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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-74-4

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Leseprobe aus Heft 6/2023

Canetti, Elias

»Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«
Briefwechsel mit Theodor W. Adorno


Ein Vulkan an Ressentiment.

Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti

Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist.

Das Ereignis, das die Korrespondenz begründet, ist Adornos Einladung, Canetti möge an der Frankfurter Universität über einen frei gewählten Komplex aus seinem philosophisch-anthropologischen Lebenswerk »Masse und Macht« (1960) sprechen, an dem er etwa ein Vierteljahrhundert im Exil gearbeitet hatte. Als er »Das Chaos der Größe« vorschlägt, wünscht Adorno sich angesichts des universitären Publikums einen Titel, der etwas mehr »down to earth« ist, und so wird »Macht und Überleben« daraus.

Canetti reist am 17. Februar 1962 an, er liest und diskutiert im Vorlesungssaal zwei Tage später vor Adorno, seinen akademischen Schülern und studentischem Publikum, wiederum zwei Tage später führen die beiden das bekannte und mehrfach abgedruckte Rundfunkgespräch über »Masse und Macht« am 21. Februar 1962, aus der Korrespondenz ist das genaue Datum zu entnehmen (bisher wurde es meist falsch auf März 1962 datiert). Abgesehen von den beiden Terminen gibt es wenige Treffen: Gretel und Theodor W. Adorno laden Canetti zum Abendessen ein, Adorno empfiehlt seinem Gast die eigenen Schriften und schickt ihn in Frankfurter Antiquariate. Es geht vor allem um die »Dialektik der Aufklärung« (1947), zu diesem Zeitpunkt nicht im Handel, und die Frage nach möglicherweise parallelen Gedankengängen. Canetti bedankt sich im März 1962 artig bei Frau Gretel und bei Adorno, sie wechseln noch zwei geradezu freundschaftlich klingende Briefe, in denen es vor allem um die kulturkritischen »Prismen« (1955) und ihre Aufnahme in Großbritannien geht, damit bricht die Korrespondenz ab.

Sie steht in einem größeren Zusammenhang, der sich von der Canetti-Seite her umfassend darstellen läßt, auf Adornos Seite bestätigen sich die raren Erwähnungen Canettis im veröffentlichten Werk auch in seiner Korrespondenz. Er hat sich nie so recht auf den anderen eingelassen; das berühmte Radiogespräch der beiden ist auch schon als Beleg für Adornos Autismus gesehen worden, er kreist in seiner eigenen Begriffswelt, obwohl seine Rolle die des Interviewers hätte sein sollen. Dabei war sein Einstieg in Canettis Werk ein sehr persönlicher: Seine Frau Gretel Karplus war eine entfernte Cousine der österreichischen Malerin Marie-Louise von Motesiczky (1906 –1996), einer Schülerin Max Beckmanns; die schmale (unveröffentlichte) Korrespondenz zwischen Adorno und Motesiczky (»Piz«) zeigt, wie engagiert sie versucht hat, ihn mit Canetti zusammenzubringen. Adorno war wohl auch nicht ganz unempfindlich gegenüber diesen Versuchen; eine der wenigen Nennungen Canettis scheint ihr zuliebe erfolgt zu sein – in dem Programmheftbeitrag »Bilderwelt des Freischütz« (1961) verweist er auf den Wald, der in »Masse und Macht« als das »Massensymbol der Deutschen« benannt wird.

Motesiczky war jahrzehntelang Freundin, Geliebte und Mäzenin von Elias Canetti, wie er aus Wien nach London geflohen. Die Korrespondenz der beiden ist 2011 unter dem Titel »Liebhaber ohne Adresse« erschienen, herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. Hier ist nachzulesen, daß Motesiczky 1961 mit den Adornos einen Sommerurlaub in Sils Maria verbracht hat, und sie hat auch vorher schon für Canettis Werk geworben. Sie schreibt ihm, Adorno stehe »gemischt« zu »Masse und Macht« und wolle seine Vorbehalte nur mit Canetti selbst diskutieren, tatsächlich hat Adorno ihr von einer Verwandtschaft zu Teilen der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben, von »frappierenden Übereinstimmungen« gar. Ihr Eindruck ist, es handle sich dabei nicht um eigentliche Einwände, sondern um Prioritätsfragen. Er solle doch bitte Adorno keine Absage schreiben, solange sie mit ihm und seiner Frau in Sils sei (16. August 1961). Canetti hat da schon zugesagt, nach Frankfurt zu kommen, wenn auch ein Semester später als ursprünglich gewünscht, und er antwortet seiner Geliebten etwas stachelig, sie schaffe einen »Vulkan an Ressentiment« in ihm – falls Adorno in Einzelheiten auf anderen Wegen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sei, bestätige das doch nur seine Ergebnisse und auch seine Selbständigkeit, schließlich kenne er Adornos soziologische Schriften nicht und sei überhaupt der Soziologie ausgewichen (18. August 1961).

Canetti fliegt also bereits mit gemischten Gefühlen nach Frankfurt; in seinem Nachlaß gibt es in einer Adorno-Aufzeichnung die Bemerkung, er sei seit Jahren keinem geistigen Menschen begegnet, mit dem er wirklich habe sprechen können, er bewunderte einzelne Formulierungen in den »Prismen«, sah die umfassende Bildung Adornos und die Leichtigkeit, mit der er sich in Systemen bewegte – all dies trotz des eingepflanzten Ressentiments. Aber seine Einschätzung muß schnell gekippt sein, gleich während des Frankfurter Aufenthalts; er war mit den Veranstaltungen nicht einverstanden, ärgerte sich über Fragen des akademischen Publikums, das er gut abgerichtet fand. Adornos Gesprächsführung im Funk schien ihm perfid, weil sein Gesprächspartner wieder mit der »Dialektik der Aufklärung« ankam, von der er wußte, daß Canetti sie nicht kannte, wohl auch nicht kennen konnte – vor 1969 gab es nur die Exil-Ausgabe im Amsterdamer Querido Verlag (1947), in einer niedrigen Auflage. Obendrein spricht Adorno vom »Skandalon« der »Subjektivität des Ansatzes« von »Masse und Macht« ein Buch, das sich mit seinem anthropologischen Zugriff in der Tat trotz des wissenschaftlichen Gebirges, auf dem es steht, durch einen antiwissenschaftlichen Gestus, ein Denken in Bildern und seinen Essayismus auszeichnet. Mindestens der letztere dürfte aber Adorno nicht fremd gewesen sein.

Es ist also schon nachvollziehbar, daß Canettis Einschätzung seines Gegenübers rasch ins Negative kippt. In einer Aufzeichnung, die auf 1962 datiert ist und die Canetti nach Adornos Tod in »Die Provinz des Menschen« (1973) veröffentlicht hat, heißt es:

»Er spielt auf zu vielen Instrumenten zugleich. Aber Denken ist nicht Komponieren. Im Denken wird etwas rücksichtslos auf die Spitze getrieben. Der Prozeß der Erkenntnis besteht vorerst darin, daß alles über Bord geworfen wird, um rascher und leichter an das eine geahnte Ziel zu gelangen. A. kann nichts über Bord werfen. Er schleppt sich immer ganz mit. Er gelangt nirgends hin. Alles, was er weiß, ist ihm immer gegenwärtig. Er pocht an alle Türen und tritt nirgends ein. Da er gepocht hat, glaubt er, er ist dort gewesen.«

Nun war das Rundfunkgespräch für die Rezeption von »Masse und Macht« durchaus von einiger Bedeutung; im Jahr der deutschen Erstausgabe war zu Canettis tiefer Enttäuschung sein erklärtes Hauptwerk versunken, fast ohne öffentliches Echo. Sein Buch kam über den Umweg des Erfolgs der englischen Übersetzung zu seiner großen Wirkung im deutschen Sprachraum, und ein weiterer Treppenstein dorthin war das Adorno-Gespräch – die erste deutsche Verlegerin, Hilde Claassen, hat das offensichtlich erkannt. Und es gab eine weitere Einmischung Adornos, die für Canetti wichtig war: Sein Stück »Hochzeit« (1932) erlebte am 3. November 1965 in Braunschweig seine Uraufführung, die einen Skandal zur Folge hatte. Autor und Theater wurden wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses, vulgo Obszönität, denunziert, die Staatsanwaltschaft ermittelte und stellte noch im Dezember 1965 das Verfahren ein, es wurde keine Anklage erhoben. Das Theater hatte eine Reihe von Prominenten um Stellungnahmen gebeten, die auch in großer Zahl kamen, darunter von Fritz Bauer und Hermann Kesten, Erwin Piscator, Hilde Spiel, Peter Weiss, die grundsätzlichste Einlassung kam von Theodor W. Adorno. Er wies sich als genauer Kenner des Werkes von Canetti aus, »und zwar des sehr bedeutenden wissenschaftlichen (›Masse und Macht‹) ebenso wie des dichterischen (das Hauptwerk ist ›Die Blendung‹)«. Die Vorwürfe des anonymen Denunzianten – seiner Argumentation nach ein autoritärer Charakter – seien lächerlich, das Stück verdiene als Verbindung zwischen Expressionismus und absurdem Theater größtes Interesse und sei in seiner moralischen Absicht ganz unzweideutig: »Wer an diesem Stück Ärgernis genommen hat, der muß schon gekommen sein, um Ärgernis zu nehmen.«

Adorno hatte schnell reagiert, er mußte sich für seine Stellungnahme offenbar nichts neu anlesen, weil er große Teile von Canettis bislang erschienenem Werk kannte – mindestens so gut, daß es für eine solche Stellungnahme ausreichte. Daß er im letzten hier abgedruckten Brief zur Anrede »Lieber Herr Canetti« übergeht und sich wünscht, daß »der Kontakt zwischen uns nicht abreißen soll«, war also vermutlich doch ganz ernst gemeint, entsprechende Äußerungen gibt es auch in Adornos Briefen an Marie-Louise von Motesiczky (wo er von unvergeßlichen Tagen schreibt und der Hoffnung, ihn bald wiederzusehen). Canetti erwidert diese Anrede nicht, und auch die Stellungnahme zu »Hochzeit«, so wichtig sie für ihn in der Situation selbst gewesen war, änderte seine kritische Haltung nicht; er blieb auf Distanz. Durch die Verbindung über Motesiczky haben sich die beiden noch ein paarmal gesehen, etwa 1965 in Paris (vor der Uraufführung); in seinen Aufzeichnungen mokiert Canetti sich über die Weltfremdheit des Philosophen, der hinter jeder Frau, mit der er gern spreche, eine literarische Figur sehe: »Es ist klar, daß er von keinem wirklichen Menschen eine Ahnung hat«, seine einzige Leidenschaft sei sein Ehrgeiz. »Ein Denker, der von nichts Konkretem ausgehen kann, ist für mich keiner, und ein einziges Fragment von einem griechischen Philosophen, von dem sonst nichts besteht, ein einziger Satz ist mir mehr als die ganzen Werke des lebenden Adorno.«

Im Zuge der Recherchen für sein Kafka-Buch »Der andere Prozeß« (1968) las Canetti Adornos »Aufzeichnungen zu Kafka« (1953), ebenfalls 1955 in die »Prismen« aufgenommen. Diesen Text ertrug Canetti offenbar nicht mehr; die meisten seiner Sottisen sind in dem Band »Prozesse. Über Franz Kafka« (2019, herausgegeben von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger) veröffentlicht worden. Adorno habe »Kafka auf sein schmuckes Rad geflochten«, es »ist, als hätte ein Tintenfisch nach Kafka gegriffen«; er habe »sprachliche und gedankliche Elemente von Kraus, Kierkegaard, Freud, Marx, Proust und Gott weiß was noch« hineingebracht, der »abscheulichste Eklektizismus, ein geistiger Snobismus«, und er schwört sich: »nie wieder Adorno!« Daß ihm die »Aufzeichnungen über Kafka« im Weg gewesen sein könnten, weil es tatsächlich Berührungen mit eigenen Gedankengängen gibt, zeigt sich indirekt in einem Gespräch, das Heinz-Klaus Metzger 1967 mit Canetti geführt hat.

Dabei wird es bleiben; Canetti beobachtet Adornos Leben aus der Ferne, es finden sich noch einige einfallsreiche Schimpftiraden in seinen Aufzeichnungen 1969, danach werden sie seltener und knapper, kaum mehr als kurze Bemerkungen. Daß sich Adornos Studenten im Zuge der Achtundsechziger-Revolte gegen ihn aufgelehnt haben, verzeichnet Canetti mit leiser Genugtuung, nicht einmal Adornos Tod wenige Monate später ruft eine Revision der harten Urteile hervor, wenn sie auch lakonischer werden. Die wenigen vom Autor selbst veröffentlichten sind anonymisiert (»A.«), wie er ihn auch zu Lebzeiten nie offen kritisiert hat. Canettis Tiraden sind mitunter treffsicher, strikt subjektiv und polemisch, und sie bewegen sich auf einer schmalen Basis: Er hat Adorno ein paarmal erlebt, hat wenige Jahre äußerst freundlich mit ihm korrespondiert, wie hier nachzulesen ist, und er hat ihn – (fast) nicht gelesen. Auch aus dem Nachlaß wird nicht klar, ob er mehr kannte als die »Prismen«, nicht einmal die »Dialektik der Aufklärung« erscheint als gelesenes Buch in den Nachlaß-Notizen, der »Jargon der Eigentlichkeit« (1964) bloß als Schlagwort, ganz zu schweigen von den Komponisten-Monographien oder Hauptwerken wie der »Negativen Dialektik« (1966) oder der postum erschienenen »Ästhetischen Theorie« (1970). Ob es nun Parallelen zwischen der sich selbst erhaltenden Vernunft, die Adorno in seinem Gespräch mit Canetti für die »Dialektik der Aufklärung« reklamiert, und der Figur des Überlebenden (»Masse und Macht«) gibt, ist ein großes Thema, über welches das Lesepublikum selbst entscheiden möge – dazu braucht es mehr als ein paar Seiten.

Sven Hanuschek

SINN UND FORM 6/2023, S. 790-810, hier S. 790-793

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