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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-38-6

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Leseprobe aus Heft 6/2017

Halbmayr, Alois

Die Theodizee und ihre Erben. Eine Erinnerung an Odo Marquard


Als Odo Marquard 2015 im Alter von 87 Jahren starb, war in den Nachrufen viel von seiner singulären Art und Weise die Rede, Philosophie zu betreiben; von seiner stupenden Kenntnis der Tradition, vor allem der Aufklärung; von seinem vehement vorgetragenen Plädoyer für einen »Abschied vom Prinzipiellen«. Natürlich wurde auch an seine vieldiskutierte These von den Geisteswissenschaften als Kompensationsunternehmen erinnert, an stilprägende Wortschöpfungen wie »Njet-Set« für die Vielflieger unter den Kritischen Theoretikern; »Wacht am Nein«; »Inkompetenzkompensationskompetenz«, »Weigerungsverweigerer« oder, passend zum Reformationsjubiläumsjahr: »Hier stehe ich und kann auch immer noch anders.« Marquard war zeitlebens ein streitbarer Philosoph, der insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren in gesellschaftliche Debatten eingriff und auch Präsident der »Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland« war.

Während seiner langen philosophischen Karriere hat Marquard nur zwei Monographien veröffentlicht, eine kurze Dissertation über Kant und eine sperrige Habilitationsschrift über den Transzendentalen Idealismus im Kontext der Psychoanalyse. Diesen beiden Qualifikationsschriften stehen unzählige Aufsätze gegenüber, von denen ein Großteil seinen bevorzugten Problemstellungen gewidmet ist: Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Ästhetik und eben auch Theo dizee. Die meisten seiner Essays sind als gesammelte Studien in den kleinen gelben Reclam-Bändchen leicht zugänglich. Ihre Titel sind Programm: »Abschied vom Prinzipiellen « (1981), »Apologie des Zufälligen« (1987), »Skepsis und Zustimmung« (1994), »Philosophie des Stattdessen« (2000), »Individuum und Gewaltenteilung « (2004), »Skepsis in der Moderne« (2007), »Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie« (2013, herausgegeben von einem seiner Schüler, Franz Josef Wetz). Seine erste Aufsatzsammlung erschien bezeichnenderweise im Suhrkamp Verlag: »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie« (1973). Der Titel gab bereits auf lakonische Weise Auskunft über sein Unbehagen. Legendär ist der Eröffnungssatz: »Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt darauf an, sie zu verschonen.« Besser und wohl auch gelassener kann man Marx nicht vom Kopf auf die Füße stellen. Die besonderen, oft eigentümlich anmutenden Perspektiven, die Marquard einnimmt, verleihen seinen Texten bis heute ihren Glanz. Literarisch sind sie ein Genuß, stilistisch sicher und meist brillant komponiert. Die Pointen gehen nicht zu Lasten der Präzision oder des argumentativen Verlaufs, die gedanklichen Zurichtungen sind mit Witz und einer gehörigen Portion Selbstironie gewürzt. Es ist kein Zufall, daß Marquard 1984 den »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« erhielt. »Transzendentalbelletrist«, so hat er sich einmal selbst mit feiner Ironie bezeichnet. Dabei blieb immer der konkrete Gegenstand im Blickfeld, dessen übersehene oder vergessene Winkel er ausleuchtete. Nur so ließen sich weniger bekannte, aber nicht weniger bedeutsame Facetten des Proble

Marquards Beiträge zur Theodizee nehmen in seinem OEuvre eine Sonderstellung ein. Obwohl die Frage nach der Rechtfertigung Gottes in der Moderne ihre dominante Stellung verloren hat, blieb das Nachdenken darüber angesichts von Leid und Schuld ein produktives Unterfangen. Marquard wollte zeigen, welch ungehobene philosophische Schätze in ihr schlummerten. Die Theodizee betrachtete er als exzellenten Theoriegenerator, durch den unzählige Anschlußfragen gestellt und epochale Weichenstellungen vorgenommen wurden. Doch in kaum einem der Nachrufe wurden Marquards Arbeiten dazu erwähnt, lediglich die Süddeutsche Zeitung brachte einen kurzen Hinweis. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich die Frage nach der Theodizee als eine Art Kettfaden erwies, der geschichtsphilosophische mit anthropologischen, ästhetische mit existentiellen Fragen verwob. 2013 bekannte Marquard in einem Gespräch mit Franz Josef Wetz: »Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir die Theodizee.« Die Beschäftigung damit begann bereits zu Studienzeiten. Den Germanisten Benno von Wiese, so erzählte Marquard mit der ihm eigenen Ironie, habe er nach der Ammenschlafmethode gehört: »Nur aufwachen, wenn das eigene Problembaby schreit: das war für mich die Theodizee, was ja wohl nicht gerade ein abwegiges Problem ist angesichts des Holocaust.« Allerdings habe ihm von Wieses tragische Weltsicht zu sehr aufs Gemüt gedrückt, weshalb er beschloß, etwas anderes zu versuchen. Damit habe dann sein »langer Marsch durch die Theodizee« begonnen.

Dieser lange Marsch kannte kein konkretes Ziel, er zielte nicht auf Beantwortung der Frage, weder in philosophischer noch in religiös-existentieller Perspektive: »Ich persönlich finde immer mehr Geschmack an den institutionellen Seiten der Religion, habe aber als Philosoph Schwierigkeiten mit bestimmten Sachen, beispielsweise mit dem Jenseits, mit dem Leben nach dem Tode. Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die Auferweckungen fast nur negativ erfahren. Schon die Vorstellung, morgens oder nach dem Mittagsschlaf das Bett zu verlassen, ist bei mir negativ belegt. Wenn der liebe Gott es gut mit mir meint, wird er mir die Auferweckung im Jenseits vielleicht ersparen und mich schlafen lassen.« (Gespräch mit Jochen Rack, Sinn und Form 5 / 2010) Marquards persönliche Auseinandersetzung mit der Theodizee frage ist in sein Werk kaum eingeflossen, er blieb zu sehr dem klassischen Ideal des Philosophen als leidenschaftslosem und emotionsfreiem Denker verpflichtet.

An der Theodizee als philosophischem Projekt interessierte ihn, weshalb sie in bestimmten Zeiten eine Hochkonjunktur erlebte und dann wieder verschwand, um erneut in den Fokus zu geraten. Zunächst schien Marquard erklärungsbedürftig, warum sie Anfang des 18. Jahrhunderts plötzlich die philosophische Bühne betrat, nachdem die abendländische Philosophie bis dahin ganz gut ohne sie ausgekommen war. Weshalb konnte Leibniz’ monumentaler Lösungsansatz von 1710, der die scheinbare Unvollkommenheit der Welt zum Sehfehler der Menschen erklärte, die die »Schönheit und Ordnung des Ganzen« nicht erkannten, keine fünfzig Jahre später als widerlegt gelten? Reicht es aus, diesen Umbruch auf das Erdbeben von Lissabon und Voltaires beißende Kritik zurückzuführen?

An dieser doppelten Scharnierstelle, dem Aufkommen und baldigen Scheitern der Theodizee, entsteht schließlich die eigentliche Fragestellung: Was folgt aus diesem Scheitern? Verschwindet mit der Leibnizschen Theodizee das gesamte Arsenal an Gedanken, Ideen und Perspektiven? Oder bleibt etwas erhalten, das in Versatzformen oder anderen Problemstellungen weiterlebt? Es liegt nach Marquard an der spezifischen Denkform der Theodizee, daß sie sich nicht abschütteln läßt, sondern ihre Wirksamkeit im Unterstrom neuer philosophischer Ansätze fortsetzt.

(…)

SINN UND FORM 6/2017, S. 830-836, hier S. 830-832