
[€ 11,00] ISBN 978-3-943297-58-4
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Leseprobe aus Heft 2/2021
Bürger, Christa
Widersagung
Das »Portrait de Mme la Marquise de Sévigné«, mit dem Marie-Madeleine de la Vergne, Comtesse de La Fayette, in die Geschichte der Literatur eingetreten ist, geschrieben auf Bitten der Duchesse de Montpensier für deren Sammlung, unter dem Namen eines »Inconnu«, eines Unbekannten, ist eine Grenzüberschreitung eigenen Rechts. Es will nicht idealisieren, wie der Rahmen des höfischen Divertissements, den die Auftraggeberin vorgegeben hat, eigentlich vorschreibt: es will abbilden. »Vermittels des Privilegs, daß ich für Sie, Madame, ein Unbekannter bin, will ich Ihnen reinen Wein einschenken, ganz wie es mir gefällt.« In diesem scheinbar unscheinbaren Text setzt Madame de La Fayette ihr Bedürfnis nach Wahrheit durch. Aber in einer Welt des Scheins, die sich die Wirklichkeit zum Theater macht, verkleidet sie die Wahrheit in eine für ihre Umgebung leicht zu entschlüsselnde Travestie – und verkehrt damit das in der zeitgenössischen Tragikomödie beliebte Spiel des Täuschens mit der Wahrheit. Das Inkognito erlaubt ihr zu sagen, was die Konvention zu verbergen gebietet: ein Herz, das seine Zärtlichkeit offen zeigt. So schimmert durch den Schein die Wirklichkeit einer gelebten Liebe durch.
»Sie sind von Natur aus zärtlich und leidenschaftlich, aber zur Schande unseres Geschlechts ist Ihnen diese Zärtlichkeit nicht von Nutzen gewesen, und Sie haben sie in Ihrem eigenen verschlossen gehalten, indem Sie sie Mme de La Fayette zugewendet haben.« In dem wahrscheinlich letzten ihrer zahlreichen Briefe an die Freundin kommt jene Wahrheit unverstellt zum Ausdruck, Liebesbekenntnis und Vermächtnis in einem: »Glauben Sie mir, Liebste, daß Sie diejenige sind, die ich auf der ganzen Welt am wahrhaftigsten geliebt habe.« Der pathetische Satz entzieht sich der Eindeutigkeit, die ihn zum Vermächtnis und /oder Liebesgeständnis machen würde. Denn er kann sich ebenso gut auf den Grad der Liebe beziehen wie auf deren Wesen. Mme de Sévigné versteht ihn vollkommen. »Man muß ihr aufs Wort glauben«, schreibt sie ihrer Tochter, Mme de Grignan. Und was das bedeutet in einer vom Schein und von der Verstellung beherrschten Welt, hat die Marquise erfahren. Die Liebesfreundschaft dieser beiden grandes dames des 17. Jahrhunderts – hätten sie ihr eine eigene Wirklichkeit gegeben, so hätte diese den herrschenden Code der Liebe, der ein männliches Subjekt des Begehrens und ein weibliches Objekt zueinander in ein Machtverhältnis setzt, überschreiten müssen. Denn sie gehört zu einer anderen Ordnung. Für Mme de La Fayette ist Marie de Rabutin-Chantal, die Enkelin der heiligen Jeanne de Chantal, der Gründerin des Ordre de la Visitation, die verkörperte Freude, für Mme de Sévigné ist die Freundin eine im Zeichen der Melancholie Geborene, deren Wesen sie, wenige Wochen nach ihrem Tod, in einem einzigen fast ungrammatischen Satz zusammenfaßt: »Elle avait une tristesse mortelle.« Sie hatte eine tödliche Traurigkeit, wie man eine unheilbare Krankheit hat. Es ist diese Traurigkeit, die sie verbindet mit dem ebenso melancholischen Freund, dem Moralisten La Rochefoucauld, dem enttäuschten Frondeur, und mit den Solitaires, den Einsamen von Port Royal, zu denen Pascal gehört. Dessen »Gedanken« kreisen um die »misère de l’homme sans Dieu«, das Elend des gottlosen Menschen, der, ein »denkendes Schilfrohr«, ewig zweifelnd am Sinn des Daseins, in die Imagination, den Schein und die Zerstreuung flüchtet. So traurig seien die Gespräche der Freunde, schreibt Mme de Sévigné ihrer Tochter, »daß sie wohl am besten täten, sich gleich begraben zu lassen«. Gerade in dieser Melancholie jedoch gründet ein Werk, mit dem die Geschichte des modernen Romans beginnt.
Mme de Sévigné erinnert sich an viele Jahre ungetrübter Zuneigung. »Ich war mir immer sicher, daß ich ihr liebevollster Trost war, und seit vierzig Jahren ist es so gewesen (…) darauf beruht auch die Wahrheit unserer Verbindung.«
In diesen Jahren hat Mme de La Fayette eine ihrem Stand entsprechende Heirat gemacht – mit einem fast zwanzig Jahre älteren Mann –, zwei Söhne zur Welt gebracht, danach das Stammhaus von Monsieur de La Fayette, das Château d’Espinasse en Bourbonnais, verlassen und sich in ihrem Stadthaus in der Rue de Vaugirard in Paris eingerichtet. Seit früher Jugend kränkelnd, zieht sie sich bald aus dem Hofleben zurück und beschränkt sich auf den auserlesenen Kreis von Freunden, der sich in ihrem Salon versammelt, außer dem Schriftsteller und Gelehrten Ménage, ihrem Lehrer, Freund und Mitarbeiter, Mme de Sévigné und La Rochefoucauld noch einige geistliche Berater aus dem Umkreis von Pascal und Port-Royal. Sie lernt, angeleitet von Ménage, Latein, liest mit ihm die Romane von Mlle de Scudéry, vor allem die »Clélie« mit der »Carte de Tendre«, einem beliebten Gegenstand der Salongespräche der Zeit. Descartes hat sie offenbar nur vermittelt über ihre Tochter zur Kenntnis genommen. Aber mit seinem Brief an die Prinzessin Palatine, die von dem Philosophen Antwort verlangt auf die Grundfragen des Lebens, wäre sie wohl einverstanden gewesen: »Da ich sehe, daß die Wahrheit zu kennen eine größere Vollkommenheit darstellt, selbst wenn sie unserem Interesse zuwider ist, als die Ignoranz, gebe ich zu, daß es besser ist, weniger froh zu sein und dafür umfassendere Kenntnisse zu besitzen.« (Descartes an Elisabeth, 6. Oktober 1645)
Mme de Sévigné hat das nicht so gesehen: »Ich weiß nicht, ob es nicht besser ist, nicht soviel Geist zu haben wie Pascal, als dessen Unbequemlichkeiten hinzunehmen.« Sie erörtert diese Maxime in einem Brief an Mme de Grignan, die sie mit einem unüberhörbar blasphemischen Beiklang gelegentlich als geistige Tochter Descartes’ anredet.
Mme de La Fayette jedenfalls will wissen, auch wenn die Erkenntnis für sie unangenehm sein könnte. Sie will wissen, ob ihre tristesse zur condition humaine gehört oder ob sie sich aus der Verfassung der Gesellschaft, in der sie lebt, erklären läßt. Um das zu erforschen, geht sie mit geradezu cartesianischer Rationalität vor. In ihrem Nachruf rühmt Mme de Sévigné diesen Charakterzug der Freundin, ihren Willen zur Wahrheit und zum Wissen. Diese »göttliche Vernunft« setzt Mme de La Fayette in Gang, um zu ergründen, ob es unter der Herrschaft des Scheins eine Liebe geben kann, die dem Begriff des Wortes entspricht, und ob sie, wenn sie sich ereignet, verwirklicht werden kann.
Den Untersuchungsgegenstand hat das Leben selbst ihr zugeführt in Gestalt der jungen Henriette d’Angleterre, die im französischen Exil Monsieur geheiratet hat, Philippe d’Orléans, den Bruder Ludwigs XIV. Ihre Autorschaft gilt nur als wahrscheinlich; aber gesichert ist, daß die »Geschichte Henriettens von England « ein Auftrag der Prinzessin ist, von dem eine knappe Vorbemerkung berichtet. »Ich nahm diesen Gedanken mit Vergnügen auf und wir machten einen Plan für unsere Geschichte.«
In diesem Experiment ist die Autorin klarsichtige Beobachterin und zugleich teilnahmsvolle Vertraute in einer Tragödie, die nach einer unerbittlichen Logik abläuft. Henriette, Tochter des enthaupteten englischen Königs, Schwester seines Nachfolgers Charles II., Schwägerin des »Sonnenkönigs« und durch ihre Schönheit und Grazie Mittelpunkt von dessen Festveranstaltungen, aber auch erfolgreiche Unterhändlerin eines französisch-englischen Vertrags, ist in all diesem Glanz zugleich Gefangene eines undurchschaubaren Labyrinths der Gefühle, aus dem ein schreckensvoller plötzlicher Tod sie erlöst.
Ein hartnäckiges Gerücht will, daß sie vergiftet worden sei. Die mit dem analytischen Interesse einer Ethnologin die Schritte der Freundin verfolgende Erzählerin läßt nichts aus. Sie setzt ein mit einem Portrait von Monsieur: »Er war schön und gut gewachsen und von einer Figur, eher einer Prinzessin als einem Prinzen angemessen. Auch hatte er sich immer mehr darum gekümmert, daß jedermann seine Schönheit bewunderte, als sich ihrer zu bedienen, um den Frauen zu gefallen. (…) Seine Eigenliebe schien ihn zu keiner anderen Bindung als an sich selbst zu befähigen.«
Als Vorausdeutung auf das Eheschicksal Henriettes gelesen, läßt das Porträt die zur Schau getragene Liebe des Herzogs zu seiner jungen Frau als höfische Maske erscheinen. Er beherrscht das Hofzeremoniell: »Monsieur ging ihr entgegen mit aller denkbaren Aufmerksamkeit, und bis zu seiner Heirat erfüllte er ihr gegenüber alle seine Pflichten, denen es nur an einem mangelte, der Liebe.« Es ist dies in der »Histoire« die einzige Stelle, wo das Wort amour vorkommt – als das, was fehlt. Das Liebesverhältnis, das Madame – dies ist der Titel, der Henriette als Schwägerin des Königs zukommt – mit dem favori von Monsieur eingeht, dem Comte de Guiche, steht daher auch im Zeichen der Illusion und der Täuschung.
Parallel zu dieser Geschichte erzählt Madame de La Fayette von den Amouren des jungen Königs, dessen erste Liebe Henriette gewesen ist. […]
SINN UND FORM 2/2021, S. 188-202, hier S. 188-191