[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-79-9
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Leseprobe aus Heft 5/2024
Klein, Thomas
Gedächtnisprotokoll einer Inhaftnahme
Vorbemerkung
Am 7. September 1979 wurde ich zusammen mit zwei weiteren Personen vom Ministerium für Staatssicherheit unter dem Vorwurf staatsfeindlicher Verbindungen beziehungsweise landesverräterischer Agententätigkeit inhaftiert. Die Inhaftierung war das Resultat einer »operativen Kombination« des MfS, in deren Vollzug ein in Westberlin lebender IM im Auftrag der Sicherheitsorgane Zeitschriften des in Westdeutschland tätigen Sozialistischen Osteuropakomitees in einem Schließfach in Ostberlin deponierte, dieses Paket mit unseren Namen versah und das MfS dann diese von ihm selbst organisierte Zusendung beschlagnahmte.
Dieser IM war für uns als Kurier zu unseren Genossen im Westen tätig. Seiner »Nebentätigkeit « für das MfS verdankten die Sicherheitsorgane auch ihre Kenntnis unserer Westkontakte. Diese waren gemäß des in der DDR geltenden Rechts in der Tat strafrechtlich relevant im Sinne des § 100 StGB mit einem Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Haft. Der eigentliche Auslöser für die Entscheidung des MfS, uns in Haft zu nehmen, war jedoch unsere Rolle als Organisatoren einer Protestaktion gegen den politisch motivierten Ausschluß von neun Autoren aus dem Schriftstellerverband im Juni 1979. Die Verabredung der mehr als siebzig Unterzeichner der Briefe an den Verband und den Staatsratsvorsitzenden Honecker, auch zukünftig gemeinsam die Problemzonen des nominalsozialistischen Polizeistaats DDR zu diskutieren, gab den Ausschlag: Dies war mit allen Mitteln zu verhindern. Solche Aktivitäten waren jedoch auch nach DDR-Recht keineswegs so ohne weiteres strafbar – obwohl das MfS hier anfangs Maßnahmen im Sinne des § 220 (Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung) in Erwägung zog. Eine Verhaftung der »Rädelsführer« wegen ihrer Westverbindungen versprach aber neben dem Einschüchterungseffekt auch eine Diskreditierung der Protestaktion als mutmaßlich fremdgesteuert. Zusammen mit dem »operativen Zusammenwirken« von Kaderleitungen, Funktionären gesellschaftlicher Organisationen, Parteileitungen und mit falschen Berufsbezeichnungen auftretenden Mitarbeitern des MfS in Einzelgesprächen mit den Unterzeichnern gelang es so, das im Entstehen begriffene Bündnis zu zersetzen.
Meine Verurteilung und die meiner Mitangeklagten gemäß § 100, für die das MfS dank der Informationen ihres IM durchaus über inoffizielle Beweismittel verfügte, wäre ohne dessen von vornherein ausgeschlossenes Auftreten vor Gericht nur durch unsere eigenen Aussagen möglich gewesen. Weil diese fehlten, blieb letztendlich nur eine Verurteilung gemäß § 219 (ungesetzliche Verbindungsaufnahme) beziehungsweise (bei meiner Mitangeklagten) wegen Beihilfe dazu übrig. Mein Strafmaß betrug fünfzehn Monate. Die Reststrafe nach angerechneter Untersuchungshaft in der Zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS habe ich im Gefängnis Bautzen II abgesessen.
Vor über zweiundvierzig Jahren, unmittelbar nach meiner Haftentlassung, hatte ich begonnen, meine Eindrücke während der ersten Woche der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen zu notieren. Mein Hauptaugenmerk lag auf der möglichst präzisen Darstellung und Kommentierung der Abläufe sowie auf der Beschreibung ihrer Wirkung auf mich. Mein Motiv für die Herstellung dieses Berichts war die Vorbereitung meiner politischen Freunde und Genossen auf (unvermeidliche) Konfrontationen mit den Sicherheitsorganen – im schlimmsten Falle auf die Haft. Es war geplant, diesen Bericht für die ganze Haft fortzuschreiben und auch die Zeit in Bautzen II einzubeziehen. Dazu ist es nicht gekommen: In der Volksrepublik Polen eskalierten 1981 die Auseinandersetzungen durch die Ausrufung des Kriegsrechts. Es gab Wichtigeres zu tun, als solche Erinnerungen zu notieren. Immerhin habe ich damals den ersten Teil der unten dokumentierten handschriftlichen Aufzeichnungen in Schreibmaschinenabschrift an einen kleinen Personenkreis weitergereicht, um die ursprüngliche Absicht wenigstens ansatzweise umzusetzen.
1992 oder 1993 habe ich die Notate das erste Mal wieder hervorgeholt. Die inzwischen bestehende Möglichkeit, sie jetzt aus ganz anderen Gründen zugänglich zu machen, nämlich als Zeitzeugendokument im Sinne einer genaueren Reflexion der Wirkungen jener Tätigkeiten von DDR-Sicherheitsorganen, habe ich schnell verworfen. Die anhaltende »Stasi-Hysterie« und die Tendenz zu einer Dämonisierung des MfS hatten meine Bedenken verstärkt, diese Aufzeichnungen könnten infolge der Schilderung meiner ganz persönlichen Verarbeitungsmuster der auf Deprivation, auf Entzug und Mangel angelegten Haftsituation (ehedem vom MfS durchaus beabsichtigt) diese Dämonisierung ungewollt befördern. Eine solche Zuschreibung hebt ihren Gegenstand ins Irrationale und in seiner Scheußlichkeit ins Unerklärliche und fragt nicht nach der Rationalität des Handelns staatlicher Gewaltinstrumente. Als Zeithistoriker war mir bereits in den Neunzigern klar, daß die Darstellung der Funktionalität des Terrors die eigentliche Herausforderung für den Umgang mit der Stasi ist, wovon mein alter Text in seiner Konzentration auf die persönliche Erfahrung eher ablenkt. Für Haftpsychologen ist die Darstellung der Deprivationstechniken und Verhörstrategien jedoch durchaus von Interesse. Noch nützlicher, da verallgemeinerbar, sind solche Notate für andere politisch Verfolgte. Anfang der neunziger Jahre verblieb der Bericht aber in der Schublade.
Hat sich die Situation heute, im Jahr 2024, wirklich geändert? Einiges spricht dafür, noch mehr dagegen. Und ist ein solcher Text, außer vielleicht für Zeithistoriker, wirklich noch von Interesse? Auch hier spricht mehr dagegen als dafür. Trotzdem habe ich mich entschlossen, diesen Bericht herauszugeben – und sei es nur für die Handvoll geschichtlich Interessierter, die hier vielleicht neues Material finden.
GEFÄNGNISBERICHT
Die erste Woche in Hohenschönhausen, handschriftliches Manuskript, verfaßt
Anfang 1981 (Abschrift).
Erster Tag (Freitag, 7. September 1979)
Ich nehme die Schlüssel aus der Umhängetasche. Noch auf der Treppe höre ich das Geräusch einer stoßweise klappernden Schreibmaschine. Meine Mutter arbeitet. Ich gehe auf die Wohnungstür zu; das Tippgeräusch wird lauter, ich schließe auf und stehe zwei Männern gegenüber, von denen der eine, vierschrötig, bereits eine Klappkarte in der Hand hält. Der andere geht um mich herum und schließt in meinem Rücken die Wohnungstür. Ich sehe am Vierschrötigen vorbei durch die geöffnete Zimmertür jene bewußte Schreibmaschine, nicht die meiner Mutter, und hinter ihr sitzt ein undeutlicher Mensch, schreibend, ohne aufzublicken. Die jetzt offene Klappkarte haltend, fragt der Vierschrötige nach meinem Namen und fordert mich auf, den Personalausweis zu zeigen. Meine Mutter in der Küchentür, bleich, entsetzte Augen. »Ministerium für Staatssicherheit; wir führen im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren gegen Frau J***a B*****d bei Ihnen eine Wohnungsdurchsuchung durch. Ist Ihnen Frau B*****d bekannt?« Ich werde mit einer Handbewegung ins Zimmer gewiesen: »Sie können an der Wohnungsdurchsuchung teilnehmen. Setzen Sie sich dort auf diesen Hocker an der Wand.« Ich bin wie gelähmt, stehe als Fremder in der Wohnung. Meine Wahrnehmungsfähigkeit ist jetzt blockiert; ich nehme alles auf, ohne zu differenzieren, noch nicht einmal Schreck ist da. Im Zimmer befinden sich außer dem nach wie vor tippenden undeutlichen Menschen noch zwei weitere. Einer steht auf. »Der aufsichtsführende Staatsanwalt«, sagt der Vierschrötige. Klein, hager, scharf geschnittenes Gesicht. Eine Stimme im Flur, an meine Mutter gerichtet: »Sie können sich jetzt etwas zu essen machen. Bitte melden Sie sich, wenn Sie die Küche verlassen wollen. Sie dürfen nicht mit Ihrem Sohn sprechen.« Ich sehe und höre nun, wie der zweite Mann im Zimmer, mir seinen gekrümmten Rücken zuwendend (er hockt vor einem Berg Papier neben dem geöffneten Schrank), dem an der Maschine sitzenden Kerl abgehackt Listenpositionen diktiert. Als ich stehenbleiben will, werde ich nochmals nachdrücklich aufgefordert, mich auf den Hocker zu setzen. Auf dem Fußboden liegt offen ein großer Koffer voller Bücher, aber vor allem gefüllt mit Tüten, aus denen Zettel quellen.
Der Staatsanwalt sitzt jetzt wieder an der Schmalseite des Tisches, wie unbeteiligt und abwartend Zettel und Buchkataloge in der Hand drehend; er sieht unschlüssig aus. Es wird nicht gesprochen. Mir prägen sich Nebensächlichkeiten ein; ich nehme zum Beispiel wahr, wie der Schreibmaschinenmensch, die Beine unter dem niedrigen Tisch kreuzend, mit seltsam abgespreizten Ellenbogen die Buchstaben sucht. Der Mann am Koffer hat Kontoauszüge in der Hand, die er einen nach dem anderen durchsieht. Eine Stimme von rechts: »Warum sind Sie um diese Zeit hier und nicht in Ihrem Institut?« Dort waren sie also zuerst, sind aber offenbar nicht auf die Sekretärin mit dem Abwesenheitsnachweisbuch gestoßen, sonst hätten sie mich sicher schon im Funkwerk Köpenick erwartet. Ich merke, daß meine Sinne langsam wieder Anschluß an mein Gehirn finden. Die Wohnungstür klappt und jemand geht die Stufen hinunter. Ich erinnere mich jetzt an einen grünen Lada in der Wetterseestraße, weg vom Haus, aber mit Blickkontakt; dann Wartburg und Lada vor dem Haus, unbesetzt. Alles unscharf beim Raufgehen registriert. Die Zimmertür öffnet sich und die beiden Männer vom Flur kommen herein. Da wegen meiner Mutter sicher noch jemand draußen geblieben ist, müssen mit dem, der jetzt die Treppen hinuntergeht, wenigstens sieben Mann in der Wohnung gewesen sein. Meine Starre läßt nach, ich muß mich bewegen. »Ich möchte auf die Toilette gehen.« Kopfnicken; ich stehe auf, nehme im Hinausgehen wahr: Der eine vom Flur gibt dem Staatsanwalt einen Zettel, ich höre draußen gedämpft Sätze aus dem Zimmer, »machen erst mal Schluß hier«; meine Umhängetasche ist jetzt unter der Flurkommode meiner Mutter. Ich erinnere mich, beim Eintritt in die Wohnung im Flur mechanisch meine Cordjacke ausgezogen und aufgehängt zu haben (Brusttasche Adreßbuch). Im Klo fühle ich die Hosentaschen ab, Schlüsselbund und Gürteltasche mit dem Brief, Blick zurück zur angelehnten Klotür – der zweite Flurmann hat die Hand an der Klinke.
Wissen die von der Weißenseer Wohnung? Ins Zimmer zurück, will ich jetzt stehenbleiben, werde aufgefordert, mich zu setzen, bin unschlüssig, da sagt eine Stimme aus einem neuen Gesicht an der geöffneten Tür: »Wir fahren jetzt erst mal los.« Der Mann von der Treppe. Der Vierschrötige sagt zu mir: »Bitte nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mal mit uns.« Meine Frage, in welcher Situation ich mich befinde (gepreßte Stimme), wird gleichmütig beantwortet: »Sie werden zwecks Aufklärung eines Sachverhalts im Zusammenhang mit dem erwähnten Ermittlungsverfahren befragt werden.« Ich greife eine Jacke (nicht die Cordjacke) und werde ermahnt: »Vergessen Sie Ihre Wohnungsschlüssel nicht.« Die beiden vom Flur verständigen sich kurz untereinander, darauf spricht der eine von beiden hinter der angelehnten Zimmertür offenbar mit dem Staatsanwalt; ich kann die Worte nicht verstehen. Dann wieder beide im Flur, die Wohnungstür wird geöffnet, der erschöpfte, hilflose Blick meiner Mutter; ich gehe hinter dem Vierschrötigen. Beim Hinausgehen wieder die Frage: »Haben Sie Ihre Wohnungsschlüssel eingesteckt?«
Im Hausflur nehme ich die Wohnungsschlüssel aus meiner Hosentasche in die Hand. Meine Umhängetasche, in der ich sie sonst mit mir herumtrage, kann ich aus den Augenwinkeln noch in der Tür nach wie vor unberührt unter dem Spiegelschrank stehen sehen. Nichts im Kopf als die Frage, wie ich die Weißenseer Schlüssel loswerde, ehe die Fragen nach dem zugehörigen Schloß kommen. Als ich zwischen den beiden Männern quer über die Straße gehe – offenbar tatsächlich in Richtung des grünen Lada –, kommt die verdammte Lähmung zurück, jetzt erlebe ich alles wie in Trance. Plötzlich ist ein Fahrer im Wagen, ich sitze hinten neben dem zweiten Flurmann (hager, längsgestreifte Hosen, ich sehe nicht in sein Gesicht); der Vierschrötige bleibt vorn neben dem Fahrer.
Den Bund in der Hand, versuche ich die Weißenseer Schlüssel vom Ring zu lösen, aber ich spüre, daß der neben mir auf meine Finger sieht, und bewege mich nicht mehr. Der Wagen fährt die Hallandstraße, Trelleborger Straße, Elsa- Brändström-Straße ab und biegt links in die Berliner Straße. Es wird kein Wort gesprochen. Man fährt dann einen für mich unverständlichen Kurs – wenn es, wie ich vermute, zur Magdalenenstraße geht, sind das Umwege, die angesteuert werden. Nach endloser Zeit hält der Lada in einer schmalen Straße, die wahrscheinlich den Gebäudekomplex Magdalenenstraße flankiert. Ich steige mit den beiden Männern aus – der Fahrer bleibt – und gehe zwischen ihnen auf eine kleine blechbeschlagene Tür in einer hohen Mauer zu. Ich sehe nichts von dem, was dahinter sein könnte.
Auf ein Klingelsignal wird die Tür von innen geöffnet. Ein uniformierter Posten; dann ist da überraschend unmittelbar hinter der Tür ein langer Gang mit beiderseits angeordneten Türen, einige halboffen. Wir gehen ohne Aufenthalt an einem großen Glasfenster vorbei. Ich sehe zwei Uniformierte, mehrere Monitore. Die wenigen nach außen halbgeöffneten Türen geben jeweils den Blick auf eine zweite, stets geschlossene Tür frei. Hinten rechts habe ich vor einer solchen Doppeltür stehenzubleiben. Der Vierschrötige geht hinein, gleich darauf werde ich aufgefordert einzutreten. Ich sehe ein großes Zimmer, einen über Eck aufgestellten, monumentalen Schreibtisch, hinter dem sich eine massige Gestalt erhebt. Ich werde mit »Aha, der Herr Doktor!« begrüßt und zu einem ledergepolsterten Stuhl vor der Schreibtischkanzel dirigiert. Jetzt sehe ich auch den zweiten Mitarbeiter, an einem flachen Tisch in meinem Rücken sitzend, offenbar den passiven Part im nun folgenden Gespräch spielend. Sehr jung, sehr bunte Krawatte, glattes Gesicht. Er hat einen Block und einen Kugelschreiber vor sich.
Ehe ich mich setzen kann, spricht mich von hinten eine Stimme an, die ich aus der Wohnung meiner Mutter als zum Mann von der Treppe gehörig in Erinnerung habe, der aber nicht mit im grünen Lada saß: »Geben Sie Ihre Wohnungsschlüssel her und bezeichnen Sie uns die Schlüssel zu Ihrer Wohnung in der Charlottenburger Straße.« Sie wissen also. Neben dem Treppenmann steht ein weiterer, mir noch völlig unbekannter, und beide verlassen sofort mit meinen Schlüsseln den Raum. Die Tür stand die ganze Zeit offen; sie wird nun von einem Uniformierten geschlossen. »Da haben wir Sie jetzt also hier, lieber Herr Doktor, und unsere Fragen, die Sie hoffentlich gleich beantworten werden, sind nicht von Pappe. Wir werden Ihre Antworten dokumentieren, sprechen Sie bitte in dieses Mikrofon.« Was jetzt folgt, dauert von 12.00 bis 21.00 Uhr, und damit soll ganz offensichtlich meine Aussagebereitschaft und meine Reaktion auf Einschüchterung getestet werden. »Wenn Sie reden, werden wir schon gemeinsam einen Weg finden, aber versuchen Sie hier besser nicht, uns die Pfeife zu halten, Sie werden sich wundern.« Ich erfahre, daß J***a und S****n vernommen werden, wahrscheinlich verhaftet sind. Die Vernehmung ist jetzt durchsetzt von Drohungen, es gehe für mich nur noch darum, die Wahrheit zu sagen, die zu erfahren mich nicht voraussetze, da J***a und S****n bereits ausgesagt hätten und ich noch den Beweis erbringen könne, daß mit mir zu reden sei. Zunächst soll ich vor allem über meine Westberliner oder westdeutschen Freunde, deren Namen, Adressen, die Umstände der Bekanntschaft, Inhalt der Beziehung etc. aussagen. Dann werde ich nach Literatur befragt, die »aus dem westlichen Ausland an Sie verbracht wurde«, was mir in diesem Zusammenhang den Schluß erlaubt (sicher gewollt), daß die Festnahmen damit in Zusammenhang stehen.
Schließlich die ersten Fragen nach meiner politischen Einstellung, verpackt in die Aufforderung, meine Haltung zur DDR offenzulegen, »oder haben Sie die vor den Sicherheitsorganen zu verbergen?« Und zwischendurch: »Sie werden doch auch mal Hunger haben, Herr Doktor, und den Kaffee hier, den können Sie ruhig trinken, was denken Sie denn von uns, sehen Sie mal, ich schenke mir aus der gleichen Kanne ein; was hat man Ihnen denn so erzählt, ich weiß schon, ich weiß; uns machen die immer wieder großen Spaß, diese Geschichtchen, auch der einschlägigen Blätter über die ›Folterhöllen der Stasi‹, oder ›SSD‹, wie das dort heißt, sogar bei diesen sogenannten Linken ihrer Couleur, SSD hören wir übrigens gar nicht gern, wissen Sie ja alles, Sie haben sich ja auch immer einzudecken gewußt mit diesen hochinteressanten Zeitungen, wie uns bekannt ist; glauben Sie denn das alles, was da so steht über uns – na, Sie werden ja jetzt sehen, Sie werden das ja jetzt alles selber ganz ausführlich erleben, und bitte seien Sie bloß nicht enttäuscht, und wenn doch, machen Sie uns das bloß nicht zum Vorwurf, was, Herr Doktor? Sagen wir doch, wie’s ist, und wo ich recht hab’, hab’ ich recht, oder?«
(…)
SINN UND FORM 5/2024, S. 600-633, hier S. 600-605