer Nichte seines Amtsvorgängers Dr. Hans von der Gabelentz. Für den Berliner Trägerverein des Florentiner Instituts, der international Spendengelder sammelt und die spärlichen Zuwendungen deutscher Reichsländer (Preußen, Sachsen, Bayern) verwaltet, bedeutet Bodmer buchstäblich ein Geschenk; erklärt er sich doch bereit, seine Direktion im Rahmen eines Fünfjahresvertrags ehrenamtlich zu übernehmen, nur gegen (nie deckenden) Spesenersatz. Seine Hauptaufgabe besteht zunächst darin, Bibliothek und Fotografiensammlung des 1897 begründeten Instituts aus der im Mai 1915 erfolgten Beschlagnahmung durch den italienischen Staat zurückzugewinnen. Das gelingt ihm in Weiterführung der Bemühungen Walther Rathenaus bis zum August 1922, ab September 1923 belegt man Arbeitsräume in den Uffizien, im Juli 1927 erfolgt der Wiederbezug des Palazzo Guadagni gegenüber von Santo Spirito. Als »Neutraler« entkräftet Heinrich Bodmer die Sorge der Italiener, das Istituto Germanico des Feindes von gestern könnte sich künftig zum kulturpolitischen Instrument entwickeln; die Schweizer Staatsbürgerschaft beglaubigt quasi den übernationalen Charakter einer Forschungseinrichtung, die noch dazu ein beratender »Ortsauschuß« flankiert; ihm gehören neben Robert Davidsohn, Aby Warburg und dem Konsul Bruno Stiller auch Benedetto Croce und Giovanni Poggi an, der »Soprintendente all’Arte medievale e moderna per la Toscana«.
Was erwartet die jungen Wissenschaftler an diesem 11. April? Zunächst die Besichtigung eines mit Gartenanlage und Haupthaus intakt erhaltenen Landsitzes aus dem 17. Jahrhundert, abgemietet der Pistoieser Gelehrtenfamilie Chiappelli und seit Dezember 1924 von Rudolf Borchardt und seiner Frau (mit drei, bald vier Kindern) bewohnt; denn die Institutsleitung, so der »Jahresbericht« für 1926 / 27, läßt es sich »angelegen sein, die Teilnehmer in geselligen Veranstaltungen des öfteren zusammenzuführen und mit den in Florenz lebenden Fachgenossen sowie den Mitgliedern der deutschen Kolonie in Verbindung zu bringen«. Aufgesucht wird aber mit Borchardt nicht nur ein in Deutschland mittlerweile bekannter Autor, der Dantes »Divina Comedia« in experimentelles Spätmittelhochdeutsch überträgt und dessen Lyrik, Essays und Übersetzungen seit 1920 als Bändereihe der »Schriften« im Rowohlt Verlag erscheinen, darunter auch der für Kunsthistoriker einschlägige Essay »Villa«. Ihr Gastgeber ist zugleich auch »Fachgenosse«, der einer nachwachsenden Generation Etappen der Fachgeschichte aus eigenem Erleben erläutern kann. Entsprechend dankt Bodmer schon tags darauf für »köstliche Erinnerungen«, die seine Studenten »dankbaren Herzens als einen der Höhepunkte unseres Studienganges nach Deutschland« mitnehmen. Wird also beim Tee berichtet, wie der Archäologiestudent 1895 / 96 in Berlin einem Geniehistoriker wie Herman Grimm begegnet oder 1897 / 98 in Bonn als bevorzugter Schüler Useners und Büchelers auch Seminare bei Loeschcke in der Abgußsammlung absolviert, ohne darüber die Kollegien von Carl Justi (über Vasari) und Paul Clemen (über Dürer) zu versäumen? Daß Ludwig Coellen, Analytiker einer verschollenen »Neuromantik« und Autor von »Die Methode der Kunstgeschichte« (1924), ebenso zu seinen Kommilitonen zählt wie Georg Karo, der Direktor des Athener Archäologischen Instituts bis 1919? Daß dieser Student 1898 monatelang Venetien, die Toskana und halb Umbrien durchwandert, zunächst zwar für Böcklin und Botticelli schwärmt, sich dann aber vom modischen Renaissancismus abwendet? Daß Julius Meier-Graefe das Plädoyer für Hans von Marées im »Gespräch über Formen« von 1905 begeistert aufgreift und Borchardt 1906 per Aufsatz gegen die (statisch notwendige) Restaurierung des Doms von Worms protestiert?
Rudolf Borchardt und die Kunstgeschichte: 1903 findet man ihn (aber als was?) im Umkreis des Florentiner Antiquars Stefano Bardini, er treibt in Volterra und San Gimignano Archivstudien und postuliert Zusammenhänge zwischen etruskischen Aschenkisten und romanischen Kanzelreliefs. Lebensentscheidend wird ein Winteraufenthalt 1903 / 04 in Pisa, die Begegnung mit gotischer Skulptur und den Fresken des »Trionfo della Morte« im dortigen Campo Santo. Geradezu prominent macht ihn sein Beitrag zu einer monatelangen Debatte, die am 30. September 1904 in der römischen Tageszeitung »La Tribuna« mit dem Offenen Brief des Archäologen Giacomo Boni an seinen für die Lombardei zuständigen Kollegen Luca Beltrami einsetzt, unter dem Titel »L’Italia derubata e i musei stranieri«. Der berühmte Ausgräber des Forum Romanum schildert dort seine Besichtigung des soeben eröffneten Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin und beklagt eine Zeitungsseite lang, wie viele der italienischen Kunstschätze seit Jahrzehnten in ausländische Sammlungen übergegangen seien: Gemälde, Skulpturen, Mobiliar, Brunnenbecken, ja ganze Gebäudeteile. Aber dann repliziert am 29. Oktober 1904 ein (lebenslang unpromoviert gebliebener) »Dr. Rudolf Borchardt« in stupendem Italienisch, wiederum seitengroß: Italien habe diese Entwicklung selbst verschuldet, Bergung und Verbringung nationalen Besitzes seien jedenfalls besser, als der Zerstörung durch Verluderung weiter zuzusehen – und liefert im Tonfall der Aufrüttelung Beispiele wie das der Abteiruine von San Galgano südwestlich von Siena. Ein Land, das trotz allem Patriotismus für seine Tradition kaum Interesse aufbringe und Künstlerforschung wie Inventarisierung der Objekte fremden Gelehrten überlasse, möge diese Situation besser dankbar akzeptieren anstatt dagegen zu wettern. Beltramis Replik auf Borchardt am 23. November 1904 trägt den bitteren Titel: »Italia derubata e derisa« – Das geplünderte und verlachte Italien.
Mit einem Schlag ist dieser deutsche Privatgelehrte Tagesgespräch, findet sich in Florenz von dem Germanisten Carlo Fasola hofiert und von Carlo Sattler eingeladen, dem Freund des Bildhauers Adolf von Hildebrand. Höchstpersönlich zeigt ihm Corrado Ricci, damals Generaldirektor der Uffizien, in Ravenna die Restaurierung von San Vitale; auch eine Verbindung zu Bernard Berenson in Settignano besteht seitdem. Noch 1927 gratulieren Gustav Pauli und Ernst Waldmann, Galeriedirektoren in Bremen und Hamburg, als »dankbarste Leser« zum 50. Geburtstag; Hans Robert Hahnloser und seine Frau, wie Marie Luise Borchardt eine Bremerin, machen gern in Candeglia Station, mitten in der Editionsarbeit am Bauhüttenbuch des Villard d’Honcourt. Alfred Neumeyer, seit September 1925 für ein Jahr Stipendiat im Kunsthistorischen Institut Florenz und ausdrücklich von dort an Borchardt empfohlen, hält seinen »Eindruck des so problematischen Dichters« aus persönlichem Erleben fest: »Der Wille ruhte nie, alles wurde in eine bedeutende, selbsterhöhende Form gezwungen. Nie zuvor, und auch nachher nie mehr, bin ich einem schaffenden Künstler von solchen Ausmaßen eines lebendigen, stets paraten Wissens begegnet wie Borchardt.«
SINN UND FORM 6/2024, S. 742-52, hier S. 742-744