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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-45-4

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Leseprobe aus Heft 1/2019

Troller, Georg Stefan

Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle.
Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung


MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt?

GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt vollkommen gleichgültig. Ein Soldat, der im Krieg fällt, hat irgendwie seine Pflicht getan oder war Teil eines Verbunds. Der Emigrant hingegen ist isoliert, bestenfalls mit seiner Familie unterwegs, aber sonst hat er niemanden. Er ist ein Einzelwesen, das sich sinnlos vorkommt. Diese Sinnlosigkeit des eigenen Lebens muß man und kann man, wenn man jung ist, überwinden. In meinem Fall waren es die journalistischen Arbeiten, meine Filme und Bücher, die mich mein Leben als halbwegs gerechtfertigt ansehen ließen. Daß die Emigration heutzutage Exil genannt wird, scheint mir die Veredelung einer Sache durch ein schönes Wort zu sein. Wir kannten das Wort gar nicht. Exil, das war Thomas Mann, vielleicht noch Brecht oder Anna Seghers – Leute, die zurückkommen und Deutschland umformen würden. Wir hatten ja keine Idee davon, wir waren überzeugt, daß wir in unseren Ländern, Amerika, Mexiko oder Shanghai, bleiben würden, weil es nichts Besseres gab und weil kein Ruf aus der Heimat kam: »Wir wollen euch zurück.« Die österreichische Sozialistische Partei etwa war zum Großteil von menschenfreundlichen Juden gegründet und geleitet worden. In der Emigration bekamen sie Briefe von den Daheimgebliebenen und neu erwachten Sozialisten, daß sie doch bitte bleiben sollten, wo sie waren, damit man nicht wieder als Judenpartei in Verruf käme. Und wer hätte mich denn gebraucht? Ich hatte mir eine Chance ausgerechnet, in Los Angeles, wo ich damals wohnte, Scriptwriter für Hollywood zu werden. Das hätte ich auch gekonnt, berühmt wäre ich wohl nicht geworden. Und ob ich glücklich geworden wäre, weiß ich auch nicht. Es gab so viele Emigranten, die in Hollywood unterkamen, ich kannte viele. Erich von Stroheim etwa traf ich nach seiner Rückkehr in Europa wieder. Denn auch ich kehrte 1949 aus Europasehnsucht zurück, obwohl alle Kollegen und Kameraden sagten, ich sei meschugge, in dieses zerdepperte deutsche Kulturgebiet zu gehen, wo nichts zu holen sei. Ich werde immer wieder gefragt, ob Frankreich oder Amerika meine Heimat ist: Eine Heimat kann man sich nicht wieder aufbauen, das funktioniert nicht. Man kann einen Wohnsitz und Freunde finden, man kann sich zurechtfinden und seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber Heimat ist da, wo man zum ersten Mal die Welt als etwas wahrgenommen hat, das außerhalb von einem selbst besteht. Heimat ist das Kennenlernen der Umwelt als kleines Kind. Wie uns die Psychologie lehrt, finden die entscheidenden Erfahrungen größtenteils vor dem achten oder zehnten Lebensjahr statt, und diese machst du nur in der Heimat als Zugehöriger. Und so ist dieses Österreich, das mich rausgeworfen hat, doch Heimat, ich kann es nicht ableugnen.

NEUMANN: Sie haben über 150 Reportagen und Filme gedreht, meistens Porträtfilme, die fast immer davon handeln, wie ein Mensch in schwierigen oder hoffnungslosen Situationen zurechtkommt. Wie hat Ihre Jugend, die Sie dann auch in Amerika verbrachten, Ihren Zugang zu diesen Themen geprägt?

TROLLER: Einen Film, der mir besonders am Herzen liegt – »Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht?« –, habe ich 1977 mit einem amerikanischen Vietnam-Veteranen gedreht. Kovic war querschnittsgelähmt, seit seinem 23. Lebensjahr im Rollstuhl, und kämpfte nicht nur gegen den Vietnam-Krieg, sondern allgemein gegen Krieg. Dieser ungebildete Junge, der den Titel seiner Autobiographie »Geboren am 4. Juli« nicht richtig buchstabieren konnte, hatte begriffen, worum es geht: Jeder kann seine Schwächen überwinden. Das ist mir sehr nahegegangen, weil ich mich als Kind nicht mochte und mich als verzweifelten Fall ansah. In Amerika habe ich vor allem gelernt, daß man sich zu einem neuen Menschen ummodeln kann. Die Millers oder Smiths hießen alle ursprünglich Müller oder Schmidt und waren zuvor ganz andere Leute: arme Emigranten, arme Juden, arme Deutsche. Alle waren hoffnungslose Fälle, ohne professionelle Ausbildung. Sie änderten ihre Namen, wurden Amerikaner und schließlich zu anderen, vielleicht auch fähigeren Menschen. Als amerikanischer Student in Kalifornien habe ich mich Steve genannt – George habe ich immer gehaßt. Und Steve war ein anderer, ein interessanter Europäer von irgendwoher, ein Dichter und Frauenliebhaber – Steve kam an. Ich wußte, daß ich das nicht bin, und ging zurück, weil ich wieder ich sein wollte. Diese Möglichkeit der Selbstverwandlung gibt es. Mein verstorbener Bruder zum Beispiel, der in England lebte, hat sich zum Katholizismus bekehrt. Er wurde begeisterter Katholik, hat seine ganze Arbeitskraft und sein Geld der Kirche gewidmet und ist in Frieden mit seinem Gott gestorben. Das war nicht vorgesehen. Auf einmal war er Francis Trent, obwohl er in Wirklichkeit Herbert Troller hieß. Die Möglichkeit, jemand zu werden, der wir sein wollen, haben wir alle – ohne daß wir unbedingt unseren Namen ändern müßten. Mich interessierte in meinen Filmen immer: Wie ziehst du dich am eigenen Zopf aus der Misere? Denn nur du kannst es, andere können höchstens helfen. Und wie die Leute, mit denen ich diese Filme gedreht habe, es geschafft haben, fand ich lehrreich für mich und andere.

NEUMANN: Sie zitieren in Ihrem Erinnerungsbuch sehr eindrücklich Alfred Polgar, der 1938 im Prager Tagblatt über die Lage der österreichischen Flüchtlinge schrieb: »Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet.« Ihre Erlebnisse liegen über siebzig Jahre zurück. Hat sich heute in der Haltung der Leute auf beiden Seiten des Stroms etwas geändert?

TROLLER: Rund um Europa werden überall Mauern aufgerichtet, genau wie damals, und jedes einzelne Land denkt oder sagt offen: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet. Und dann schaue ich mir die Gesichter der Flüchtlinge an, der Frauen und Kinder, der jungen Männer. Sie sehen nicht anders aus als ich und haben dieselben Gefühle. Meistens hatten sie irgendwo ein Haus oder eine Wohnung. Zum Teil hatten sie Arbeit, zum Teil waren sie Intellektuelle. All das ist zerstört oder aufgegeben worden, und jetzt dürfen sie darum bitten, sich als Zimmermädchen oder Straßenarbeiter integrieren zu dürfen. Auch das wird abgelehnt, weil sie zu viele sind. Wie viele sind »zu viele"? In der Schweiz gab es den Spruch »Das Boot ist voll«. Er wurde zu einer Zeit verkündet, als es dort um die fünf Prozent Ausländer gab. Später sagte man, die Obergrenze liege bei 25 Prozent. Nun wird auch diese Zahl schon in manchen Ländern überschritten. Manche fühlen sich fremd in ihrem eigenen Land. Ich habe mal einen Film mit Abbé Pierre gemacht, einem katholischen Geistlichen, der als Apostel der Obdachlosen in Frankreich Tausende von Behelfswohnungen errichten half. Im Krieg war er im Widerstand und hat jüdische Kinder gerettet und über die Grenze gebracht. Er sagte mir: »Wenn die wohlhabende Welt nicht zehn Prozent ihres Einkommens, und das betrifft jeden einzelnen Bürger, abführt, so werden unweigerlich diese Ausgespuckten und Verhungerten der Dritten Welt millionenfach zu uns nach Europa kommen, und was willst du dann tun? Mit Maschinengewehren hineinfeuern?« Er hat vor dreißig Jahren vorhergesehen, was passieren würde.

NEUMANN: Was raten Sie jungen Menschen, was sie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun können?

TROLLER: Noch läuft alles gut. Die Jugend hat Zukunft. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Es kann sich glücklich schätzen, es gibt sehr viel Freiheit und auch Respekt vor der Jugend. Man hört ihr zu und tut etwas für sie. Ganz allgemein bin ich optimistisch. Aber ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt: der Brexit in England, der zunehmende Nationalismus in Österreich, Polen, Ungarn etc. Irgendwie kommt da etwas auf uns zu, das einen fatal an die dreißiger Jahre erinnert. Das Volk wird nicht mehr vom Volk repräsentiert, sondern von Volksverführern, die behaupten, in seinem Namen zu sprechen, und ihre Ideen durchsetzen, die immer von Ausländerhaß getragen sind oder von Haß gegen andere Religionen, gegen Banker und Unternehmer, gegen die Reichen und Eliten ganz allgemein. Irgend jemand muß schuld sein, und diese Schuldigen werden auch gefunden. Was mich derzeit beunruhigt, ist diese wieder erwachte antidemokratische Tendenz zur radikalen Vereinfachung. Alles drin. Kinder, freut euch des Lebens, aber seid bereit, euch zu wehren und zu organisieren und zu kämpfen, denn es kommen harte Zeiten.

NEUMANN: Sie haben viele Reportagen gedreht, die in gewisser Weise subversiv waren, die Abseitiges gezeigt haben. Durch sie hat man immer viel über das jeweilige Land, Amerika zum Beispiel, gelernt. Ich habe das Gefühl, daß diese Art des Journalismus ausgestorben ist, daß die intensive, ruhige Auseinandersetzung mit einer Situation gar nicht mehr stattfindet, obwohl die Themen doch auf der Straße liegen.

TROLLER: Ja, was ist da passiert? Natürlich geht es um Geld, um Werbung, darum, wo sie am effektivsten ist. Daß die Fernsehanstalten sich dermaßen in diese Richtung verkauft haben, ist das Verblüffende und Erschütternde. Man sagte zu meiner Zeit immer, wenn eine Sendung wichtig ist, wird sie zu einer guten Sendezeit gebracht. Davon kann heutzutage keine Rede mehr sein, es wird nur noch nach potentiellen Einschaltquoten geschielt. Ich bin kein Philosoph, aber der steigende Materialismus und der absackende Idealismus auf der Welt sind evident. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, denn die verläuft wellenförmig. Wie bekannt, hat Ludwig XVI. an dem Tag, als die Bastille gestürmt wurde, »rien«, nichts, in sein Tagebuch geschrieben. Es erschien unwichtig, daß seine Pariser Hauptfestung erstürmt worden war. Eine umwälzende Veränderung war nicht vorstellbar. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist, der alles für verloren hält, es kommen immer wieder neue Strömungen und Möglichkeiten. Und jungen Menschen fällt es leicht, diese Strömungen zu lenken oder etwas in Bewegung zu setzen. Die Leute sind da und die Überzeugungen sind da. Nur wissen sie oft nicht, daß es allgemeine Überzeugungen sind. Jeder meint, nur er denke so und man könne nichts tun. Und auf einmal stellt sich heraus: Millionen glauben dasselbe. Ich denke, die Jugend hat ihre Chance und wird, vielleicht als letzte Generation, noch durchsetzen, was sie sich erträumt. Was danach kommt, weiß niemand. Vielleicht ja auch das Paradies auf Erden. Pessimismus ist gefährlich, denn was man erwartet, das passiert auch.

NEUMANN: Sie äußerten einmal, Ihre Vorstellung von Religion sei, daß in jedem Menschen ein göttliches Prinzip vorherrsche. Was für eine Bedeutung hat diese Vorstellung für Sie?

TROLLER: Wir wollen hier nicht von Religion reden. Aber ein göttlicher Funke ist in uns allen, ob wir es nun Gott nennen oder anders. Fast alle haben eine Ahnung davon, daß etwas Größeres als wir selbst existiert. Das scheint mir sehr wichtig, weil sonst alles an Eigennutz krepiert. Wenn man so vielen Leuten verhältnismäßig intim, wie es mir mein Beruf erlaubte, gegenübergetreten ist, weiß man doch häufig, wo die Grenzen sind. Manchmal erreicht man sie verhältnismäßig schnell, manchmal hat man das Gefühl, man erreicht sie gar nicht, und manchmal passieren völlig überraschende Dinge. Ein Mann wie Charles Bukowski war in Wirklichkeit ein Mystiker und sprach mir in die Kamera von seinem kommenden Tod und wie er ihn erleben will, während seine junge Freundin dabeisaß und mißbilligend den Kopf schüttelte. Da war ich vollkommen verblüfft. Diese Ansichten hatte er immer verheimlicht, weil sein Erfolgsrezept der Schweinkram war – dem ist er gefolgt, so wollten ihn die Leute sehen und so gab er sich. Und nun, als alter Mann, der den Tod kommen fühlte, wollte er darüber reden, was dieser für ihn bedeutet und daß er sich das Recht zuerkennt, in Frieden zu sterben, weil er sich so ausgelebt hat. Ich glaube, wir sind alle mit einem Funken geboren. Als Kind wissen wir noch Bescheid. Kinder leben mit Fragezeichen: Wer bist du, was ist die Welt, wieso bist du meine Mutter, wieso bin ich ich? Ein Kind stellt die richtigen Fragen, die nachher vergraben werden. Aber zu diesen Fragen kann man wieder durchstoßen und das Gefühl haben, man habe nicht umsonst gelebt. Irgendwann hört die Jugend auf, man meinte als junger Mensch, sie währe ewig. Aber dann kommen die Dinge auf einen zu und man fragt sich in schlaflosen Nächten, wofür man eigentlich gelebt hat, was man gemacht hat. Dann ist es gut, wenn man sich sagen kann: Mehr, als ich je gedacht habe, nichts so Ungeheures, aber mehr, als ich mir zugetraut hätte, ist daraus geworden. Das ist schon allerhand, damit kann man leben und vielleicht auch sterben.

SINN UND FORM 1/2019, S. 136-139