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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-54-6

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Leseprobe aus Heft 4/2020

Köpp, Ulrike

Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR


Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand wiedererkannt, die mir aus DDR-Zeiten so vertraut war. Dabei befand ich mich doch in dem Raum mit der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und die »Tritonen und Najaden«, die sich da am Meeressaum ergingen, waren von Max Klinger. Ein Mann und eine Frau liefen ins Meer, zwei Liebende, den Rücken zum Betrachter gekehrt, vor ihnen ließ sich eine Frau ins Wasser fallen. Alle Bewegung auf diesem Bild rührte von dieser Menschengruppe in seiner Mitte her. Denn im Blaugrün des Wassers war nicht eine Welle auszumachen. Allenfalls der Struwwelkopf des Kindes, das auf dem linken Oberarm des Mannes saß, ließ eine Brise ahnen, aber vielleicht war sein Haar auch nur von dem Schwung bewegt, mit dem der Vater es hochgehoben hatte. Rechts im Bild standen zwei Frauen und ließen ihre Blicke ins Weite schweifen, links hatte der Maler drei weibliche Figuren gruppiert, die eine sitzend, die beiden anderen, ihren Oberkörper auf den Arm gestützt, im Wasser liegend. Träge, wie hingegossen auf eine Wiese. Es war die Sinnlichkeit des Leibes, die Klinger dem Betrachter vor Augen führte. Er hatte die »Tritonen und Najaden« 1884/85 für den Fries in einer Villa bei Berlin gemalt, sie waren sein lebensreformerisches Programm, ein Gegenentwurf zur Körperfeindlichkeit und Prüderie seiner Zeit. Mit seiner arkadischen Landschaft brachte Klinger auch die Sehnsucht nach einem vom Kampf der Geschlechter befreiten und ebenbürtigen Umgang von Mann und Frau zum Ausdruck. In mir aber rief sein Bild andere Bilder wach, Willy Sittes kraftvolle Männer und Frauen und Liebespaare, die mit ihrer ungezügelten Sinnlichkeit ein irdisches Glück priesen. Ein Strandbild von Werner Tübke kam mir in den Sinn, mit dem Gewimmel von Nackten und Halbnackten, deren Körper sich zu einem einzigen Wirbel verbanden und die dabei doch ganz bei sich selbst blieben. Wo Klinger seine Darstellung nackter Leiber noch mit mythologischen Namen rechtfertigen mußte, nobilitierte Tübke mit seiner altmeisterlichen Kunst die Ungeniertheit der Leute und verlieh ihnen die Würde von Renaissance- und die Sinnlichkeit von Barockmenschen.
Um die DDR als Paradies der Nacktbadenden ranken sich Legenden. So geht die Mär, die Bürger hätten sich im Widerstand gegen die SED ihre Freiheit am Strand erkämpft. Zwar gab es anfänglich Verbote und Restriktionen gegen Freikörperkultur, letztlich war es aber genau umgekehrt: Die Freiheit zum Nacktbaden verdankte das Volk der DDR den Genossen.
Wenn die VP, die Volkspolizei, Anfang der fünfziger Jahre Badewiesen und Strände auf die Einhaltung des Verbots kontrollierte, mußte sie die Nackten nicht selten als die ihren identifizieren. Die Anhänger der Freikörperkultur, die etwa am Waldteich bei Moritzburg »gewohnheitsmäßig« zusammenkamen, seien zum größten Teil Mitglieder der SED gewesen, berichtete die sächsische Landesbehörde nach einer Personenfeststellung im August 1950 an die Hauptverwaltung der VP in Berlin. Die Genossen hätten zudem darauf hingewiesen, daß das Nacktbaden anderswo im Land erlaubt sei, auf der Insel Rügen und überhaupt an der Ostseeküste wie auch an den um Berlin gelegenen Seen. Eine der »festgestellten Personen« sei der Professor Ludwig Renn gewesen, der sich in der Angelegenheit an die »Deutsche Demokratische Regierung« wenden wolle. In der Volkspolizei herrschte Verwirrung, das VP-Kreisamt Teltow faßte im Herbst 1951 die Lage an den südlich von Berlin gelegenen Seen zusammen: »Übersichtlich gesehen« seien die Ermittlungen »schwieriger Natur« gewesen, denn man sei zumeist auf Personen getroffen, »die der Freikörperkultur sympathisch gegenüberstehen und überdies zum großen Teil Genossen unserer Partei sind«. Nicht anders als in Ahrenshoop oder an den Volkersdorfer Teichen bei Dresden hatten sich auch im Umland von Berlin nach dem Krieg wieder Sozialdemokraten und Kommunisten eingefunden, die dort bereits in den zwanziger Jahren in der linken Gruppe »Fichte«, im Arbeitertourismusverein »Die Naturfreunde« oder im »Bund Freier Menschen« nackt gebadet hatten. Oft waren es jene Mitglieder der SED, die jetzt die maßgeblichen Positionen in Partei und Staat besetzten. Sie waren also vom selben Stamm wie die Polizisten, die sie am Strand kontrollierten.
Der von der sächsischen VP festgestellte Ludwig Renn, Professor für Kulturgeschichte und Vorsitzender des Sächsischen Kulturbunds, gehörte freilich nicht zu den frühen Lebensreformern, sondern war auf anderem Wege zum Nacktbaden gekommen. Als geborener Vieth von Golßenau hatte er als Junge schwer unter der seelischen Kälte und den ständischen Reglements seines Elternhauses gelitten. In seiner Einsamkeit suchte er nach anderer Zugehörigkeit und fand sie als Offizier im Ersten Weltkrieg. Er fühlte sich verantwortlich für seine Soldaten, in der Begegnung mit gebildeten wie ungebildeten Arbeitern und den analphabetischen Bauern schärfte sich sein sozialer Sinn. Sein Entsetzen angesichts des kriegerischen Gemetzels verwandelte sich in Empörung gegen die deutsche Generalität. Als sich dem adligen Offizier zum Kriegsende nicht wenige seiner Soldaten als Sozialdemokraten zu erkennen gaben, weitete sich sein politischer Horizont, obgleich er die Wirren der Novemberrevolution noch kaum verstand. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau will die hinter ihm liegenden Erfahrungen schreibend verarbeiten, nimmt für einen Sommer Quartier in einem Dorf im Elbsandsteingebirge. Ein Gebüsch am Fluß wird seine Klause zum Schreiben. Dort legt er seine Kleider ab, setzt seinen nackten Körper der Sonne aus und versucht, »auf eine fast verkrampfte Weise, dem gewöhnlichen Volk ähnlich zu werden«. Und wird der Schriftsteller Ludwig Renn.
Wiewohl Renn sich das Nacktbaden also nicht von anderen Lebensreformern abgeguckt hat, bricht er doch wie diese mit seinem bisherigen Leben. Er findet Anschluß an den »Bund Freier Menschen« in Sachsen, reist durch Europa, immer »von Enttäuschung zu Enttäuschung«, kehrt nach Deutschland zurück und schließt sich den Kommunisten an. In Berlin findet er endlich zur »Fichte«. Er hält Vorlesungen über Militärgeschichte in der MASCH, der Marxistischen Arbeiterschule, und gibt seine militärischen Kenntnisse auch im Rotfrontkämpferbund weiter, denn die Arbeiter wollen lernen, sich gegen den aufziehenden Faschismus zu verteidigen und für eine Revolution zu wappnen. Mit »Fichte« hatte Renn seine Lebensform gefunden. Die Organisation unterhielt um Berlin herum auf gepachteten oder gekauften Grundstücken Zeltplätze. Dort verbrachten Arbeitslose, die sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten, die Sommer, aber auch Intellektuelle und Künstler suchten hier am Wochenende Erholung. Man spielte Ball und trieb Gymnastik, traf sich im Lesezirkel zum Diskutieren und badete selbstverständlich nackt. Ludwig Renn tat sich zudem mit seinen arbeitslosen Zeltnachbarn zu einer Eßgemeinschaft zusammen, zu der er Lebensmittel beisteuerte. Es muß der Zeltplatz in Nassenheide gewesen sein, zumindest passen Renns Erinnerungen genau zu denen des Schauspielers Erwin Geschonneck. Dieser nämlich gehörte zu den Arbeitslosen, die zweimal die Woche mit dem Fahrrad von Nassenheide im Norden »zum Stempeln« nach Berlin fuhren, um sich ihre Arbeitslosenunterstützung zu holen. Für den aufgeweckten jungen Proletarier »gehörte es sich«, damals in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, aus der Kirche auszutreten, zu politischen Demonstrationen zu gehen und im Arbeitersportverein organisiert zu sein. Geschonneck versuchte es zuerst mit den Boxern, ging dann aber zu den Arbeiterwanderern – die schienen ihm geistig reger. In Nassenheide fand er reichlich Zeit zum Lesen und den dazugehörigen Zirkel, in dem er sein Studium der Werke von Karl Marx vertiefte. Von hier aus ging er auch mit den Freunden am Wochenende »auf Fahrt« bis zur Ostsee, und eines Tages wurden die Mitglieder von »Fichte« sogar zum Film gerufen: Sie spielten als Statisten in »Kuhle Wampe«, dem Film von Bertolt Brecht und Slatan Dudow, und Geschonneck sang in der legendären S-Bahn-Szene mit den anderen Jungen »Vorwärts und nicht vergessen, / Worin unsre Stärke besteht!«
Renn erinnerte sich an eine Begebenheit, in der Freikörperkultur als Lebensform zur Weltanschauungsgemeinschaft verdichtet erscheint: Mitglieder von »Fichte« hatten ihn um militärische Schulung im Rahmen ihres Sommerlagers gebeten, er vergatterte die Freunde dazu, splitternackt zu dem verabredeten Waldstück zu kommen und auch kein Blatt Papier mitzubringen, denn so könne sich auch ein möglicher Spitzel keine Notizen machen. Im Fall des Falles wären seine Aussagen vor Gericht also nicht zu gebrauchen. So schützte unverfängliches Nacktbaden politisch höchst verfängliches Tun. Die existentielle Bedeutung seiner Entscheidung für die kommunistische Bewegung aber erhellt der bittere Vorwurf, den Renn in seinen Erinnerungen gegen Sigmund Freud richtet. Der habe mit seiner Psychoanalyse die Menschheit nur »noch tiefer in die Krankheit der Vereinsamung hineingestoßen«, an der sie durch den Kapitalismus ohnehin schon litt. Renn verknüpfte seine Suche nach einer alternativen Lebensform mit der Vorstellung von einer fundamental anderen Gesellschaftsform. Die Szene im Wald macht deutlich, daß das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation keinen Widerspruch zu einer selbstbestimmten Lebensform bildete, in der Nacktheit des individuellen Körpers fand dies nur den sichtbarsten Ausdruck, bei Proletariern wie Intellektuellen bürgerlicher Herkunft gleichermaßen. Nach Nassenheide zog es am Wochenende auch Hilde und Georg Benjamin, von hier fuhr der aus armem jüdischem Milieu stammende Alexander Abusch täglich nach Berlin, wo er sich als Redakteur der »Roten Fahne« zum Intellektuellen mauserte. Er auch gehörte nach 1945 zur politischen Prominenz, die sich an den FKK-Strand in Ahrenshoop verlief.

SINN UND FORM 4/2020, S. 470-483, hier S. 470-473