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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 1/2008

Müller-Waldeck, Gunnar

Woyzeck in Umeå


Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in Kleinasien, Griechenland, Ägypten. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen bereitete diesen Reisenden kaum Kopfzerbrechen. Nicht jeder konnte sich das leisten. Doch auch viele Plebejer brachten es auf beachtliche Kilometerzahlen. Ihr Herumreisen in der Welt war freilich nicht Bildungsidealen und geistigen Interessen geschuldet, sondern allein ihrem Stand - sofern sie etwa Bedienstete oder Soldaten waren. Ein solch militärischer und damit eher unfreiwillig Reisender war Johann Christian Woyzeck, dessen Schicksal im 19. Jahrhundert nicht mehr als eine Marginalie war. Er war einer jener namenlosen kleinen Leute, die höchstens von der Statistik erfaßt werden. Allein der Zufall hat uns seinen Namen überliefert, und daß sich ein Dramatiker seines Geschicks annahm, bescherte ihm einen gewissen Ruhm, von dem er nichts mehr hatte, da er erst mit seinem Tode einsetzte. Er war nämlich der letzte, der in Deutschland öffentlich geköpft wurde: am 27.August 1824 vor dem Leipziger Rathaus wegen Mordes an seiner Geliebten.
1780 in Leipzig geboren und früh verwaist, kann er seine Lehre in der Kunst des Frisierens und Perückenmachens nur mit Mühe abschließen. Danach geht er auf die Walz, kommt nach Wurzen, Töplitz, Wittenberg, hat allerdings nicht viel Glück, denn Gesellen waren teurer als Lehrlinge und wurden ungern eingestellt. So fristet er sein Dasein als Diener von Adligen, ehe er schließlich 1806 mit den Preußen gegen Napoleon zieht. Ob freiwillig oder nicht, für die nächsten zwölf Jahre war sein Schicksal jedenfalls besiegelt. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt wurde er von den Franzosen im mecklenburgischen Grabow gestellt, in eine holländische Uniform gesteckt und in einem Hilfsregiment nach Norden geführt. Vor Stralsund ging es am 7. April 1807 gegen die Schweden - und nach der Niederlage auch nach Schweden: in Internierung und Gefangenschaft - und bald auch in eine andere Armee (Gefangene durchzufüttern war seinerzeit nicht üblich). Der Zwangs-Schwede wurde nach Stockholm verlegt und bald darauf in den nächsten Krieg verwickelt: Woyzeck schoß in Finnland auf die Russen und mußte froh sein, daß er die Rückzugsaktionen General von Klingspors und die Fehldispositionen des Generalstabschefs Karl von Adlercreutz bei Oravais in Nordfinnland überlebte. Hier kam es am 14.September zu einer der blutigsten Schlachten des Krieges, in der die Russen die Oberhand behielten. Die Gefangenschaft blieb dem Leipziger diesmal erspart und damit auch die Einkleidung in wieder eine andere Uniform. Sonst hätte der Friseurgeselle womöglich in russischen Diensten gegen die Türken gekämpft oder gegen die napoleonischen Truppen, bei denen einst sein Elend begonnen hatte. Nein, Woyzeck gelangte wieder nach Schweden, weil die Kommandeure, von den Russen getrieben, wenigstens den Rückzug auf dem Landweg um den nördlichen Bottnischen Meerbusen herum schafften. Aber um welchen Preis, berichtet Wolrad Eigenbrodt: »Im Dezember mußten die Reste des finnländischen Heeres, das Vaterland in den Händen des Feindes lassend, in jammervollem Zustande die Grenze überschreiten. Auf schwedischem Boden in und um Torneå verbrachten sie einen furchtbaren Winter. In zerrissenen Kleidern und ohne Bedeckung auf dem Boden liegend, gingen Hunderte an Kälte und Krankheit zugrunde. Gleichwohl wurde im Frühjahr 1809 mit ungebrochenem Mut gegen die nachrückenden Russen weitergekämpft. Aber der sonst so tapfere General Gripenberg mußte, völlig verzweifelt angesichts der Übermacht, trotz heftigen Widerspruchs seiner Offiziere und Mannschaften, am 25.März bei Kalix kapitulieren.«(Kommentar zu Johann Ludvig Runeberg, »Fähnrich Stahl«, Helsingfors 1907)
Die Rückzugsgefechte dauerten noch bis zum Sommer und erstreckten sich bis kurz vor Umeå, wo im Dorf Sävar die Kapitulation erfolgte. Finnland fiel an die Russen. In Umeå steht jetzt ein Denkmal auf dem Platz, wo Woyzeck von seinem letzten Feldherrn, General Georg Carl von Döbeln, verabschiedet wurde. Natürlich nicht per Handschlag und schon gar nicht allein. Im heutigen Döbeln-Park zelebrierte der General am 8. Oktober 1809 den Abschiedsappell vor den »geretteten« Verbänden. Der kleine Sachse dürfte von der feierlichen Rede nicht viel verstanden haben, vielleicht nur die auch für deutsche Ohren vertraut klingende Anrede »Soldater! Kamerater! Broeder!« (die Rede liegt gedruckt vor), aber er wußte, worum es ging, oder, besser, wohin es ging: nämlich durch ganz Schweden ins über tausend Kilometer entfernte Stralsund, wo er Glück und Ruhe zu finden hoffte. Aber die Stadt wurde gerade von den Franzosen belagert. Der hoffnungsfrohe Heimkehrer geriet abermals in Gefangenschaft, erhielt wieder eine andere Uniform, diesmal die mecklenburgische, und wurde, ungefragt, unter der Fahne einer Rheinbundmacht, Verbündeter des großen Korsen, der Zurüstungen für den Rußlandfeldzug traf. Überliefert ist der Name einer jungen Frau, der Wienbergerin, mit der er ein Kind zeugte, die ihm aber nicht treu gewesen sein soll. Kurz bevor der Franzosenkaiser gegen Rußland zog, desertierte Woyzeck - eine der wenigen eigenständigen Handlungen des völlig fremdbestimmten Soldaten - zu den Schweden, die ihm nach seinen wechselvollen Erfahrungen die kulantesten Herren zu sein schienen.
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SINN UND FORM 1/2008, S. 136-138