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Heftarchiv – Leseproben

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Printausgabe vergriffen

Leseprobe aus Heft 2/2009

Karlauf, Thomas

Meine Jahre im Elfenbeinturm


I

 

Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. Klasse von Frankfurt (Main) Hbf nach Amsterdam, ausgestellt auf den 7. August 1974, Preis DM 56,60. Der Zug trug den herrlichen Fernwehnamen »Wien-Holland- Expreß«. In Wiesbaden wurde die Lok ans andere Ende gespannt, dann ging es gemütlich den Rhein entlang. Zwei Monate vorher hatte ich Abitur gemacht. Weil ich in Griechisch ohnehin verloren war, hatte ich mich mit zwei Klassenkameraden zusammengetan, um es wenigstens in Mathematik noch auf die rettende Vier zu schaffen. Nachmittags trafen wir uns, um sogenannte Kurven zu diskutieren. Wer sich als erster erbarmte, ging zum Plattenspieler und legte die einzige Platte auf, die wir in diesen Wochen hören mochten: Dylans »Highway 61 Revisited«. Spätestens beim fünften Lied der A-Seite war es mit dem Lernen vorbei. »Because something is happening here, but you don't know what it is«, krächzte Dylan, und grölend stimmten wir jedes Mal ein in den Refrain: »Do you, Mister Jones?« Dann holten wir uns was zum Durchziehen, und während die Scheibe zum dritten oder vierten Mal abgenudelt wurde, verflüchtigten sich unsere Kurven in süße Rauchringe.
Der von Dylan verspottete Mister Jones - so viel stand fest - war ein Idiot, ein intellektueller Streber, einer, der kluge Bücher las und glaubte, überall mitreden zu können. Bis er eines Tages in eine merkwürdige Gesellschaft geriet, in der ihm die abstrusesten Dinge widerfuhren und er jede Orientierung verlor: »Give me some milk or else go home.« - »Ballad of a Thin Man« zählt zu den großartigsten Dylan-Songs überhaupt und ist ziemlich deftig; geschildert wird eine Art früher Swingerparty in der Schwulen- und Transvestitenszene von Greenwich Village. Die sexuellen Anspielungen des Textes blieben mir zwar verborgen. Aber selbst wenn ich die Obszönitäten verstanden hätte - »Here is your throat back, thanks for the loan« -, wäre ich mit Mister Jones kaum nachsichtiger gewesen; er war und blieb ein Spießer.
Was ein Spießer ist, weiß ein heller Junge in diesem Alter sehr genau. Spießer waren zum Beispiel die Klassenkameraden, die nach dem Abitur eines dieser öden Studienfächer belegten, die schon ihren Vätern zur Karriere verholfen hatten. Auf die Idee, bei einer Literaturzeitschrift in Amsterdam, die keiner kannte, eine Lehre zu absolvieren, wären sie nicht einmal gekommen, wenn man ihnen die Lehre bezahlt hätte. Spießig war die Deutschlehrerin, die ich davon hatte überzeugen wollen, daß Stefan George nun wirklich bedeutender war als Rilke. Als sie mir am letzten Schultag die Hefte des »Castrum Peregrini« zurückgab, die ich ihr zur Nachhilfe ausgeliehen hatte, lag eine Ansichtskarte bei: »Gott segne Sie und Ihren Idealismus!« Pikanterweise zeigte die umseitige Abbildung einen nackten griechischen Jüngling. Dabei war die Deutschlehrerin gar nicht so übel, und ich hatte ihr zum Lohn die schönsten Hölderlin-Aufsätze geschrieben, die sie wohl je zu lesen bekam.
Am spießigsten war natürlich meine Mutter. Sie platzte vor Neugier, traute sich aber nicht, den einzig relevanten, für sie als Mutter aber unaussprechlich heiklen Punkt, was sich denn da nun zwischen den Männern in diesem Amsterdamer Kreis abspiele, mir gegenüber zur Sprache zu bringen. Nur in Gegenwart meines Vaters wagte sie sich bisweilen ein Stück vor; dann sprach sie etwa so, wie der Biologielehrer im Aufklärungsunterricht von den Bienen gesprochen hatte, bis mein Vater, dem das Ganze wohl ziemlich klar, aber sichtlich unangenehm war, ihr den Mund verbot. Heute glaube ich, daß der Grund ihres in Andeutungen sich erschöpfenden Schweigens nicht mangelnde Aufrichtigkeit oder fehlender Mut war, sondern die Sorge, mich, ihren einzigen Sohn, zu verlieren. Am Ende war sie aber vor allem stolz, daß dank der gewaltigen Dimension des Großen Geistigen, das sich ihrem Sohn durch Aufnahme in den George-Kreis eröffnete, sogar für ihre eigene Bildungsgeschichte noch etwas abfiel.
"How does it feel to be such a freak«, sang Dylan unterdessen zum hundertsten Mal, »and you say ›impossible‹, as he hands you a bone.« Ich hielt den »Knochen« für eine Dylansche Metapher und rätselte stets aufs neue, um welchen besonderen Knochen es sich wohl handelte.
Im Oktober 1970 war ich auf der Frankfurter Buchmesse von Wolfgang Frommel, dem Gründer und nimmermüden Spiritus rector der George-Zeitschrift »Castrum Peregrini«, angesprochen worden. Ich war fünfzehn und besserte mein Taschengeld auf, indem ich am Nachmittag den »Rheinischen Merkur« verkaufte. Aufmacher der Messe-Woche war ein Artikel über Richard Nixon; an das dazugehörige Porträtfoto erinnere ich mich gut, weil es mir hämische Bemerkungen der in Scharen vorbeiziehenden Achtundsechziger in ihren für den Bücherklau präparierten viel zu großen Parkas eintrug. Einmal blieb ein älterer Herr mit langem weißem Haar stehen. »Was für eine interessante Zeitung Sie da haben«, meinte er. Was ich denn so machte, wenn ich keine Zeitungen verkaufte. »Ach, Sie gehen auf das Gymnasium, wie interessant.« Alle Antworten, die ich dem Herrn auf seine neugierigen Fragen gab, quittierte er so - »ach, wie interessant«. Daß es ein humanistisches Gymnasium war, daß ich gern malte, daß ich katholisch war - alles fand er furchtbar interessant.
Am nächsten Tag kam er wieder, um eine Zeitung kaufen. Als ich ihn darauf hinwies, daß es sich beim »Rheinischen Merkur« um ein Wochenblatt handele, meinte er etwas verlegen, er habe gar keine Zeit gehabt, die Zeitung zu lesen, er kaufe mir aber gern ein zweites Exemplar ab. Ein weiterer Herr, der deutlich jünger war, vielleicht Anfang vierzig, und den ich beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, stand diesmal etwas näher. »Das ist der Verleger unserer Zeitschrift«, sagte der Weißhaarige, »kommen Sie doch einmal an unserem Messestand vorbei.« Später legte der Jüngere stets großen Wert darauf, daß er es war, der mich als erster gesehen oder - wie es in der Sprache der Georgeaner hieß - mich »entdeckt« hatte. So werden Stammbäume des Geistigen begründet.
Ich besuchte die Herren in ihrer Koje, und eh ich mich versah, hatte ich für die zwei Wochen später beginnenden Herbstferien eine Einladung nach Amsterdam. Die Stadt galt als Hippiezentrum und war besonders bei der Afghanistan-Fraktion angesagt; einen bestickten Hirtenmantel besaß ich schon, und die Chance, da mal vorbeizuschauen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Meine Mutter hatte schlaflose Nächte. Nachdem ein halbes Dutzend Professoren und sonstiger Honoratioren ihr telefonisch versichert hatte, es könne im Leben eines Fünfzehnjährigen gar nichts Großartigeres geben, als von Wolfgang Frommel eingeladen zu werden, schämte sie sich wohl ein wenig, überhaupt auf abwegige Gedanken gekommen zu sein, und gab ihre Zustimmung unter der Bedingung, daß ein Freund mitfuhr.
[...]

Sinn und Form 2/2009, S. 262-264