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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-79-9

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Leseprobe aus Heft 5/2024

Kienlechner, Sabina

Kafka und die Fakten


I.
Möglicherweise begann das Ganze ja tatsächlich schon zu biblischen Zeiten, mit Pontius Pilatus, als er fragte: »Was ist Wahrheit?« Jedenfalls will man uns das offenbar glauben machen, denn nahezu alle, die sich mit dem Thema befassen – Philosophen, Theologen, Journalisten, Wissenschaftler –, eröffnen ihre Abhandlungen mit eben dieser Episode. Geht man aber davon aus, daß es damals begann, dann gab es mit der Wahrheit von Anfang an ein Problem. Denn Pontius Pilatus stellte die Frage ja nicht wie einer, der etwas wissen will oder der überhaupt eine Antwort erwartet. Er stellte vielmehr die Wahrheit selbst in Frage, im Sinne von: Was heißt schon Wahrheit, oder: Wahrheit – was soll das denn sein …?
Doch die Wahrheit selbst in Frage zu stellen – das ist und bleibt ein Skandal. Gewiß: Man muß dem römischen Pontius zugute halten, daß er seine Frage an einen richtete, der nicht nur behauptet hatte, er sei ein König, sondern obendrein noch angab, er wolle »Wahrheit zeugen«, was immer das heißen mochte. Dennoch hätte Pilatus, da er über diesen wirr daherredenden Menschen richten sollte, die Frage anders stellen müssen, nämlich etwa: Was ist in diesem Fall die Wahrheit? Oder: Was meinst du? Drück dich genauer aus, Jeshua! Aber das tat Pilatus nicht. Michail Bulgakow behauptet, er sei an jenem Tag nicht ganz auf der Höhe gewesen, habe Kopfschmerzen gehabt; ein Migräneanfall, ausgelöst durch den Geruch von Rosenöl. Und »nichts auf der Welt verabscheute der Prokurator so sehr wie den Geruch von Rosenöl«, berichtet Bulgakow, »und jetzt stand ein schlechter Tag zu erwarten, denn dieser Geruch verfolgte ihn schon seit Tagesanbruch (…). Mit trüben Augen blickte er den Gefangenen an und schwieg einige Zeit. Qualvoll überlegte er, warum der Mann mit dem von Schlägen verunstalteten Gesicht in der erbarmungslosen morgendlichen Jershalaimer Sonnenglut vor ihm stand und was für überflüssige Fragen er ihm noch stellen sollte.«
Mit der Frage, die er dann stellte, verlieh er seiner Unlust Ausdruck, sich mit Überflüssigem zu beschäftigen: Die Frage nach dem »Wesen von Wahrheit« schien ihm gewiß die überflüssigste überhaupt zu sein. Nietzsche frohlockte Jahrhunderte später, mit seinem »vornehmen Hohn« habe der römische Statthalter mit einem einzigen Streich das ganze Testament »vernichtet«. Richtiger ist wohl die Annahme, daß der Pontius die Grundlage für eine Art Spaltung schuf.
Denn es dauerte nicht lange, bis ein Teil der Menschen sich jene »Wahrheit« aneignete, von der der Gefangene geredet hatte. Schließlich hatte er nicht weniger als ein Himmelreich versprochen, und von den ersten, die an ihn glaubten, hatten die meisten auf Erden nicht viel zu verlieren. Doch auch der Pontius hatte von Anfang an eine Art Gefolgschaft. Durch sein unbeirrbares Vorgehen hatte er alle jene auf seiner Seite, die aus irgendeinem Grund skeptischer waren und erst einmal wissen wollten, was man unter »Wahrheit« zu verstehen habe.
Insofern hatte Nietzsche nicht recht, als er meinte, der römische Statthalter habe das Testament mit einem einzigen Wort vernichtet. Im Gegenteil, gar nichts wurde vernichtet an jenem Tag in Jershalaim (etwa 753 Jahre nach der Gründung Roms); vielmehr standen sich mit diesen beiden Männern zwei Hauptkategorien der Wahrheit gegenüber, ihre Worte entwarfen sozusagen das Programm dieser Kategorien: »Ich bezeuge die Wahrheit«, sagt die eine, die religiöse, und »Was ist Wahrheit?« fragt ohne Ende die andere, die philosophische.
Nietzsche, der sich mit unerhörter Wucht daranmachte, die göttliche Wahrheit zu zertrümmern, sah in Pontius Pilatus etwas anderes. Er betrachtete ihn nicht nur als einen, der auf Anhieb die unsägliche Anmaßung erfaßte, die dieser »göttlichen Wahrheitsverkündung« eigen war. Nietzsche meinte, aus der Frage »Was ist Wahrheit« (oder besser: aus dem »Hohn«, mit dem sie gestellt wurde) heraushören zu können, daß Pilatus gleich das ganze Konzept »Wahrheit« vernichten wollte; so als impliziere die Frage auch schon die Antwort, die da lautete: Wahrheit ist gar nichts, Wahrheit ist ein Trug. Er sah in Pontius Pilatus einen Seelenverwandten, denn auch er, Nietzsche, fand, daß der menschliche »Wahrheitstrieb«, auch der nach den sogenannten Tatsachen, im Grunde lächerlich sei: An das »Wesen der Dinge« komme der Mensch ohnehin nie heran. Tatsachen? »Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«, schrieb er.
In den anderthalb Jahrhunderten, die seit Nietzsche vergangen sind, hat die eine Hälfte seiner Zertrümmerungsaktion, nämlich die Vernichtung der göttlichen Wahrheit, sich mit großem Erfolg durchgesetzt, während die andere Hälfte zunächst weitgehend wirkungslos blieb. Zumindest an der Tatsachenwahrheit wollte man festhalten, denn eine Tatsache ist eben eine Tatsache, an ihr kann keiner rütteln. Tatsachen sind Realitäten. Zumindest glaubte man das, bis im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (französische) Stimmen laut wurden, die endlich auch die Tatsachen- oder »Faktenwahrheit« aufweichten: indem sie, durchaus beeindruckend, darlegten, daß auch die Wahrheit der Fakten abhängig ist von allen möglichen Voraussetzungen, von Zeitgeist, Identitäten, Perspektiven, Strukturen … »Auch Leute, die glauben, daß sie nur an Fakten glauben, glauben nicht nur an Fakten, sondern vor allem an ihr eigenes Weltbild.« (Karl-Heinz Ott)
Ein paar Jahrzehnte blieb die Relativierung der Faktenwahrheit vielleicht noch strittig, doch mit Beginn des 21. Jahrhunderts nahm sie geradezu den Charakter einer Lehrmeinung an und bildet inzwischen selbst den Zeitgeist. Man trifft heute an jeder Ecke einen Jünger des Pilatus, der, gefragt oder ungefragt, verkündet: »Die Wahrheit gibt es nicht«, mit Betonung auf dem »die«. Und auf Nachfrage: »Wie? Wahr und falsch gibt es nicht?« wird er erwidern: »Nein. Es gibt nur Perspektiven.« »Keiner soll sich einbilden, er sei im Besitz der Wahrheit«, sagt er noch. Aber auch dann nicht, wenn man etwas mit Sicherheit weiß, wenn man es beweisen kann? »Ja, auch dann nicht.«
Der Pilatus-Jünger hat freilich gut reden. Ein angesehener, geradezu glamouröser Zweig der Philosophie stützt ihm den Rücken, dazu die halbe Akademie. Die Urteile und Entscheidungen darüber, was wahr ist und was falsch, sind immer »Gegenstand einer Idee« (sagt Jean-François Lyotard). »Wahr« zu sprechen ist eine Form, Macht auszuüben (sagt Michel Foucault). »Wahrheit ist weder etwas, das ans Licht kommt, noch gibt es so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Wahrheit ist schlicht ein sozialer Operator.« (Bernhard Kleeberg, Professor) »Meine Meinung, meine Fakten.« (Jan-Werner Müller, Professor) »Wo, bitte, geht’s zur Realität?« (Sven Papcke, Professor) »Warum wirkt die Wahrheit so gestrig?« (Jan Söffner, Professor)
(…)

SINN UND FORM 5/2024, S. 638-645, hier S. 638-640