Leseprobe aus Heft 6/2012
Steiner, George
FRAGMENTE (LEICHT VERKOHLT)
Diese aphoristischen Fragmente kamen auf einer der verkohlten Schriftrollen zum Vorschein, die unlängst in einer vermutlich als Privatbibliothek genutzten Villa in Herculaneum entdeckt wurden.
Sprachliche Indizien und der Tenor der Darlegung verweisen auf das ausgehende zweite Jahrhundert nach Christus. Einige Gelehrte haben den Namen Epicharnus von Agra zur Diskussion gestellt. Doch über diesen Moralphilosophen und Rhetoriker (falls er das war) ist faktisch nichts bekannt. Zudem macht der Zustand des Papyrus die Entzifferung an einigen Stellen konjektural.
1. Wenn der Blitz spricht, sagt er Dunkelheit.
Zahlreiche Mythologien und Kosmologien schreiben dem Blitz semantische Werte zu. Blitze signalisieren. Sie verkünden und melden aufziehende Stürme. Ihre gezackten, aber grafischen Formen fordern Interpretation. Sie sind eine stumme Kalligraphie, die mitunter an islamische Buchstaben erinnert. Sie sind eine Kurzschrift, die blendend klar und zugleich rätselhaft schweigsam ist (selbst grellstes Gleißen ist geräuschlos). Am bedrohlichsten wirken sie, wenn ihnen kein Donner folgt. Wetterleuchten über einem an sich bereits zu ruhigen Meer. Der Blitz wurde als Jäger empfunden: Der Kugelblitz peitscht durchs Haus oder nagelt den Heidewanderer, den unter einem Baum Schutz suchenden Unbedachten, fest. Sind diese weißen oder blaugrünen Pfeile das mörderische Privileg von Zeus? Des vulkanischen Patriarchen auf Sinai? Hochspannungsblitzbögen lassen sich im Labor erzeugen. Der Dichter (Hölderlin) weiß, daß er, unter Lebensgefahr, versuchen kann, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.
Doch hierin steckt mehr. Man beachte die Unterscheidung zwischen »sprechen« und »sagen«. Äußerung garantiert nicht Signifikanz. Alle Formen und Codes, organische oder konstruierte, können Information vermitteln, können Emotion auslösen. Unsere bloße Existenz ist ein kontinuierliches Lesen der Welt, eine Entzifferungs-, eine Interpretationsübung in einer Echokammer, deren Volumen an Botschaften, an semiotischem Input unvergleichlich ist. Doch dies ist nicht unbedingt mit Verständlichkeit verbunden. Es gewährleistet mit seinem Potential und Ertrag an Paraphrase und Deutung nicht unbedingt Sinn. In diesem Aphorismus – hatte Epicharnus Heraklit gelesen, kannte er die zoroastrische Phänomenologie des signifikanten Feuers? – formuliert der Blitz. Er »macht Sinn« – eine ziemliche Glanzleistung. Wie hören wir sein Schweigen? Die unerklärte Metapher vom »inneren Ohr«, von mitteilsamer Stummheit mag zutreffend sein. Unausgesprochene Behauptungen sind nichts Geheimnisvolles. Siehe die Pausen in der Musik, die Leerräume, die für einige ganz maßgebliche moderne Gedichte oder Gemälde so wichtig sind. Dichter und Philosophen wie Keats oder Wittgenstein beteuern, das Wesentliche ihrer Intention liege im Unausgesprochenen, in »nicht gehörten Melodien« oder zwischen den Zeilen. Man denke an die Wendung »betäubendes Schweigen«. Oder an Kafkas Sirenen, deren Drohung darin besteht, daß sie nicht singen. Wie also sollen wir dieses Fragment lesen?
Die griechische Mythologie ringt von Beginn an mit dem fruchtbaren Paradox der Verneinung. Zu behaupten, daß ein Ding existiert, heißt auch zu postulieren, daß es vielleicht nicht existiert. Jede Substanz ist gepaart mit Nichtsein, mit der dunklen Seite des Mondes. Aber läßt sich Nichtsein denken oder sagen? Parmenides lanciert die westliche Metaphysik auf diese zugleich logische und ontologische, grammatische und substantielle Untersuchung. (Gibt es Dasein außerhalb der Grammatik?) Gibt es ein schwarzes Loch im Innersten des Seins? Was man nicht in einen Begriff fassen kann, kann man nicht aussprechen; was man nicht aussprechen kann, kann nicht sein. Worauf die Sophisten erwidern, daß die bloße Legitimität und Verständlichkeit der Frage den Status von »Nichts« validiert, daß Null beim Rechnen hilft (obwohl »Null« selbst ein späteres Hilfsmittel ist). Hegels Dialektik kehrt zu den Anfängen der Rationalität zurück. Das Prädikat hat Bedeutung, eben weil es uns sagt, was das Objekt nicht ist. Magritte gibt diesem Postulat ironischen Ausdruck – »Dies ist keine Pfeife«. Für Heidegger ist Nichtsein, »das Nicht«, der für die Unrast des Menschen ausschlaggebende wesentliche Abgrund und das Unheimliche an der Quelle des Denkens.
Der Blitzstrahl, sein aufgeladener Glanz zeigt sowohl ihn als auch das Dunkel drum herum. Er macht die Nacht sichtbar, obgleich das Geräusch Schweigen schildert. In totalem Sonnenschein, in mediterraner Mittagsglut, blitzt es nicht. Der Blitz ist nicht wahrnehmbar zu machen. Sein Nährboden ist die Schwärze der Sturmwolken oder der Nacht. So enthüllt er, »spricht« er Dunkelheit. Er entzündet gewissermaßen Widerstreit.
An seinen Orakel- und Symbolfunktionen haftet Ambiguität. Der Blitz kann signalisieren, kann Glück, Sieg in der bevorstehenden Schlacht verheißen. Er ist der Bote, den Zeus dem Kommandeur im Felde, dem Kapitän auf hoher See schickt. Aber er kann auch Verhängnis und den Zorn der Olympier ankündigen. Für die Mitglieder der Verschwörung gegen Cäsar ist er ein »Feuerregen«, ein erschreckendes Zeichen, daß »im Himmel innrer Krieg« ist. »Dunkelheit sagen« kann Ausdruck eines mysteriösen Omens, einer unbestimmten oder spöttischen Prophezeiung sein. Er kann ein Mißgeschick, eine Verfinsterung unserer Verhältnisse deklarieren. Was immer der Code ist, seine Dualität ist unentrinnbar. Mit Heraklit und den Dichtern weiß Epicharnus: kein Licht ohne Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht. Hätten wir Metaphysik ohne den abrupten Sonnenuntergang über Ionien und den Ansturm der Sterne?
Die Kosmogonie, Mutmaßungen über die Genese des Menschen, liefert eine weitere Dimension. Der Blitz beseelt die Urmaterie, den Töpferlehm. Er weckt die untätigen oder schlafenden Elemente zu organischer Vitalität. Siehe Frankenstein. Aber auch die Schöpfungsmodelle oder Erzählungen der modernen Biochemie. Elektrische Stürme von phantastischer Spannung und Dauer könnten den Beginn molekularer Interaktionen und Kombinationen hervorgerufen haben. Der Blitz könnte das Leben auf der Erde erzeugt haben. Es gab Laborversuche, fast erfolgreiche, diesen Prozeß zu simulieren, Magma- und Lehmklumpen, Wassertröpfchen mit ihrem entscheidenden Hydrogenium in organische Strukturen einzustrahlen.
Wozu jedoch die Enunziation des Dunkels in unserem Fragment? Weil das Dasein ein gemischter Segen ist, weil es einen tragischen Bruch mit dem Frieden der Untätigen verursacht, weil die Geschichte der Menschheit eine Geschichte unvergleichlichen Verschwendens und Leidens ist. »Das Dunkel wartet uns.« Oder ist dies eine allzu wörtliche Auslegung eines archaischen, vielleicht Stoischen Textes, einer postpaulinischen Unheilverkündigung? Die Mitternacht ist Samt von Salamis oder Kap Sounion. Blitzbögen von Landspitze bis Horizont. Jetzt erstrahlt das Dunkel, und vorm Nachwort des Donnerschlags werden die Sternbilder einzigartig beleuchtet.
2. Freundschaft Töter der Liebe.
Wir kennen die überragende Wertschätzung und Rolle der Freundschaft, philia, in der klassischen Empfindung. Freundschaft ist der Bonus des menschlichen Daseins, seine unverdiente Belohnung. Selbst dort, wo offenkundig, ist die homoerotische Veranlagung, kulturell sanktioniert, nur nebensächlich. Das Wunder liegt viel tiefer. Nichts übertrifft, »eines Freundes Freund zu sein« (Schillers jauchzende Wendung). Der Tod ist fast ein Privileg, wenn er einen Freund rettet. Umgekehrt ist der Verlust eines Freundes irreparabel (man kann wieder heiraten, ein Kind adoptieren). Drei Klagen über den gefallenen Freund prägen das Idiom der Verlassenheit in der westlichen Literatur und Empfindung: Gilgamesch betrauert Enkidu, Achilles Patroklos, David Jonathan.
Die Quelle der Freundschaft ist unergründlich. Sie kann einer vorübergehenden Gefahr entspringen und erfaßt unser Bewußtsein wie ein Sturmwind oder eine Melodie. »Weil er er war, weil ich ich war.« (Montaigne) Die tatsächlichen Umstände, die Daseinsmerkmale sind faktisch belanglos und unübertragbar: seien sie Wohlgestalt, Sozialverträglichkeit, Zweckgemeinschaft, geteilte Passionen oder Haßgefühle. Bekanntlich fordert E.M.Forster, eher das Vaterland als den Freund zu verraten. Wo Freundschaft zusammenschweißt, läßt Inkongruenz sich kompensieren. Ein Mensch, der gegen Freundschaft immun, der zufällig oder mit Absicht freundlos ist, ist ein Verbannter, ein Nachtwandler. Er kann keinen gesicherten Willkomm haben. Freundschaft gibt uns das Recht zu sagen: »Ich bin, weil du bist.« Umgekehrt dauert keine Kränkung länger und vernarbt keine Wunde schwerer als verratene Freundschaft. Einen Freund verraten zu haben oder von ihm verraten worden zu sein. Der Grund kann ein unbedachtes Wort, eine gewöhnliche Geste sein. Diejenigen, die gefoltert wurden, damit sie Namen preisgaben, reden von den stummen Stimmen der Freundschaft, die lauter sind als Agonie. Diejenigen, die zusammenbrachen und einen Freund in den Tod schickten, leben fortan auf Teilzeit. Das bezeugt der Dichter und Widerstandskämpfer René Char in seinen »Aufzeichnungen aus dem Maquis«.
Verzehrende, inbrünstige Freundschaft kann in Kindern reifen. Unerschütterliche Treue kennzeichnet die Adoleszenz. Parolen werden ausgetauscht, Geheimsprachen konstruiert, Rituale vollführt. Vertrautheiten contra mundum werden wichtiger als Familienbräuche. Die Pubertät ist Mai und Juni der Freundschaft. Herz und Verstand sind, wie das überholte Modewort sagt, »hin« vor wechselseitigem Bedürfnis, vor erwiderter Loyalität, vor symbiotischen Intimitäten, die so intensiv sind, daß sie zum Selbstmord führen können. Das Kaleidoskop der Erwachsenenfreundschaft ist mannigfaltig. Sie reicht über Ideologien, ethnische Hindernisse, lange Trennungen hinweg. Philia ist, wie Homer und Vergil wußten, unerläßlich für die aufopferungsvolle Unvernunft des Kampfes, für die Solidarität der Krieger angesichts des Todes. La Rochefoucaulds boshafte Bemerkung, wir trösteten uns leicht über das Mißgeschick von Freunden, enthält ein herbes Körnchen Wahrheit. Doch eben nur ein Körnchen. Wahre Freundschaft jubelt über den Ruhm des Freundes. Die Freundschaften der Alten haben ihre Zeit. Sie passen zu den Belohnungen der Erinnerung, den Spötteleien, die Krankheiten erträglich machen. Alte Freunde begegnen sich auf Parkbänken; sie schnüffeln in der Luft nach dem Geruch des Todes und teilen die schaurigen Bedrückungen der Leere. Derjenige, der am längsten lebt, redet mit sich selbst, so daß der Dialog weitergehen kann. Geriatrische Stationen, die Nokturnen der Altersheime, sind voll von solchem Gemurmel so wie Becketts »Letztes Band«. Sogar am Ende ist Freundschaft das Rätsel der dem (sündigen) Menschen gewährten Gnade.
Warum also ist Freundschaft »ein Töter der Liebe« (eros)?
Theologien, die Philosophien, die sich von ihnen herleiten, die Lieder, die wir summen, nach denen wir seit Welterschaffung tanzen – sie proklamieren, Liebe sei der Gipfel, die Krone, die höchste Gabe des Menschenstandes. Sie ist, vgl. Dante, der Antrieb des Kosmos. Das summa summarum, das Körper und Seele stimmt und vereint. Die Religionen schreiben uns vor, Gott zu lieben – nach seiner Liebe zu streben und ihr zu vertrauen. Dagegen ist die Vorstellung, Gott zum Freund zu haben, peinlich. Fleischliche Liebe, die alles bezwingende Aphrodite, zeugt das gesamte organische Leben. Spirituelle Liebe gewährt uns die Blicke, die vom Unsterblichen zu erhaschen uns vergönnt ist. Keine Vernunftgebote, keine Furcht, keine vorsorgliche Enthaltsamkeit, kein materielles oder soziales Hindernis – der tobende nächtliche Hellespont, der Kerker, in den Fidelio hinuntersteigen muß – ist stärker als die Liebe. Keine Logik, keine wohlbegründeten Symmetrien entzünden Liebe. Die einbeinige Bettlerin hat einen schönen jungen Geliebten. Abartige Liebe kann sich auf Leichen, auf Tiere richten. Die Inzesthemmungen sind schwach wie die Tabus, die Kinder unantastbar machen sollten. Liebe kann der Erfüllung entsagen; es gibt platonische Varianten und glühende Keuschheit, so erotisch wie jeder Verkehr. Das Geschlecht ist geradezu trivial belanglos: Liebe vereint Frau und Frau, Mann und Mann. Das Alter kann unwichtig sein: Alte Männer sind von jungen Frauen leidenschaftlich angeschwärmt worden. Umgekehrt ergattern ältere Frauen junge Geliebte. Eros erzeugt Eifersucht, die bis zum Wahnsinn geht. Wo Liebe verebbt, ist die Kälte ohnegleichen, Sumpfgas, das ins Sein einsickert. Gleichzeitiger Orgasmus (vermutlich selten) ist die Erfahrung, die der Aufhebung des Selbst, dem Eintauchen in den anderen am nächsten kommt. Sie ist Simultanübersetzung im höchsten Sinne. Zudem gibt es für die Instrumente des Erotischen keine Begrenzung: Schlimmste Qualen, freiwillige oder auferlegte, können zur Liebe ebenso dazugehören wie Kot. Da in Reichweite des Unstillbaren, hat Liebe ihre Vertrautheiten mit dem Tod. In poetischen Chiffren kann »sterben« sexuelle Erfüllung bedeuten. Eros und Thanatos sind unteilbar, sagt der Psychoanalytiker und echot Jahrtausende der Dichtung und Musik. Der Liebestod ist alt wie Sappho. Nur wenn wir lieben, schauen wir wirklich in den Spiegel und finden ein Bild, das nicht wir ist, das mehr ist als wir.
Wir fragen wieder: Wie kann Freundschaft ihr Töter sein? An dieser Stelle ist die Schriftrolle unversehrt.
Freundschaft kann als Kritik der Liebe gedeutet werden. Sie braucht nicht die anarchischen Imperative der Sinnlichkeit, die Forderungen und Qualen der Sexualität. Ihr Ursprung mag unklar sein, doch ihre Triebkräfte und Belohnungen sind die der Vernunft. Freundschaft ist eingebettet in Freiheit: Freiheit von dämonischer Besessenheit, von Hysterie und Fieber. Aber Freiheit auch in einem positiven, reichen philosophischen Sinn. Wo es Freundschaft gibt, gibt es gewählte, wohlbedachte Liberalität. Wir geben ohne notwendigen Nutzen oder die Gratifikationen, die im Erotischen inbegriffen sind. Man kann es als freiwilligen, aber zutiefst bedeutsamen Akt derer »in Freiheit« definieren. Sogar in höchster Leidenschaft enthält der Geschlechtsverkehr noch ein hartes Quentchen Mißtrauen (Ekstase läßt sich vortäuschen oder kaufen). Freundschaft kann zudem ungeheuer produktiv sein: für gesellschaftliches und politisches Handeln, wissenschaftliche Forschung, philosophische Beweisführung. Politischer Fortschritt, geistige Debatten, ästhetische Innovation sind größtenteils Gemeinschaftsarbeit. Sie stammt und zieht ihre Energien aus den Sternhaufen der individuellen Begabung, die in der Freundschaft kollidieren, kooperieren, konkurrieren. Liebesbriefe sind oft eintönig, ja kindisch. Die in Freundschaft gewechselten können die wahre Quelle und Werkstatt des Genies sein (Spinoza an Boxel, Goethe an Schiller, Coleridge an Wordsworth). Sexualität strebt nicht nach Gleichheit. Symmetrie der Wertschätzung, der Partnerschaft im Mut, des Schöpferruhms, des politischen Aufstiegs des Freundes ist für das Verhältnis wesentlich. Kurz – und das überzeugend zu formulieren ist schwierig –, Freundschaft ist in der Vernunft, im uneigennützigen Verständnis das, was leidenschaftlich ist. Was Denken zu Edelmut und das Herz intelligent macht.
In der Ehe, in jeder längeren erotischen Erfahrung, kann Freundschaft tödlich sein. Liebende sind keine Freunde. Drei unsterbliche Wörter sagen alles: odi et amo. Der Liebeskalender wird von Ekelschüben unterbrochen, von giftigem Gezänk, von jäher, manchmal unerklärlicher Langeweile und Gleichgültigkeit (Prousts intermittences). Die meisten Ehen, die meisten Affären halten kraft eines Kranzes von Versöhnungen, die nicht immer echt sind. Es ist nicht nur Traurigkeit, tristia, die auf coitum folgt. Es ist Verstörung, sogar Abneigung. Erloschene Libido hinterläßt einen bitteren Geschmack. Doch es gibt auch einen feineren, ambiguen Mechanismus. In der Ehe, in einem aus echter Liebe erwachsenen Zusammenleben kann die Zeit für die vollkommenen, selbstlosen Wunder der Freundschaft reif machen. Mit ihrem Humor, ihrer Geduld, ihrem wechselseitigen Engagement in Kreativität und Perzeption. Die manchmal durch Begierde verstrickten Eheleute reifen zur tatkräftigen Gelassenheit der Freundschaft. Wobei frühherbstliche fleischliche Bedürfnisse, physisches Verlangen, die Scharaden und Melodramen der Sexualität unwirklich, infantil (wie die Babysprache der Verzückten) werden. Leidenschaftslos wahrgenommen, wirken die Sexakrobatik, ihre Gerüche, das von ihr ausgelöste brünstige Stöhnen lachhaft, wenn nicht gar widerlich. Diese Stellungen, diese Erfüllungs-Mimikry (man frage die Frauen!). … Freundschaft braucht weder Bestechung noch »Sexspielzeug«, ein bezeichnendes Etikett, noch Vaseline. Freud hielt Sex nach fünfundvierzig für irgendwie erniedrigend.
Diese Auslöschung des Eros durch die Freundschaft, diese Metamorphose in der Ehe, verlangt Erwachsensein und Glück. Dies ist womöglich der Grund, daß Freundschaft zwischen Männern und Frauen ein privilegierter, vielleicht seltener Umstand ist, besonders in jungen Jahren. Ich kann mich irren, aber diese Modulation von eros zu philia und der gleichzeitige Rückgang von amor ist ein wichtiges Thema, das von der klassischen und der modernen Prosa ignoriert wurde. Wir haben keinen großen Roman, der zeigt, wie Liebende zu Freunden werden (obwohl George Eliot das Können dazu besaß). So gesehen kann Freundschaft tatsächlich der »Töter« der Liebe sein. Wirbelnde Flüsse sterben in der Ruhe des Meeres.
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Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 6/2012, S. 725-752