Leseprobe aus Heft 4/2015
Stoessel, Marleen
DER SIEBTE SINN
ODER DIE ZWÖLF IST EIN LÖWE
Erfahrungen mit Synästhesie
Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – auch der Goldton des Y hat sich im Doppel-M seiner Mitte förmlich eingedickt zu einem Braun-Orange, bevor die Wortform im anlautenden grünstichigen Tr der dritten, jetzt hart-gelben Silbe sich scharf abgrenzt, konturiert und dann auflöst.
Silben, Wörter, Namen, Buchstaben sind seit je Farb- und Klangereignisse für mich, manchmal stofflich fühlbar in Form, Haut, Textur und Gestalt. Ebenso Wochentage, Monatsnamen, Jahreszeiten sowie Zahlen und ihre Einheiten, die Jahrhunderte oder Dekaden. Und immer Stimmen, Instrumente, manchmal auch Töne, einzelne Phrasen, Intervalle oder der Nachhall eines Musikstücks, bevor der Applaus das Klangbild zerbricht. Auch der Geschmackssinn ist betroffen: Nahrungsmittel, Getränke und Gerüche lösen stets mehr oder weniger starke Farb- und Formvorstellungen auf meiner inneren Leinwand aus, auch sie oft von stofflich-taktiler Qualität.
Wie wunderbar ein Rotwein, in dessen samtener Tiefe die Zunge den zarten rötlichen Reflexen nachzuspüren vermag. Sind diese Reflexe zu groß, zu hell und zu grell, hat der Wein die gewünschte Fülle und Reinheit nicht. Die Geschmacksknospen verschließen sich, die Blume des Weins verwelkt, ehe sie blühen konnte. Und wie das Kosten und Schmecken ist natürlich auch das Kochen ein synästhetisches Geschehen, ein Komponieren mit Farben und Aromen, wobei das klangschöne aschblaue Wort Aroma ja alles einschließt: Geschmack und Würze und Duft.
Schwingung – das ist das Zauberwort, das »Sesam, öffne dich!« zur synästhetischen Erfahrung, welches den phantastischen Schatz aufschließt, der aus dem »Mitempfinden«, dem Zusammenfall, Zusammenklang verschiedener Sinne, ihrem Miteinanderschwingen geboren wird. Ein Schatz voller Poesie, eine eigene Welt voller Reichtümer, die keiner Drogen bedarf. Diese ererbte Gabe ist ein Geschenk, das mir lange Zeit nicht bewußt, sondern selbstverständlicher Begleiter jeglicher Wahrnehmung war.
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Nehmen wir die Zahlen. Natürlich sind das Wesen, Wesenheiten, kleinere oder größere »Persönlichkeiten« mit Farben und Charakter, mir mal mehr, mal minder sympathisch. Sie sind Realien, Realitäten, keine Abstraktionen – weshalb mir der alte philosophische Universalienstreit immer unverständlich blieb. Wie die Buchstaben, so sind auch die Zahlen ein Kosmos für sich, und manche teilen miteinander einzelne Farben und Tonwerte. Die 1 ist eine anthrazitfarbene, leicht aufgerauhte, aufrechte Gestalt, schmucklos und sehr ernst, als spüre sie die Verantwortung als Anführerin der ihr folgenden Zahlenherde. Die 2, von sanftem Ocker mit einem Schimmer Rosé darin, schwimmt versonnen dahin wie eine Ente. Die 3 ist lilienfarben, sehr rein, sehr heilig, sonntäglich. Obwohl der Duft von Lilien mir Atemnot bereitet, wirkt in der 3 nur ihr milde strahlendes Blütenweiß. Die 4 – eine wichtige Lebens- und lange meine Lieblingszahl – ist tief blau, veilchenblau. Zum Quadrat gefügt, präsentiert sie sich in akkurat rechtwinklig stählernem Schwarzblau. Im lebendigen Geschwisterquartett wiederum, lockerer gefügt als im strengen Quadrat (drei Brüder, als vierte ich), leuchtet sie in ihrem tiefen, dunklen Brüderblau.
Übergehen wir die freundliche strumpffarbene 5, die wie ein behaglicher Wollsocken ist, sowie die silbrige, immer auf Erfolg und Gewinn ausgerichtete 6 und kommen zu meiner absoluten Lieblingszahl, der 7. Wann sie die 4 ausgestochen hat oder ob sie schon immer, wie ich vermute, neben ihr herlief, weiß ich nicht. Die 7 ist grün. Wiesengrün. Paradiesisch grün. Metaphysisch grün. Sie läßt sich, trifft man nur den Zauberton, wunderbar mit dem dunklen Blau kombinieren. Auch wenn es mir eine Weile so schien, 4 und 7, Dunkelblau und Wiesengrün, konkurrieren nicht, so wenig wie die Veilchen mit der Wiese, in deren feuchten Gründen sie ihrer Entdeckung harren. Vom vierblättrigen Kleeblatt, dessen geheime Winkel Kinderwissen sind, zu schweigen.
Natürlich gibt es noch mehr Lieblingszahlen, die es auch nur sein können, weil einige andere es nicht sind. So habe ich ein schwieriges Verhältnis zur 8. Sie ist magentafarben – eine Farbe, die, zu grellem Pink gesteigert, mir ein wirkliches Ärgernis ist. Sie beleidigt die Sinne, tut mehr als nur den Augen weh. Die 8 als solche aber bewahrt ohne derartige Steigerung eine gewisse Zurückhaltung, ihr blauroter Mischton hält auf Abstand, nie weiß ich, ob sie mir wohlwill oder nicht. In ihrer Doppelung, sprich 88, oder in weiterer Vervielfachung intensiviert sich die Farbe, und je dunkler, desto angenehmer, ja vornehmer wird sie. Die 9 ist ebenso faszinierend wie unheimlich. Fast schwarz, ist sie die Todeszahl.
Tod und Vollendung. Schwarze Verhüllung. Transzendenz. Ein Rest von Blau wirkt noch darin. Daher die Faszination. In der 19 aber hat sie alles Transzendente verloren, hier erscheint sie nur noch negativ. Diesseitig, ohne jeden Farbenhof, unansehnlich in ihrem abgeschabten stumpfen Schwarz, erinnert mich die Zahl an die physische Seite des Todes. Auch als Primzahl, durch nichts als sich selber teilbar, vermag die 19 ihr Ansehen nicht zu verbessern. An jedem 19. August erlebe ich überdies atmosphärisch, an Licht und Geruch den Übergang zum Herbst, noch ehe ich mir des Datums bewußt geworden bin. Ein Abschied. Die 10 wiederum trägt einen mittelgrauen Anzug, kleines Karo, ein Bürotyp, korrekt, freundlich-beflissen, ein bißchen langweilig. Immerhin hat er, sprich sie, die Null im Gepäck, die nicht zu unterschätzen ist. In ihrer Tarnkleidung ist die 10, Begründerin des Dezimalsystems, wichtiger, als sie erscheint. Keine Dekade, kaum eine Maßeinheit ohne sie. Die 11 indessen ist sehr geheimnisvoll: ein hauchdünnes weißgraues Gespinst, an dem die Elfen und Feen, die Nebel, Gespenster und Geister weben. Märchenhaft. Ich mag sie gern. Mit dem Karneval hat sie in meinen Augen nichts zu tun – das wäre viel eher Sache der schrägen, spottlustigen 13.
Die 12 ist eine weitere Lieblingszahl, mit einer weiteren Lieblingsfarbe: dem Goldbraunbronzeton. Die ocker-roséfarbene 2 hat sich hier gewissermaßen vergoldet, vergrößert, gewölbt und gerundet – statt des schwimmenden Entleins lagert hier majestätisch: ein Löwe! Zugleich ist bei der 12, mehr als bei den anderen Zahlen, der Unterschied wichtig, ob sie sich als Ziffer oder als Wort präsentiert. Im Klang sind beide gleich, als Ziffer jedoch erscheint mir die 12 nur goldbraun, wie ein schön gebackenes Brötchen. Als ausgeschriebenes Wort aber ist die Zwölf der Löwe: dahingelagert mit seinem schweren Rumpf und dem mächtigen Kopf mit der Mähne, der sich um den Wortleib schmiegende Schweif mit der krausen Quaste läuft sinnfällig aus im grau-lila Buchstaben F. Zwölf: ein hoch sich wölbendes und zugleich in sich ruhendes Wort. Goldbraun, mähnen stolz, majestätisch – von löwenhafter Evidenz.
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SINN UND FORM 4/2015, S.497-508, hier S.497-499