Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-27-0

Printausgabe bestellen

Leseprobe aus Heft 1/2016

Różycki, Tomasz

Tomis. Notizen vom Haltepunkt


Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem Anschein nach ist es ein richtiger Winter, sentimental und mythisch, die Stadt ist eingeschneit, die Autos passieren einander vorsichtig wie beladene Elefanten auf einem Dschungelpfad. Fluß und Kanäle sind zugefroren, im Fernsehen schneit es. Einstweilen muß man nicht über den sechs Monate langen, bis in den April dauernden winterähnlichen Herbst voller Schlamm klagen, die Zeit des Schlamms kommt später – wenn es taut, wenn die Schneewehen, -berge und -halden schmelzen und die Sintflut einsetzt. Vorerst ist alles, wie es sein soll, wie es auf dem Wunschzettel steht: Das Licht ist zurück, wird vom Schnee reflektiert, selbst die Nacht leuchtet festlich, als sei die Kindheit zurückgekehrt und halte Ausschau nach uns. Gloria. In unserem Tomis spricht freilich niemand Latein, hier gefriert der Wein in der Flasche, und der einzige rote Fleck auf der weißen Tischdecke könnte ein Blutfleck sein. Doch alle verfluchen in ihren Dialekten den Winter, sie kratzen Schnee und Eis von den Autos und tauen die Batterien auf. Und wiewohl ich eine direkte Verbindung nach Rom habe, sind zum Glück sämtliche Wege zugeschneit.

Die Besuche in der Hauptstadt, in dieser wie in jener, enden immer gleich: mit der Einfahrt des Zuges in den verdreckten Bahnhof, der von Jahr zu Jahr zu schrumpfen scheint, bis er eines Tages ganz verschwindet – dann werde ich auf der weißen Flur aussteigen und verdutzt durch den Schnee stapfen. Ich steige aus und stecke gleich fest im Schnee, im Schlamm, in der Provinz, und mir wird klar, eine bestimmte Art von Fremdheit muß wohl sein. Man empfindet sie sicher auch, wenn man in New York im vierzigsten Stock lebt und jedes Mal beim Zigarettenkaufen denkt, man kehre von einer Reise um den Mond auf unseren grünen Planeten zurück. Tomis ist wohl eine Notwendigkeit: der Ozean von Schlamm ringsum, die verschneiten Felder bis zum Horizont, die staubigen Straßen, und fast niemand spricht Latein. Hier kann man vergessen werden, während man auf der Veranda jeden Tag neue altmodische Simulakren der Wirklichkeit heranzüchtet, indem man Geschichten erfindet oder erschütternde Briefe an die Nachkommen schreibt.

Das große Gebäude am Platz ist das Hauptgebäude der Universität. Es gibt eine unklare Verbindung zwischen uns. Zuweilen bekomme ich den Schlüssel zu einem Zimmer in der obersten Etage, ich komme, wenn schon alle weg sind, und gehe – mit dem seltsamen Gefühl, doch nicht allein zu sein – durch die Korridore. Früher befand sich hier ein Kloster, später lange ein Spital; ich erinnere mich noch an die Barmherzigen Schwestern mit den spitzen Hauben. Die gleichen, denen Rimbaud ein hoch in den Alpen aufgestelltes Klavier vererbte. In den Sälen lagen die Kranken. Ich habe meine Großväter besucht, beide sind hier gestorben. Wohl kaum ein Universitätsgebäude in Polen hat eine vergleichbare Tradition und Geschichte. (…) Inzwischen wurde das Gebäude generalüberholt, die Wände und sehr dicken alten Mauern desinfiziert, wobei ja Bakterien und Viren tief ins Gemäuer eindringen können, sie verstecken sich und liegen noch Jahrzehnte auf der Lauer. Ich sitze hier, atme den Geruch ein und versuche mit Hilfe des Tamtams mit den Seelen der hier Verstorbenen in Kontakt zu treten. Eine von ihnen wird mich schon hören. Die einstige Augenklinik ist heute die Anglistik, die Innere Medizin die Polonistik. Die Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist die Romanistik, die Neurologie die Slawistik. Wo jetzt die Bibliothek ist, war früher die Intensivstation. Das Dekanat war Operationssaal, das Büro des Rektors die Toilette. Wo heute die Toiletten sind, war früher das Chefarztbüro. Für den Rest der Universität wurden zum Glück ehemalige Kasernen umgebaut. Sie haben eine andere Tradition, aber auch die läßt sich erzählen.

Mit Hilfe des Tamtams kontaktiert mich Leonardo, der Castaneda zitiert: »Unsere Sprache ist überaus schwach.« Und tatsächlich, meine Zunge ist kalt und die Hände klopfen mit letzter Kraft auf die Tastatur des Tamtams. Das kommt bestimmt vom gefrorenen Wein. Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Obwohl der autobiographische Pakt vermutlich so clever erdacht ist, daß er uns alle mit seinen sieben Mäulern verschlingen kann – mein Pakt ist wohl anders, und man darf hoffen, daß nicht nur böse, sondern auch gute Geister über dem Papier kreisen. Solange der Tiefkühlwein sie nährt, besteht Aussicht auf Fortsetzung. Heute faßte ich den Entschluß, diese Notizen zu beginnen. Erster Eintrag: Winter.

 

Auf dem Hügel, wo das heutige Universitätsgebäude steht, gibt es einen Brunnen und eine heilige Quelle. Der Legende nach soll 984 der heilige Adalbert, Schutzheiliger Polens, nach Oppeln gekommen sein. Der damalige Bischof von Prag predigte auf dem Hügel und taufte die bekehrten Einheimischen. Als ihm einmal das Taufwasser ausging, stieß er den Bischofsstab auf die Erde, und an dieser Stelle entsprang eine Quelle. Das Wasser hatte wundertätige Eigenschaften: Es förderte die Fruchtbarkeit, festigte die eheliche Treue, heilte Melancholie, Depression und Jugendakne.

Der heilige Adalbert wird häufig mit einem Bischofsstab in Gestalt eines doppelten oder einfachen Kreuzes dargestellt, was sein missionarisches Wirken betonen soll. Doch die schmuckvollen Basreliefs an der Bronzetür der Gnesener Erzkathedrale aus dem zwölften Jahrhundert zeigen, wie Otto III. Adalbert als Bischof einsetzt und ihm den Bischofsstab überreicht. Der Griff dieses Bischofsstabs, von dem sich Adalbert der Darstellung auf der Bronzetür zufolge bis zum Tod nicht trennte, ist schneckenförmig nach innen gewunden und wird von einem Schlangenkopf abgeschlossen.

 

Ein Bild: Mitteleuropa, Lemberg, 1945 oder Anfang 1946. Die sowjetischen Behörden organisieren die Deportation der Polen aus der Stadt, was sie frech Repatriierung nennen. Nach Beschluß der Siegermächte UdSSR, Großbritannien und USA wird Lemberg der Sowjetunion zugeschlagen, die Polen sollen in die von Deutschland gewonnenen neuen polnischen Westgebiete umgesiedelt werden. Man kennt die Geschichte, aber ich versuche sie mir jetzt vorzustellen – in der Stadt herrscht Chaos, wie ein böses Omen erscheinen die Güterzüge, in denen die polnischen Lemberger, die den Krieg überlebten, abtransportiert werden sollen. Man kann eine Kiste mit persönlicher Habe mitnehmen, vielleicht zwei. Gemeinsam mit den Nachbarn zimmert Großvater eine Kiste, danach eine zweite, kleinere. Mehr wird er ohnehin nicht tragen können – er muß alles allein zum Bahnhof schleppen. Großmutter hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, es gibt nun drei Kinder im Haus: die Tochter und die zwei jüngeren Söhne. Der ältere ist mein Vater.

Großvater geht durch die Wohnung und überlegt, was er mitnehmen soll. Versucht es euch vorzustellen: zwei Kisten, um das Leben eurer Familie einzupacken. Großvater betrachtet Möbel, Figuren, Bilder, Fotografien und alte Briefe, Schrank und Nachtschränkchen, Küche und Bad. Wenige Monate später werden die Familien von NKWD-Offizieren in die großen, ruhig gelegenen Wohnungen einziehen. Zwei Häuser weiter wohnten der Architekt Szulim Barenblüth und seine Frau Debora Vogel, die Freundin von Bruno Schulz, mit ihrem Sohn Aszker. Alle drei wurden 1942 bei der Liquidierung des Lemberger Ghettos von der ukrainischen Polizei erschossen. Sie hinterließen Dokumente und Schriften, darunter unveröffentlichte Manuskripte von Bruno Schulz, Briefe und unvollendete Romane sowie Erzählungen von Schulz und Vogel – als neue Bewohner 1964 den Keller aufräumen, verbrennen sie alles.

Lemberg wurde im Juli 1944 im Rahmen der Aktion Burza von der polnischen Heimatarmee befreit. Die Rote Armee rückte auf die Stadt vor, man kämpfte gemeinsam gegen die deutschen Besatzer – die Polen sahen trotz allem die Rote Armee als Verbündete in der Anti-Hitler-Koalition. Wenige Tage darauf verhafteten diese Verbündeten polnische Offiziere und Soldaten und verschleppten sie tief ins russische Landesinnere. Lemberg war zum zweiten Mal während des Krieges sowjetisch besetzt. Nach der ersten Besetzung von September 1939 bis zum Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 hatten die Sowjets in Lemberg Berge von in der Junisonne verwesenden Leichen hinterlassen. 1945 richteten die Behörden Repatriierungspunkte ein, die Deportationen erfolgten in mehreren Phasen bis 1946, als man bekanntgab, die verbleibenden polnischen Einwohner würden nach Kasachstan oder in den Donbaß gebracht. Nur wenige wagten es, in der Stadt zu bleiben und abzuwarten, ob diese Ankündigung wahrgemacht würde.

Großvater geht durch die Wohnung. Sie können nicht viel mitnehmen, sie müssen wählen, viele Dinge werden sie nie wieder sehen. Großmutter packt Bettzeug, ein paar Teller, Töpfe, Kinderkleidung und einige Andenken in die erste Kiste, nur das Allernotwendigste, dennoch ist sie bald voll. Die zweite Kiste füllt Großvater – zu Großmutters Verzweiflung – bis zum Rand mit Büchern aus seiner nicht sonderlich umfangreichen Bibliothek. Services, das Radio und alles andere Wertvolle läßt er zurück. Die Kiste ist höllisch schwer und läßt sich selbst mit Hilfe von Bekannten und Nachbarn kaum bis zum Bahnhof transportieren, wo der Zug wartet und sie in den Waggon geladen wird. Einmal rutscht sie jemandem aus der Hand und verfehlt nur knapp einen herumwuselnden Sechsjährigen – um ein Haar wäre mein Vater von einer Kiste voller Bücher erschlagen worden.

Die Kiste war schwer. Moby Dick und die Nautilus mußten hinein, Captain Bloods Piratenschiffe, Die geheimnisvolle Insel, Wolfsblut, Wotan, der Wolfshund. Winnetou und Der letzte Mohikaner, das Lager des Vaters der Pestkranken, Soplicowo, Kamieniec Podolski, die Lauda und Elefant King. Die Alte Mär und Krakau zu Łokteks Zeiten. Die Jungen von der Paulstraße und Die drei Musketiere. Der Graf von Monte Christo und Lord Jim. In einem anderen Land und Der Zauberberg. Der brave Soldat Schwejk und Ivanhoe, Zwanzig Jahre später und Madame Bovary, Anna Karenina und Das Dschungelbuch. Die Kartause von Parma und Der Mann mit der eisernen Maske. Die Brüder Karamasow und Die Elenden. Einige dieser Bücher habe ich selbst noch gesehen, manche sogar gelesen, andere gingen verloren. Mein Vater hat bestimmt alle gelesen.

Die Kiste war mehrere Wochen unterwegs, bis sie in Oppeln ankam. In den Zügen war nicht genug Platz, die Männer reisten auf dem Dach. Sie sangen: »Eine Atombombe oder zwei, dann kehren ist Lemberg wieder frei.« Alle glaubten, der nächste Krieg stehe unmittelbar bevor, nach Hitler komme nun Stalin an die Reihe, der Alptraum dauere schon lange genug und werde bald enden. Niemand wußte, was sie am Ziel ihrer Reise erwartete. Unten im Waggon weinte ein Säugling, mein Onkel.

Ich weiß nicht, warum Großvater ausgerechnet Bücher einpackte. Er hielt sie wohl für das Wertvollste, das er besaß. Ansonsten sprach alles dagegen: Der Krieg war zwar zu Ende, aber die Geschehnisse der letzten Jahre zeigten deutlich, daß die Geschichte über die Kultur triumphieren würde. Meine Großeltern waren aus ihrem Zuhause vertrieben worden und sollten nie wieder zurückkehren, sie fuhren ins Unbekannte, nachdem sie wie durch ein Wunder den Krieg und die anschließenden Gemetzel überlebt hatten. Der neue Staat, der gerade auf Grundlage der Beschlüsse von Jalta entstand, war fremd und verhieß nichts Gutes. Ihre Heimatstadt war von der Roten Armee besetzt und sie waren unterwegs in die einstmals deutschen Gebiete, die von den Sowjets unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, wiewohl jeder wußte, daß es sich um eine Marionettenregierung handelte. Man mußte weiter ums Überleben und Durchkommen kämpfen. Um so erstaunlicher war die Entscheidung für die Bücher – sie zeugte von Hoffnung, vom privaten Sieg der Kultur über die Geschichte, von der Kontinuität des Geistes gegen das Chaos von Gewalt, Krieg und Materie. Großvater wußte wohl nicht, daß er eine rettende Geste vollzog. Er war kein Universitätsprofessor, sein Vater war Fleischer gewesen. Er selbst, ein aufsässiges Einzelkind, war viel gereist, er hatte die Welt gesehen und sich in Häfen herumgeprügelt. Auf seinen Armen prangten Seemannstätowierungen, darunter das Zeichen der Fremdenlegion. Er war ein Batiar, ein Kind der Lemberger Straße, kein Intelligenzler. Ich weiß nicht, was er im Krieg gemacht hat, er sprach nicht darüber, wahrscheinlich aus politischen Gründen. Er blieb manchmal tagelang fort, während Großmutter verzweifelt wartete. Er konnte gut mit Waffen umgehen. Er trieb ein wenig Handel, so kamen sie über die Runden. Er nahm an der Befreiung der Stadt teil, vielleicht als Angehöriger der Heimatarmee, vielleicht spontan. Nach dem Krieg war es nicht ratsam, sich bestimmter Dinge zu rühmen, also erfuhr ich nie, ob er sich gut oder schlecht verhalten hatte, heldenhaft oder feige oder von beidem etwas. Ich erfuhr nicht, ob er ein gutes oder ein schlechtes Gewissen hatte, ob er Leben gerettet oder getötet hatte – er starb lange vor dem Fall des Kommunismus in Polen.

Die Bücher, genauer die Erinnerung an die Titel dieser Bücher – die meisten sind zerfallen oder bei Umzügen verlorengegangen –, sind mein einziges Andenken an ihn. Er hatte sonst nichts aus Lemberg mitgebracht, keinen materiellen Beweis für die Existenz dieser Welt, nichts, was er mir hätte vererben können. Er hinterließ mir eine Liste mit den Titeln nicht existierender Bücher, exotische Namen und Nachnamen. Einen leeren Koffer, eine sprechende Kiste, Mikroben, Staub, Rußkrümel.

 

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

 

SINN UND FORM 1/2016, S. 15-27, hier S. 15-19