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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-45-4

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Leseprobe aus Heft 1/2019

Hilbig, Wolfgang

»Aber lassen wir die Ironie, es geht um das Heiligste»
Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten


Vorbemerkung

Wenn 2020 der siebente und zugleich letzte Band der Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erscheint, werden in erster Linie seine zu Lebzeiten veröffentlichten lyrischen, erzählerischen und essayistischen Texte vorliegen. Editorisch noch weitgehend unerschlossen sind hingegen das unveröffentlichte Werk und die umfangreiche Brief- und Postkartenkorrespondenz des 1941 im thüringischen Meuselwitz geborenen Autors. Der gelernte Bohrwerkdreher, der viele Jahre als Heizer arbeitete, war ein eifriger Briefeschreiber, noch häufiger verschickte er Postkarten, besonders Kunstpostkarten. Einige der Briefe und Karten werden vom Marbacher Literaturarchiv und vom Wolfgang-Hilbig-Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt, der überwiegende Teil seiner Korrespondenz aber befindet sich in Privatbesitz.

Die Korrespondenz zwischen Hilbig und Ursula Großmann begann im Sommer 1968. Den ersten, nicht erhaltenen Brief schrieb Großmann, nachdem sie seine legendäre Annonce in der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« (Nr. 7/ 1968) gelesen hatte. Anderthalb Jahre später, im Januar 1970, kam der Briefwechsel zum Erliegen. Die Gründe dafür können nur vermutet werden. Hilbig arbeitete ab 1970 als Heizer im Dreischichtsystem. Möglicherweise hatte er einfach keine Zeit mehr. Während von ihm siebzehn Briefe, eine Brief- und eine Postkarte erhalten sind, gingen die Briefe Ursula Großmanns – bis auf einen, der als Durchschlag vorliegt – verloren.

Auf ihren Namen wurde ich bei Recherchearbeiten zu meiner 2017 erschienenen Hilbig-Biographie aufmerksam. Im Archiv der Akademie der Künste fand sich der Entwurf eines von Hilbig an Großmann adressierten Schreibens, das ich zitierte. Darauf stieß Großmann bei der Lektüre des Buches. In einem Telefonat erfuhr ich, daß sich noch weitere von Hilbig verfaßte, bislang unbekannte Briefe in ihrem Besitz befinden. Einige Briefe aus diesem Konvolut werden hier erstmals veröffentlicht.

Sie sind insofern bemerkenswert, als sie Aufschluß über eine Lebensphase des Autors geben, aus der nur wenige Zeugnisse bekannt sind. Nach seiner Entlassung aus dem Grundwehrdienst der NVA im Oktober 1963 – ein Brief Hilbigs, in dem er sich kritisch über die Zustände in der Armee geäußert hatte, rief das MfS auf den Plan – schickte er verschiedenen Verlagen in Ost und West seine Gedichte. Doch weder der Rowohlt Verlag noch der Ostberliner Union Verlag konnten sich 1964 entschließen, diese Texte zu veröffentlichen. Johannes Bobrowski, damals Lektor im Union Verlag, ließ Hilbig im Oktober 1964 immerhin wissen, er besitze Talent, und ermunterte ihn, in »ein, zwei Jahren« erneut etwas einzusenden. Hilbig schickte seine Gedichte zwei Jahre später an »Sinn und Form«, erhielt aber auch von dort im März 1966 einen ablehnenden Bescheid. Und auch bei dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Kursbuch« versuchte er sein Glück: »Ich habe mich mit solchen Anliegen schon an mehrere Zeitschriften und Autoren aus der DDR gewandt, die Antworten waren teils ablehnend, teils (in letzter Zeit) blieben sie einfach aus.« Enzensberger fand zwar »sympathisch«, was ihm der Lyriker aus dem Osten schrieb, aber die Texte schienen ihm dennoch »unbrauchbar«.

Hilbig reagierte auf die Ablehnungen radikal: Er verbrannte 1965 einen Teil seines Frühwerks – das ihm, wie er es formulierte, »peinlich war« – und zählte fortan nur das zu seinem eigentlichen Werk, was er nach dieser Zäsur geschrieben hatte. Frühere Texte gehörten nur dazu, wenn sie von ihm überarbeitet wurden. Über die schwierigen Lebensumstände der sechziger Jahre schrieb er im Entwurf eines Lebenslaufs: »Ablehnungen, Depressionen, Ablehnungen.« Er hatte weder Erfolg mit seinem Versuch, Leistungssportler zu werden, noch mit seinem Antrag, als Matrose auf einem Schiff der Deutschen Seereederei die Weltmeere zu befahren.

Anerkennung fand Wolfgang Hilbig zunächst nur als »inoffizieller« Lyriker. Denn die Motorbootlesung auf dem Leipziger Elsterstausee, auf der er am 26. Juni 1968 seine Gedichte vor einem begeisterten Publikum vortrug, wurde vom MfS als »illegale Zusammenkunft « eingestuft. Siegmar Faust, der damals als Schiffsführer arbeitete, hatte junge Lyriker dazu eingeladen. Außer Hilbig kamen unter anderen Gert Neumann und Andreas Reimann. Zur Eröffnung zitierte Faust Abschnitte aus dem Programm der KPCˇ und empfahl deren liberale Kulturpolitik der DDR zur Nachahmung. Wenige Wochen später, am 21. August 1968, wurden die Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz von den Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt. Seit dieser Lesung war der Name des Heizers aus Meuselwitz in den literarisch interessierten Kreisen Leipzigs ein Begriff.

In der DDR führten die Prager Ereignisse dazu, daß sich die bereits seit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 angespannte kulturpolitische Lage noch verschärfte. In dieser Situation einen Verlag für seine Gedichte zu finden, war schwierig. Hilbig versuchte es dennoch und schrieb an die »NDL«: »Darf ich Sie bitten, in einer Ihrer nächsten Nummern folgende Annonce zu bringen: ›Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte. Nur ernstgemeinte Zuschriften an: W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstr. 19 b‹.« Es ist erstaunlich, daß seine Annonce überhaupt abgedruckt wurde, da die Zeitschrift über keinen Inseratenteil verfügte. Und es war in der Redaktion offenbar auch niemandem aufgefallen, daß sich Hilbig ausdrücklich an »deutschsprachige« und nicht nur an DDR-Verlage wandte. Post allerdings erhielt er weder von Ost- noch von Westverlegern. Der einzige Brief kam aus der Heidenauer Kantstraße. Absenderin war die 1927 geborene Ursula Großmann, ebenso wie Hilbig Mitglied in einem Zirkel schreibender Arbeiter (Dresden-Nord). Wie Hilbig hatte sie nur die Grundschule besucht (1934 – 42). Nach dem Pflichtjahr (1943 / 44) begann sie eine Lehre als Damenschneiderin, da ihre Lehrwerkstatt im Februar 1945 beim Angriff auf Dresden total zerstört wurde, konnte sie die Lehre aber nicht abschließen. Nach dem Krieg besuchte sie zunächst die Handelsschule in Pirna und begann wenig später eine Ausbildung als Neulehrerin. Von 1946 bis 1952 unterrichtete sie in der Heidenauer Goethe-Schule. 1952 – nach der Geburt ihres Sohnes – erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, woraufhin sie für drei Monate zu ihren in Westdeutschland lebenden Eltern fuhr. Als sie in die DDR zurückkehrte, wurde sie wegen politischen Fehlverhaltens aus dem Schuldienst entlassen und erhielt Berufsverbot. Lehrerin konnte sie in der DDR nicht wieder werden. Als sie den ersten Brief an Hilbig schrieb, befand sie sich in der Ausbildung zur bibliothekarischen Mitarbeiterin und arbeitete in der Stadtbibliothek Heidenau. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie noch heute in Heidenau. Ihr Interesse an der Literatur ist ungebrochen, sie schreibt weiterhin Gedichte.

Michael Opitz

SINN UND FORM 1/2019, S. 61-83, hier S. 61-63