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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-27-0

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Leseprobe aus Heft 1/2016

Llywelyn-Williams, Alun

In Berlin – August 1945


1. Lehrter Bahnhof

 

Heledd und Inge im roten Fackelschein –

Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns –

Sieh nur, wie dort, wo eilig Fäden ineinanderlaufen,

wir fernen Reisenden zusammenkommen, durch Zufall unter der Uhr.

Wirklich durch Zufall? Auf diesem Bahnhof beginnt keine

Reise, es endet auch keine, es sei denn, man sieht

in seinen zerborstenen Bahnsteigen das Ende aller Reisen.

Kauft eure armselige Fahrkarte wohin auch immer;

lang, lang ist das Warten dieser Menschenmenge,

groß ihre Geduld und ohne Murren,

weil das blinde Geschoß, das meinen tumben Kadaver

zum Schmollen auf den Rost der Schienen warf,

abprallte und das runde Glas zerschlug,

die Zeiger wegriß, die das Hin und Her gewiesen

dem würdevollen Lärm der harten Räder.

 

Der Sturmwind ging vorüber –

und aus der Spalte in der Wand, dem Riß im Pflaster

quillt Wasser, doch ohne

das Lied des Bergbachs.

Um uns tröpfelt Nacht herab.

Ihr vergessenen Reisenden, weil ihr so still seid,

will ich all meinen Schrecken sammeln und ihn für eine Weile

hier am Saum des Lebens niederlegen, will ihn

vom feuchten Boden heben

und mit euch warten auf den Bahnhofsvorsteher.

Stille fließe zwischen uns; wir wollen wieder,

nach den vergeblichen Jahrhunderten,

sehen, wie Lava langsam die Straße niederrinnt,

wie Sand die Gräber der Herrschenden bedeckt,

und preisen die Schönheit dieser Herdstatt unter grauem Flechtenschorf.

(Lang ist es her, undeutlich die Erinnerung, ob jedesmal

das gleiche Schicksal uns beschieden war;

doch bevor die Brücken gesprengt wurden, wart auch ihr auf der Flucht.)

 

Scharf ist der Wind; Heledd, zittre nicht, weine nicht;

habe Mut, versteckt auf dem bequemen Bett im Schutt,

als Gegengabe

für den Genuß einer Zigarette,

für eine Tafel Schokolade,

magst du deine Liebe geben dem einsamen Eroberer.

Erbarmungslos tröpfelt die Nacht.

Wann kommt er, wann, der blaue Beamte,

im eleganten Anzug, von erlesenem Geschmack,

sein Signalhorn zu blasen und die Menge wieder in Bewegung zu setzen?

Stolz und feist war diese Stadt schon immer,

wie geschaffen für die Zerstörung;

hast du gehört, Heledd – nein, du, verwundete Inge –

das wilde Lachen des gierigen Adlers,

hast du gesehen in seinen halbgeschlossenen Augen

das vorbestimmte Schicksal all unserer brüchigen Städte?

 

 

2. Zehlendorf

 

Der Tod kam zum öffentlichen Garten:

Das flache Grab sah ich, das winzige Holzkreuz

zwischen Fußweg und Seeufer,

auf der kleinen Landzunge, wo hohe Kiefern stehen.

Wie seltsam wäre im Roath Park oder in den Gärten von Kensington

diese vergebliche, hilflose Geste.

 

Knie nieder, Inge, und küsse die Erde:

Wenn du magst, streu zärtlich Blumen aus über dem Helden,

gib keinen Namen ihm –

die Kinder haben lange schon den Ort geflohen, ein Spielzeug nur,

ein Segelboot, der Mast gebrochen, ist übrig noch von ihrem Treiben.

 

Vertraut ist sicherlich der Tod, wenn er kommt,

tröstend in unser Bett steigt am Ende eines langen Tages,

auf uns wartet in den fernen Regionen unseres Bewußtseins,

auf dem höchsten Gipfel des Everest, um unsere Stärke zu begrüßen:

Er gab in fern vergangenen Tagen

langen Schlaf und ewiges Lied dem Wächter der Furt,

dem Schützer der Grenze.

 

Ach, der Kerl hat nicht gesagt, ob hier, bei diesem unbenannten Kreuz,

Angst auf der Flucht ihn niederstreckte, ob

die hoffnungslose Verzweiflung einsamen Widerstands

oder die gierigen Feuerzungen Bergen-Belsens an ihm zehrten.

Unscheinbar ist das Grab, und über ihm

wagt der prophetische Wald nicht

zu versprechen, daß es je wieder Frühling wird.

 

 

3. Theater des Westens

 

Es regnet weiter. Unter dem Dache irgendwo

fließt ein verborgener Stausee über in einen Deckenspalt,

rinnt Tropfen um Tropfen durch das gefesselte Dunkel,

unglücklich, unablässig den losen Teppich nässend.

 

Was soll's – wir freuen uns an Inges Tanz,

sie tanzt im konzentrierten Licht der strengen Lampe;

stärker als Furcht, versteckt im Trommelregen,

ist die Musik, die den geschmeidigen Arm mit Stolz erfüllt,

 

den Jubel einer jeden wohlerlernten Körperneigung lenkt.

In ihrer flinken Schritte Spuren wächst der Klee –

die Brust von Last befreit, daß wieder Freude sei der Mutter,

daß fröhlich sei der müde Arzt beim Abschied von den Freunden.

 

Denn lang war ihre Ausbildung und gründlich die Schulung

in so mancher alten Stadt, und viele Zeiten

haben ihr feines Spiel geformt, die Kunst, die Fleisch fügt

zum Gespinst der Noten, die reinigt das ererbte Leid.

 

Hier ist ein Garten zu hegen, ist eine Seuche einzudämmen;

nachdem wir schworen einen Eid, unlöslich, ihrer hohen Würde

sind uns die Schritte leichter auf der harten Bühne, wir fühlen

die Macht des Firmaments, die Kraft der grünen Knospen.

 

Aus dem Walisischen von Wolfgang Schamoni

 

 

Nachbemerkung

Alun Llywelyn-Williams (1913-1988) wurde in Cardiff als Kind walisischsprachiger Eltern geboren, wuchs jedoch in englischsprachiger Umgebung auf. Er studierte Geschichte und Walisische Literatur und arbeitete zunächst für das walisischsprachige Programm der BBC. Von 1935 bis 1939 gab er die Literaturzeitschrift „Tir Newydd“ (Neuland) heraus, in welcher zum ersten Mal in der walisischen Literatur ein dezidiert städtisches Lebensgefühl (verbunden mit einer undogmatisch linken Einstellung) artikuliert wurde. Als der Krieg näherrückte, war er nicht froh über die Aussicht, »den Faschismus zu bekämpfen, um ein verkommenes System zu stützen«, meldete sich aber gleichwohl nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande und dem Beginn der »Battle of Britain« Ende 1940 zur Armee und blieb bis 1945 Soldat. Als solcher nahm er an den Kämpfen am Niederrhein teil und wurde am 1. März 1945 verwundet. Danach war er Presseoffizier u. a. in Berlin und von 1948 bis zu seiner Pensionierung Direktor der »Extra Mural Studies« (Programme für das allgemeine Publikum) der Universität Bangor in Nordwales. Llywelyn-Williams’ dichterisches Werk umfaßt nur drei schmale Bände (1944, 1956, 1979) und zeichnet sich durch ästhetische Konzentration sowie einen humanen Grundton aus. Außerdem hat er eine Studie über walisische Romantiker (Der Nebel, die Nacht und die Insel, 1960), eine Biographie des walisischen Historikers R. T. Jenkins, zwei Reisebücher über walisische Landschaften, eine Autobiographie (Frühling in der Stadt, 1975) und Essays, meist zu literarhistorischen Themen, veröffentlicht. Bis auf die (englische) Arbeit über Jenkins bedient sich Llywelyn-Williams in allen genannten Publikationen des Walisischen.

In seinen ab 1934 veröffentlichten Gedichten orientierte er sich zunächst an der englischen Avantgarde (T. S. Eliot, W. H. Auden), die mit ihrer Urbanität, ihren zuweilen schroffen Fügungen und der oft schwierigen Sprache einen Gegenentwurf bot zur bis weit ins 20. Jahrhundert wirksamen Tradition spätromantischer walisischer Dichtung mit ihrer klangvollen Eingängigkeit und der Idealisierung des ländlichen Lebens. In seinem Spätwerk kehrte der Autor zu einer einfacheren Sprache und weniger avancierten poetischen Verfahren zurück, blieb jedoch seiner Thematik treu.

Die hier abgedruckten Gedichte beruhen auf Erlebnissen im zerstörten Berlin, entstanden allerdings mit einigem Abstand: Die beiden ersten wurden 1949 geschrieben, das dritte 1951. Sie beziehen sich gleichzeitig auf eine Reihe früher walisischer Gedichte, die ins neunte oder zehnte Jahrhundert datiert werden und die Niederlagen der Briten (Waliser) im Kampf gegen die Angelsachsen im 7. Jahrhundert zum Hintergrund haben: So sind etwa »diese Herdstatt«, »scharf ist der Wind« und »Wächter der Furt« wörtlich aus jenen frühen Gedichten übernommen. Zudem ist der Bezug durch die Gleichsetzung von »Inge« (der Name läßt das walisische Wort »ing« = »heftiger Schmerz« anklingen) mit »Heledd« augenfällig. Letztere ist die einzige überlebende Schwester von Cynddylan, dem im Kampf getöteten Herrscher von Pengwern im heutigen Shropshire. Immerhin stand der Autor 1945 auf der Siegerseite, während die Waliser einst ihre Niederlage betrauerten. Aus dieser Konstellation heraus gelingt es ihm, in der zerstörten Stadt die gescheiterte Hybris »all unserer brüchigen Städte« zu erkennen und das Elend der Unterlegenen und Entwurzelten mitzuempfinden. Das dritte Gedicht schließlich feiert die Kunst als Retterin inmitten der Zerstörung.

Wolfgang Schamoni

 

SINN UND FORM 1/2016, S. 60-63