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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-78-2

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Leseprobe aus Heft 4/2024

Martynova, Olga

Elkes ABC


»… der Weg unserer Freundschaft ist durch Bücher gekennzeichnet, wie der Weg eines Trecks in der Steppe durch Skelette gegessener Kühe«, schrieb Oleg Jurjew in seiner Laudatio auf Elke Erb anläßlich des Preises der Literaturhäuser 2011. Dem kann ich mich nur anschließen. Seit 1995 war Elke Erb für uns beide eine Freundin, bewunderte Dichterin, Gesprächspartnerin, unsere Übersetzerin, immer überraschend, spöttisch, ernst, zugewandt.
Wenn jemand erst vor kurzem gestorben ist, bleibt er noch eine Weile bei den Lebenden, wie der letzte Sonnenstrahl am Abend. Ich versuche, etwas zu erhalten, das noch ein bißchen Gegenwart ist, bevor es endgültig Vergangenheit wird.
Nach der Nachricht von Elkes Tod versuchte ich, einige Erinnerungen zusammenzutragen, nichts Spektakuläres, nur etwas, das ein wenig erklären könnte, wie sie war. Denn sie war in vielem ziemlich außerordentlich. Menschen, die scheinbar gern Selbstauskunft geben, sind oft recht verschlossen. So war Elke Erb, so waren auch ihre Gedichte: Einerseits ist Selbsterforschung eines ihrer beständigeren poetischen Verfahren, andererseits sind die Ergebnisse von allgemeiner Gültigkeit und ohne jede Intimität – eben keine Befindlichkeitslyrik, was eine der paradoxen Eigenheiten ihrer Gedichte ist. Nach einiger Überlegung habe ich meine Erinnerungen an Elke und ein paar Ausschnitte aus unserer E-Mail-Korrespondenz alphabetisch geordnet. Unter X, Y und Z stehen Zeilen aus Elkes Gedicht »Wußte das A davon?« (aus: »Kastanienallee«, Berlin und Weimar, 1989).

Arbeitsethik – Elke war bereit, honorarfrei zu übersetzen, aufzutreten, zu lektorieren, wenn sie verstand, warum sie es tat. Sie konnte einem jungen Verlag vorschlagen, Korrektur zu lesen – zum Teil aus Solidarität, zum Teil, weil es ihr unerträglich war, so viele Fehler zu sehen. Das bedeutet nicht, daß sie sich und die eigene Arbeit unterschätzt hätte. »Das ist Anstand«, sagte sie.

Bewunderung – Eine der vielen Eigenschaften, die ich an Elke bewunderte, war ihre Widerstandsfähigkeit, für die sich schwer ein präzises Wort finden läßt. Widerstand leistete sie nicht in erster Linie den Umständen, denen sie mit der Verantwortung eines erwachsenen Menschen begegnete. Die praktischen Seiten des Lebens hat sie bewältigt, freilich nur in dem Maße, in dem es absolut notwendig war, denn die meiste Energie investierte sie natürlich in Lesen, Nachdenken, Empfinden, Beobachten, Schreiben. Das, was ich ihre Standhaftigkeit nenne, war nach innen gerichtet: In jeder unangenehmen Lebenslage hat sie darauf geachtet, daß kein Ressentiment sie deformiert und innerlich vergiftet. Zum Beispiel, wenn sie, und das kam mehrmals vor, keinen Verlag hatte. Das ist eine Situation, in der sich fast jeder Schreibende eines Tages wiederfindet und die man als demütigend und entmutigend empfindet. So stand im Ablehnungsbrief eines Verlags, der sie zuerst feierlich eingeladen hatte: »Ein typisches Elke-Erb-Buch also, und gerade darum.« Ein Buch »sollte zum bewunderten und bewährten Alten etwas Neues mitbringen« – das schrieb man der damals 72jährigen Dichterin, die eigentlich wandlungsfähig wie kaum jemand war. Es war im Rahmen des Üblichen und nicht überraschend, daß derselbe Verlag, Jahre später, als die inzwischen über 80jährige Dichterin immer eindeutiger in der lichten Reihe der modernen Klassik gesehen und mit wichtigen Preisen dekoriert wurde, eine Auswahl ihrer Gedichte herausbrachte. Aber ich spreche nicht über das Gewissen des Literaturbetriebs (er hat sogar eines, das nur etwas merkwürdig strukturiert ist), sondern über Elke.
Ich habe oft gesehen, mit wie viel Edelmut sie sich solchen Demütigungen stellte. Sie hat ganz bewußt wahrgenommen, wie sie auf sie wirkten, und achtete ebenso bewußt darauf, Haltung zu bewahren. Das wäre für alle nachahmenswert, die der Mode folgen, nach Beleidigungen Ausschau zu halten. Ich meine nicht nur die schriftstellerischen Angelegenheiten. Sie war, um Robert Walser umzuformulieren, »dem Leben und seinen kalten Anforderungen gewachsen«.

Charakter – Viele sagen, Elke sei schroff, unsentimental und zurückhaltend gewesen. Das stimmt nicht ganz. Sie war sogar etwas sentimental, aber auf eine disziplinierte und strukturierte Art, wie mit allem in ihrem inneren Leben. Hinter der rauhen Fassade gab es viel Verletzlichkeit, auch Scheu. Dabei konnten ihre Zuneigung, Großzügigkeit und Freundlichkeit zart und unmittelbar sein, wie bei einem Kind, das der Welt noch vertraut.
Deutsche Bahn – Nach einer Zugreise sagte Elke einmal, daß sie, als sie durch die erste Klasse zu ihrem Platz gegangen sei, nicht gewußt habe, wohin mit den Augen, weil sie sich für die Menschen schäme, die erste Klasse fahren. (Übrigens fuhr auch Harry Rowohlt, selbst in seinen letzten Jahren, als es ihm körperlich schlechtging und er auf Komfort durchaus angewiesen war, aus Solidarität nur zweite Klasse, obwohl ihm seine Veranstalter selbstverständlich die erste anboten.)

Enthaltsamkeit – Elkes Talent, mit wenig auszukommen, war keine Askese; eine solche hat immer etwas Exaltiertes. Es war eine Grundethik, die in allem, was Elke tat und sagte, zu spüren war.

Fremdsein – Bei einem Literaturtreffen, das von einem Tycoon organisiert wurde, war Elke von dessen Gastfreundschaft gerührt und sagte, um ihre Sympathie für ihn zu rechtfertigen: »Na ja, manch ein Mensch kann nichts dafür, daß er reich ist.« Später erzählte mir jemand vom Veranstaltungsteam, wie seine Chefin sich ärgerte, als Elke Erb den Saal betrat. »Warum?«, fragte ich. »Ach«, sagte sie, »einfach unpassend, auffällig.« Das Anarchische (genauso wie das Ethische) an Elke war glänzend und unschlagbar. Um so mehr, da es nicht inszeniert war, weder bewußte Wahl noch Berechnung.

Geduld – Über eine gelungene Übersetzung schrieb mir Elke einmal: »Tja, ich wollte schon aufgeben. aber das ist die übliche situation, sagte ich Dir ja. nur sonderbar ist es doch. und diese ewigkeitseselsgeduld! E.« (23. Juli 2010)

Humor – Literatur als »Beilage«: Elke schickt uns per E-Mail zwei neue Gedichte. In der Betreffzeile steht »Literaturbeilage«. Sie schreibt begleitend: »mir fällt auf, daß der betreff die satire-potenz dieses üblichen begriffs entblößt«. (24. Februar 2006)

Ich lasse den Buchstaben unbesetzt, um einfach zu sagen: Lest, lesen Sie Elke Erbs Bücher!

Jetzt noch einmal: Jeden Tag ein Gedicht von Elke zu lesen, wird bereits nach zwei Wochen eine positive Auswirkung auf die mentale Fitneß haben.

Kulturbetrieb – Einmal berichtete eine Zeitung darüber, wie Elke eine Laudatio auf mich hielt: »In Gestalt der Lyrikerin Elke Erb steht dann aber eher eine Koboldin auf der Bühne, die in den erratischen Sätzen ihrer Laudatio alle Möglichkeiten des Nichtverstehens ausreizt.« Eigentlich gestanden mir ziemlich häufig Menschen, sie blieben vor Elkes Art zu sprechen ratlos. Elke sprach nicht unverständlich, sondern konzentriert und ohne Rücksicht auf hergebrachte Regeln des Alltagsgesprächs (s. Plastikmüll). Sie ließ die erklärenden Glieder der Mitteilungskette oft aus und ließ in ihrer Rede nur das Wesentliche erscheinen. Das erinnert mich an Worte von Mandelstam, er denke in ausgelassenen (Ketten-)Gliedern.

Logos – Nach einer gemeinsamen Lesung in einer Berliner Galerie samt anschließender Party: Elke Erb und ich gehen durch die verschneite Berliner Nacht. Sie spricht über die Vollkommenheit des Begriffs des Logos. Das Wort »Logos« entfaltet seinen Klang, wird immerzu mit Nachdruck wiederholt. Ich frage mich, wie seltsam das den zu dieser späten Stunde zahlreichen Passanten vorkommen muß. Dann denke ich, sie halten dies wohl für die Pluralform von »Logo« und denken, wir besprächen die Logos irgendeiner Firma.

Morgengruß – »Guten Morgen, ich bemerkte beim Aufstehn und Anfangen einen guten Willen bei mir zu dem Tag, und hallo, da sagte ›die Fügung‹ zu mir: Ich habe noch keinen Beifall, noch gar nicht, von dir dafür, daß ich dich, habe ich doch, mit den besten beiden Russen in ganz Deutschland! dich doch habe verbunden. Olga und Oleg. Elke« (28. Februar 2012)

Nebensächliches – Einmal wollte eine literarische Dame Elke kennenlernen, die uns gerade in Frankfurt besuchte. Wir verabredeten uns in einem Café. Es war, als würde ich ein Treffen zwischen einer Marsianerin und einer Jupiterianerin arrangieren. Bei der Dame hinterließ die Begegnung eine Mischung aus Respekt (sie glaubte der öffentlichen Meinung, daß Elke eine bedeutende Dichterin sei), Verwirrung (sie konnte nicht richtig einordnen, wie Elkes Art zu sprechen zu einem gepflegten Gespräch gehören konnte) und Mitleid (sie ging davon aus, daß Elkes Lebenssituation prekär sei). Elke sagte am nächsten Morgen mit Sympathie: »Ach, die Arme.« »Warum?« fragte ich. Na, sagte sie sinngemäß, so allein, eine geschiedene Frau, irgendwie verloren. Ich war verblüfft. Das war nicht Elkes Logik und außerhalb all ihrer Vorstellungen davon, wie man das Leben gestalte. Dann begriff ich, daß sie aus der Logik dieser Dame heraus gesprochen hatte (gerechter oder ungerechterweise).

Orphisches Geleit – Ich habe mehrere Lebensphasen von Elke mitbekommen. Sie war in allem immer ehrlich und ausdrucksstark. Auch, wie sie sich eine Weile mit der Todesangst auseinandergesetzt und sie mit Gedichten überwunden hat. Nicht mit dem eigenen Schreiben, das sie nie als Therapie mißbraucht hat, sondern mit fremden Gedichten. Ich denke, damals hat das bei ihr mit dem Tod von Oskar Pastior angefangen, von dem sie mit Verspätung erfuhr, leider von mir, am Telefon. Sie wurde von dieser Nachricht in eine unheimliche Schwerelosigkeit versetzt, als würde sie sich weigern zu begreifen, wie es möglich war, daß er so lange schon nicht mehr lebte und sie eine Weile so gelebt hatte, als wäre er noch unter den Lebenden. Sie rief damals ab und zu an und empfahl ein Gedicht, das mit dem Tod oder um den Tod herum, aus dem Tod heraus oder gegen den Tod sprach. Manchmal schrieb sie auch ein Gedicht ab (nie copy / paste) und schickte es per E-Mail oder Postkarte. Als ich ihr erzählte, daß Jelena Schwarz, deren Gedichte Elke und ich zusammen übersetzt hatten, sehr krank war und bald sterben würde, weinte sie am Telefon und schickte mir gleich nach dem Gespräch eine E-Mail: »Liebe Olga, wenn Du meinst, daß es Jelena vielleicht gefällt, schick ihr das mit einem Gruß von mir. Elke«
Unten stand ein Text vom sogenannten Täfelchen aus Petelia, ein altgriechischer orphischer Text aus dem 3. oder 4. Jahrhundert v. Chr., der als Anweisung für die neuverstorbene Seele im Jenseits gedacht war. Elke, mit ihrem anderen Taktgefühl, als es nichtpoetische Menschen pflegen, wählte für Jelena Schwarz diese Instruktionen fürs Jenseits aus. Nach einem kurzen Zögern habe ich sie der sterbenden Dichterin weitergeleitet, und sie, der weniger als ein Monat Leben blieb, reagierte mit Freude und einem zarten Gruß und Dank an Elke.

Plastikmüll – Elke Erbs natürliche Umgebung war die Poesie, was zunächst wie eine Floskel klingt und deshalb einer Präzisierung bedarf. Das Wort war das Medium, die Umwelt ihres Lebens. Ihre Art, darin zu leben, kann man ökologisch nennen. In den mehr als dreißig Jahren, die wir uns kannten, habe ich keinen Satz von ihr gehört oder gelesen, der einfach so gewesen wäre. Sie produzierte keinen verbalen Plastikmüll, auch in den einfachsten Alltagsangelegenheiten nicht.

Quelle – Hier ist das orphische Geleit, das mir Elke Erb am 17. Februar 2010 geschickt hat, einen Tag vor ihrem 72. Geburtstag.
»Zur Linken am Hause des Hades wirst eine sprudelnde Quelle Du finden, rund um sie stehen in Reihen weiße Zypressen. Halt ein, bleib ferne davon und nähere dich ihr nicht weiter. Such nach einer anderen Quelle nicht weit vom See des Gedenkens, Dort sprudelt eiskaltes Wasser, und Wächter stehn vor der Quelle. Sag ihnen: Ich bin ein Kind der Erd’ und des Sternenzeltes, Doch mein Geschlecht stammt vom Himmel. Das wissen wahrlich wir alle. Vom Durste verbrannt, verlor ich das Leben. Drum reichet mir eilends Das kalte, schäumende Wasser, das fließt aus dem See des Gedenkens. Text auf einem Täfelchen aus Petelia«

Realität – Die poetische Realität war ihre erste Realität. Mit deren Energie hat sie den Alltag bewältigt, der die zweite Realität war. Spontanität – »›Wisse wohl, daß alles anders kommen kann‹, warnte der Lyriker Anakreon um 550 vor der Zeitenwende seine Mitmenschen. E.« (15. Februar 2014)

Telefongespräch – Eines der letzten Telefonate, das noch möglich war und das ich gleich darauf spontan aufgeschrieben habe.
18. Februar 2022 Heute ist der Geburtstag von Elke Erb. Sie am Telefon. Es geht ihr schlecht. Schmerzen und Zittern im ganzen Körper. Sie sei draußen gewesen, habe Post abgegeben und noch zum Bäcker gewollt. Dann sei sie auf der Straße umgekippt. Jemand habe ihr geholfen, nach Hause zu kommen. Sie sagt: Ich bin satt, ich will nicht mehr leben. Dann hört sie, wie das klingt (ich weiß das auch von mir, wenn ich nach Olegs Tod zu viel zu meinem wirklichen Befinden sage, höre ich, wie das klingt, und bewege mich im Gespräch in die andere Richtung, ich will niemanden in Verlegenheit bringen, die Menschen können nichts dafür). Sie sagt: »Nein, aber versteh mich richtig, das ist nicht so, wie es klingt.« Ich sagte, daß ich sehr gut verstehe, wie sie es meint. Dann, am Ende des Gesprächs, das lang und gut war, noch einmal das: »Ich will nicht mehr leben, was soll das, das war genug. Aber ich bin kein Mörder. Ich will keinen Mord begehen, auch Selbstmord nicht.« Auch hier konnte ich ihr sagen, daß ich sie sehr gut verstehe. Ich freue mich, daß sie mich noch erkennt. Ihre innere Welt wird enger. Ihre Erinnerungen kreisen meistens um die Kindheit in der Eifel. Aber sie erkennt mich noch, und weil die Naturland schaften für sie jetzt wichtig sind, weil das ihre Umgebung in der Eifel war, erinnert sie sich jedesmal an unsere Spaziergänge im Ostpark in Frankfurt, wo große Gänse über das Feld wackeln. Ich werde jetzt in der Drogerie Fotos von meinem Handy mit diesen Gänsen ausdrucken und ihr schicken. Heute war sie gesammelt, viel weniger zerstreut und unsicher als letztes Mal. Das einzige, was sie falsch gesagt hat, war, daß sie über eine Erinnerung zuerst korrekt »voriges Jahr« sagte, sich aber danach korrigierte: »Nein, dieses Jahr, das Jahr ist noch nicht zu Ende.«

Unter Kollegen – Es wäre natürlich falsch zu sagen, daß Elke vom Literaturbetrieb übersehen worden sei. Die Liste ihrer Preise zeugt von der tatkräftigen Bewunderung vieler Kollegen. Über den Büchner- Preis 2020 hätte man sagen können: zu spät, aber niemand kam auf die Idee. Dieser Preis war für viele Generationen Lyriker, auch für die neugeschlüpften, eine Bestätigung und Ermutigung. Äußerst selten kann man sagen, daß ein Preis zugleich an eine Gemeinschaft verliehen worden sei. In diesem Fall – ja.

Übersetzung – »Liebe Olga, eben, da ich bei Mandelštam wieder auf ›tverd‹ treffe, denke ich, wenn man die etymologische Herkunft von tverdynja bekäme, also das auftun könnte, das da, hatte ich einen Moment das Gefühl, mit dem Fuß in das Vergangene zu treten – auf einen Fußbreit zwischen grauem unschuldigen Gefels (ich beneide die Ziegenhüfchen …), und war ›zutiefst‹ erfreut. (Wie das Wort Feste bei mir steht, kann es bleiben, habe gegugelt. Und diese, so davon gelehrt reden, doch wieder auf einem unsicheren Befund, als gingen sie in Himmelsnebeln, diesmal, die Schriftgelehrten. Schafblöken, Hunde-rough-rough, Ziegernmeckern dagegen ist unübertrefflich semantisch stabil, nicht? Einen Morgengruß Euch! Elke« (24. März 2011)

Vogel – Elke ist bei uns in Frankfurt. Wir übersetzen einen Text, sind gerade in zwei verschiedenen Räumen mit dem Lesen und Kommentieren von bereits fertigen Stellen beschäftigt. Ich höre, wie Elke in die Küche geht, um ein Glas Wasser zu holen, und einen Satz aus dem Text laut spricht. Dann geht sie zurück und spricht diesen Satz in einer anderen Variation. Später schrieb Oleg Jurjew: »Sich in einem Raum mit der arbeitenden Elke Erb zu befinden, ist wie mit einem kleinen, leisen, unermüdlich zwitschernden, wispernden, klappernden – schlagenden! – Vogel in einem Raum eingeschlossen zu sein.«

Wende
– Ich habe mehrmals geschrieben, daß ich es für literarisch irrelevant halte, wenn die Literaturkritik Elkes Herkunft aus Ostdeutschland betont. Sie hat ihre Kindheit in der Eifel als nicht weniger prägend empfunden (vielleicht sogar als prägender), eine gewisse ihr eigene Schroffheit, einen frechen Witz bezeichnete sie manchmal als mosel-rheinisch. Aber natürlich war die DDR Teil ihrer Geschichte, die sie keinesfalls verneint oder geleugnet hätte. Das Ende der DDR war für Elke mit dem Anfang ihrer Freundschaft mit Friederike Mayröcker verbunden. So beschreibt sie das (in »Unschuld, du Licht meiner Augen«, Göttingen 1994): »Jetzt möchte ich durch den Dschungel, dachte ich im Dezember 1990, und alsbald fragte mich Torsten Ahrend vom Reclam-Verlag, ob ich eine Auswahl aus dem Werk Friederike Mayröckers herausgeben möchte. Im Januar 1991 besuchte ich sie, sie schenkte mir eine Tasche voll ihrer Bücher, und ich blieb von da an in deren Gesellschaft. (…) Die Gesellschaft der Texte Friederike Mayröckers kam anstelle des ›Dschungels.‹«
Erst jetzt, nach Elkes Tod, sehe ich, daß es eine erstaunliche Parallelität gibt: Für mich Waren Elke Erb, ihre Texte, ihre Gespräche, ihr Witz, ihr Eigensinn der eigentliche Anfang von Deutschland und der deutschen Sprache, wie Mayröcker für Elke der eigentliche Anfang des Lebens nach der Wende war.

»Wußte das X davon?«

»Wußte das Y davon?«

»Wußte das Z davon?«

 

SINN UND FORM 4/2024, S. 555-560