Leseprobe aus Heft 3/2012
Cărtărescu, Mircea
Gespräch mit Anke Pfeifer
ANKE PFEIFER: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie »Orbitor« beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung?
MIRCEA CĂRTĂRESCU: Es wäre sehr traurig, wenn ich das immer noch glaubte. Als ich es seinerzeit sagte, lastete auf mir der kolossale Druck der vierzehn Jahre, die ich an »Orbitor« geschrieben hatte. Ich verspürte eine akute Erschöpfung, die über ein Jahr anhielt. Nach dieser Trilogie, in der ich versuchte, mich eins zu eins abzubilden, wobei ich nicht weiß, ob mir das gelungen ist, war es wirklich schwierig, weiter zu schreiben. Inzwischen habe ich es jedoch geschafft, das Buch zu vergessen, und bin versessen darauf, etwas Neues zu schaffen.
PFEIFER: Ich nehme an, es wird sich wieder um Prosa handeln, sagten Sie doch kürzlich bei einer Lesung in Berlin, daß Sie keine Poesie mehr schreiben.
CĂRTĂRESCU: Poesie bedeutet zweierlei. Einerseits eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu verstehen, sie mit den Augen eines Kindes zu sehen, vor aller intellektuellen Erfahrung. So gesehen gibt es Dichter, die nie ein Gedicht geschrieben haben. Ich habe versucht, für immer Kind oder Heranwachsender zu bleiben, gerade aus diesem Bedürfnis nach Poesie heraus, das ständig in mir ist. Ich lese viel, ganz unterschiedliche Sachen, und überall suche ich die Poesie. Selbst wenn ich einen realistischen Roman, ein Buch über Biologie oder Theologie oder auch die Bibel lese – bei allem interessiert mich hauptsächlich diese besondere poetische Weise, die Dinge zu betrachten. Aber Poesie bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich ein literarisches Genre mit spezifischen Regeln, wobei mir die offensichtlichste Regel am wichtigsten erscheint: daß die Zeilen am linken Seitenrand beginnen und nicht bis zum rechten gefüllt werden. In diesem Sinne schreibe ich keine Verse mehr, wohl aber Poesie in Form von Romanen, Essays, Tagebüchern. Ich fühle, daß ich genau zu dem Zeitpunkt mit der Lyrik aufhörte, als ich nicht mehr in der Lage war, konzentriert und wahrhaftig Gedichte zu schreiben. Daher bin ich froh, daß ich die Kraft hatte, auf dieses Genre zu verzichten. Neben den sechs oder sieben Lyrikbänden aus meinem frühen Schaffen gibt es noch einen, den ich bisher nicht publiziert habe. Es war der letzte, den ich seinerzeit geschrieben hatte, und derjenige, bei dem mir wirklich klarwurde, daß sich meine poetischen Quellen erschöpft hatten. Damals war ich unzufrieden und habe ihn nicht publiziert. Heute möchte ich ihn als eher psychologisches denn ästhetisches Dokument herausgeben. Als ich ihn nach so langer Zeit in einem Schuhkarton entdeckte und wieder las, schien er mir überraschenderweise frisch und interessant, weil er wie heutige Lyrik klang. Und so habe ich gedacht, daß eine Veröffentlichung durchaus interessant sein könnte. Der Band heißt »Nimic« (Nichts) und ist ein Kontrapunkt zu dem in meiner Jugend entstandenen Band »Totul« (Alles).
PFEIFER: »Levantul« (Levante), ein Poem, das Sie für Ihr bestes lyrisches Werk halten, erschien 1990 und war auch Ihr letztes. War Ihr Abschied von der Lyrik gerade zu diesem Zeitpunkt Zufall oder hatte er auch mit anderen Dingen zu tun, zum Beispiel mit den tiefgreifenden Veränderungen im damaligen Rumänien?
CĂRTĂRESCU: »Levantul« war ein Abschied von der Jugend und eine Art Quintessenz von Formen der rumänischen Literatur, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Geltung hatten. Das Buch hat gleichsam eine Kunstepoche beendet, sagen wir, die Moderne der rumänischen Lyrik, und etwas anderes eingeleitet, sagen wir, die Postmoderne. Es ist neben »Nostalgia« und »Orbitor« mein bestes Buch. Aber die Tatsache, daß ich zur Prosa gewechselt bin, ist auch einer äußeren Ursache geschuldet, nämlich der Existenz zweier verschiedener Literatenkreise, in denen ich gleichzeitig verkehrte. Es gab den von Nicolae Manolescu geleiteten »Cenaclu de luni« (Montagskreis), der sieben Jahre lang, von 1977 bis 1984, bis er wegen angeblicher Subversivität aufgelöst wurde, wöchentlich Sitzungen durchführte, an denen ich immer teilnahm. Außerdem ging ich noch zum Literaturkreis »Junimea« (Jugend) unter der Leitung von Ovid S. Crohmălniceanu. Während im »Montagskreis« überwiegend Lyrik gelesen wurde, war die »Junimea« ein Treffpunkt für Prosainteressierte. Meine besten Freunde waren Prosaisten, und für mich war das Schreiben von Prosa eine Art Hommage an diese Menschen. Zunächst entstanden fünf Erzählungen, die später genau in der Reihenfolge ihres Entstehens den Band »Nostalgia« bildeten. Angefangen habe ich mit dem »Roulettespieler«, den ich mit Erfolg im Literaturkreis vortrug, so daß ich mich entschloß, mit längeren Erzählungen weiterzumachen. Die einzige Erzählung, die ich dort nicht mehr lesen konnte, ist »Rem«, meiner Meinung nach die beste des Bandes. Dann habe ich mich entschlossen, Berufsschriftsteller zu werden, eine Entscheidung, die zumindest in den neunziger Jahren fortwährend Zweifel und Krisen nach sich zog.
PFEIFER: Was sagten Ihre Eltern damals zu Ihrer künstlerischen Betätigung?
CĂRTĂRESCU: Sie haben mich nicht gerade ermutigt, im Gegenteil. Als einfache Leute ohne große kulturelle Bildung waren ihnen meine modernen Gedichte völlig unverständlich. Erst sehr viel später, vielleicht im Zusammenhang mit dem relativen materiellen Erfolg, begriffen sie, daß ich etwas Ernsthaftes machte. Doch wegen ihrer Aufrichtigkeit sind sie mir lieb und teuer. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie es mir direkt gesagt.
PFEIFER: Für die 80er Generation war Schreiben Lebensersatz, Flucht aus der Wirklichkeit. Sie selbst sagten einmal, daß Sie bis zu Ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr, also bis 1990, im wesentlichen in Büchern gelebt haben. Wie ist das heute?
CĂRTĂRESCU: Ich würde nicht sagen, daß das Verfassen von Literatur für uns damals eine Flucht aus der Wirklichkeit war. Im Gegenteil, die Realität bedeutete einen Rückzug vom Schreiben, einem Schreiben, das uns alles bedeutete. Wir waren jung, naiv. Wir konnten Rumänien nicht verlassen und somit unsere Situation nicht wirklich einschätzen. Wir hatten den Eindruck, die Realität müsse so sein, wie sie war, und die Literatur half uns zu überleben, durchzuhalten. Meine Kollegen und ich haben unter gräßlichen Bedingungen gearbeitet, aber die Literatur, die wir schufen, wird für immer die Literatur jener Zeit sein. Wir haben versucht, wie freie Menschen zu schreiben.
PFEIFER: Waren die Literaturkreise nicht eine Art Parallelwelt?
CĂRTĂRESCU: Eigentlich war die Wirklichkeit eine Parallelwelt der Literaturkreise, denn die waren für uns die Normalität. Es gab in den achtziger Jahren einen kulturellen Aufbruch, trotz Dunkelheit, Kälte und Elend. Es gab ein kleines normales Rumänien inmitten eines immensen paranormalen Rumänien. Ich weiß nicht, wie es zur Rede vom Widerstand durch Kunst gekommen ist. Eigentlich zählte nur die Kultur, sie war weder Widerstand noch Flucht. Sie war real, während die übrige Realität meiner Meinung nach anormal war.
PFEIFER: Sie sind heute nicht nur Schriftsteller, sondern auch Wissenschaftler, lehren seit zwanzig Jahren als Dozent für rumänische Literatur an der Bukarester Universität und sind dort seit 2007 Professor. Wie ist das Verhältnis zwischen künstlerischer Praxis und ästhetischer Theorie? Kontrollieren Sie sich beim Schreiben? Oder beschreiben und erklären Sie nun, wie Sie schreiben?
CĂRTĂRESCU: Die Verbindung von Literaturtheorie und -praxis definiert den Schriftsteller meiner Generation. Die große Mehrheit sind heute Universitätsprofessoren, entweder in Rumänien oder im Ausland, viele sind außerdem noch Literaturkritiker. Wir haben uns nicht zur Boheme berufen gefühlt und waren vielleicht die erste Generation, die die eigene wie die Literatur im allgemeinen intellektuell verstehen wollte. Für uns war es ganz natürlich, auch Essays und Studien zu schreiben, und so schrieb ich meine »Rumänische Postmoderne«.
PFEIFER: Das war Ihre Promotionsschrift, über eine Richtung, die von Ihrer Generation in die rumänische Literatur eingeführt wurde.
CĂRTĂRESCU: Einem Dichter hilft es sehr, wenn er sich in der Geschichte der Dichtung auskennt oder den Ideenroman als Teil eines literarischen Systems versteht. Heute ist dieses System verfallen, die Literaturgeschichte wurde plattgemacht, und das ist ein großer Verlust, weil das einzelne Werk ohne seine Vorgänger nur schwer zu verstehen ist. Bücher bilden ein System, in dem eins das andere beeinflußt und reflektiert.
PFEIFER: Was ist das Spezifische an der rumänischen Postmoderne?
CĂRTĂRESCU: Inzwischen verwende ich diesen Begriff nicht mehr gern, erscheint mir abgegriffen. Was mich anbetrifft, habe ich dazu alles gesagt.
PFEIFER: Aber was bedeutete er damals für Sie und Ihre Generation?
CĂRTĂRESCU: Wir entdeckten die Postmoderne im Vergleich zum Westen ziemlich spät, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Meine Generation benutzte den Terminus, um einen Bruch mit der europäischen Dichtungstradition zu markieren und eine neue Tradition zu schaffen, die ihren Ausgangspunkt in der amerikanischen Literatur hatte. Aber wir verwendeten ihn in erster Linie ideologisch im Sinne einer literaturpolitischen Konfrontation und erst in zweiter Linie ästhetisch oder theoretisch, und außerdem hatte jeder seine eigene Vorstellung davon.
PFEIFER: Ihre Generation wollte mit allen Traditionen der rumänischen Literatur brechen und etwas ganz Neues schaffen. Heißt das, daß es für Sie keine Vorgänger gab, an denen Sie sich orientierten?
CĂRTĂRESCU: Doch, doch. Wie im Leben, verbünden sich auch in der Literatur die Enkel oft mit den Großeltern. Unsere Gegner waren die Dichter der siebziger Jahre, die eine Art Spätmoderne bedienten, düster, expressionistisch, schwer, während unsere Literatur meist ironisch, spielerisch und humoristisch war. Im »Montagskreis« lachten wir die ganze Zeit, wir waren aus einer Art Kränkung heraus fröhlich. Dafür gab es Vorbilder, am meisten schätzten wir Ion Luca Caragiale, Tudor Arghezi, Nichita Stănescu. Wir hatten nie das Gefühl, daß die rumänische Literatur mit uns beginnt.
PFEIFER: Welche Rolle spielten für Sie die Vertreter der rumänischen Geisteselite der 1930er Jahre, also der Generation von Mircea Eliade, Emil Cioran, Constantin Noica, denen nach1990 besondereAufmerksamkeit geschenkt wurde?
CĂRTĂRESCU: Wir waren ihnen nicht gewogen. Unsere Gruppe Bukarester Schriftsteller aus dem Literaturkreis nahm gegenüber Noica und seinen Nachfolgern Andrei Pleşu und Gabriel Liiceanu eine sehr kritische Haltung ein. Genauso kritisch beurteilten wir die sogenannte Generation ’27 mit Mircea Vulcănescu, Petru Comarnescu, Eliade, Cioran usw. Deren rechte, ja rechtsextreme Ideologie war uns suspekt. Wir hatten durch unsere Mentoren, in erster Linie Nicolae Manolescu, eine liberale Bildung erhalten, und uns gefielen diese ideologischen Übertreibungen nicht. Später wurde mir allerdings bewußt, daß unsere Zeitgenossen Liiceanu oder Ples¸u und einige andere, die die Gruppe von Păltinis¸ unter Noica besucht hatten, zwar deren Vorstellungen über Kultur akzeptiert, ihre Ideologie jedoch abgelehnt hatten. Sie hatten Mut und Verstand genug, das geistige Erbe dieser großen Denker, Schriftsteller, Künstler anzunehmen und von ihrer beschämenden Politik zu trennen. Cioran ist ein außerordentlicher Stilist und als solcher mit Tudor Arghezi vergleichbar, aber ein Buch wie »Schimbarea la faţă a României« (Die Verklärung Rumäniens) kann ich nicht ertragen. Immerhin hat er sich später davon losgesagt.
PFEIFER: Und wie steht es mit Mircea Eliades phantastischer Literatur? Das Phantastische spielt doch auch bei Ihnen eine wichtige Rolle.
CĂRTĂRESCU: Die rumänische Phantastik ist diejenige Eminescus. Er ist der Urvater aller Rumänen, die phantastische Literatur geschrieben haben, ein Phantastiker deutschen Typs, schließlich konnte er seit seiner Schulzeit in Czernowitz Deutsch und lebte fünf Jahre in Wien und Berlin. Er war innig vertraut mit der deutschen Literatur, mit Novalis, Chamisso, Jean Paul, Bettina von Arnim usw. Er schuf in der Tradition der deutschen Romantik eine Welt, in der sich das Ich bis an die Grenze des Universums ausdehnt. Eliade setzte diese Linie fort. Auch er erschafft in seinen Büchern über Zeit und Raum, über das Heilige und das Profane usw. solch eine phantastische, ideale, mystische Welt. Unsere Generation mochte das Phantastische nicht so sehr, weil es uns literarisch gesehen ziemlich nutzlos schien. Wir schätzten Eliade für seine Geschichte der Religionen. Später wurde mir überraschend klar, wie sehr Eliade meine eigene Prosa doch beeinflußt hat. Es war eine Art Reminiszenz und offenbar ein unterbewußter Vorgang. Meine Prosa nimmt direkt auf Eliades Prosa Bezug, zum Beispiel auf sein Buch »Auf der Mântuleasa-Straße«. Als ich es las, hat es mich nicht sonderlich beeindruckt. Doch die Geschichte ist wie eine Art Jerichorose, kommt sie mit Wasser in Berührung, entfaltet sie sich. Als ich sie später noch einmal las, wurde mir klar, daß die Themen und Motive in mir weitergewirkt hatten.
PFEIFER: Woher kommt diese Vorliebe rumänischer Autoren für das Phantastische?
CĂRTĂRESCU: Die Rumänen sind eben Lateiner, wie die Südamerikaner. Eine Erklärung dafür ist wohl die reiche Imagination, die wir bei Cervantes finden, dem großen Vater der hispanoamerikanischen Literatur, und dann bei dieser ganzen Pléiade südamerikanischer Schriftsteller, von Márquez bis Cortázar und Sábato, sie alle schreiben phantastische Literatur. Und wie Rumänien mit seinen Kontrasten zwischen Arm und Reich, Legal und Illegal eine Art versprengtes südamerikanisches Land ist, so ist auch die rumänische Literatur eine Art Exklave der südamerikanischen Literatur.
PFEIFER: Als ich »Orbitor« las, dachte ich auch an Gabriel García Márquez und seinen magischen Realismus.
CĂRTĂRESCU: Außerdem scheint das Phantastische eine Kompensation für karge, flache Landschaften zu sein. Wo es die Pampa gibt, oder Wüsten, oder weite Ebenen, wie bei uns im Süden Rumäniens den Bărăgan, entwickelt sich eine Literatur des Onirischen, Phantastischen. Wenn man einen Monat in einer dunklen Höhle verbringt, reagiert man mit Halluzinationen. So ist es auch mit der Literatur aus der Ebene.
PFEIFER: In »Orbitor« gehen Sie zu den Wurzeln der Erschaffung des Menschen im organischen und geistig-religiösen Sinn zurück. Eine Art Ariadnefaden führt durch eine labyrinthische Lebenswelt, die gleichermaßen körperlich und geistig ist. Welche Erkenntnisse haben Sie für sich beim Schreiben gewonnen, und was wollen Sie dem Leser vermitteln?
CĂRTĂRESCU: Über »Orbitor« zu reden vermeide ich nach Möglichkeit, weil ich das Buch selbst noch nicht ganz verstehe. Ich bin dankbar, daß ich es schreiben konnte, und warte darauf, daß andere, Kompetentere, es mir erklären. Ich kann nur sagen, daß ich es mit großer Freude, aber ohne jeden Plan geschrieben habe, so wie Termiten ihre Hügel errichten – ohne zu wissen, was sie tun. Und doch entsteht letztlich ein raffinierter Bau mit Gängen, unzähligen Kammern usw. In den fast fünfzehn Jahren, die ich an dem Buch gearbeitet habe, konnte ich nicht anders, als so vorzugehen. »Orbitor« ist eine genaue Karte meines Verstandes, meines Gehirns. Gödels berühmte Theorie besagt, niemand könne ein System beschreiben, dem er selbst zugehört. Daher kann ich nur wenig über dieses Buch sagen. Sicher: Es ist auch ein Familienroman. Der erste Band handelt von meiner Mutter und ihren Vorfahren, der dritte von meinem Vater und seinen Ahnen. Genauso wichtig sind aber die Geschichten um den Zwillingsbruder Victor, den großen Abwesenden, dessen Stimme nur in einem einzigen Kapitel am Ende des dritten Bandes zu vernehmen ist. Wenn wir vom Ariadnefaden sprechen, dann ist es dieser Zwillingsbruder. Er ist das eigentliche Objekt von Mirceas großer Suche.
Zudem hatte ich den Ehrgeiz, von der Skatologie bis zur Eschatologie zu gehen, den Raum zwischen Obszönität und Niedertracht und höchstem Ideal auszumessen. Ich wollte nichts dem menschlichen Verstand Vorstellbares auslassen, weder Phantasmen und Halluzinationen noch die historische Realität des rumänischen Kommunismus und der Revolution im letzten Band. »Orbitor« ist die Synthese all dessen, was ich in meinem Leben kennengelernt und gelesen habe. Es der Ort, wo sich alle meine Bücher treffen, alle bisher geschriebenen und wohl auch alle, die ich noch schreiben werde, eine Art Sonnensystem meines Schaffens.
PFEIFER: In den Mikrokosmos Ihres literarischen Werkes gehen nicht nur Ihre Erfahrungen mit Belletristik ein. Sie kennen sich mit Philosophie und Naturwissenschaften aus, vor allem mit Medizin, Neurowissenschaften, Hirnforschung und Biologie. Auch die Insektenwelt hat es Ihnen angetan. Dieses Wissen arbeiten Sie ein und verleihen Ihrem Werk damit eine unverwechselbare Charakteristik. Eine Art Leitmotiv ist der Schmetterling. Die Bände der Trilogie heißen »Linker Flügel«, »Körper« und »Rechter Flügel«, und im Romangeschehen erscheinen die vielen kleinen und großen Schmetterlinge in wunderbaren Farben. Was hat das zu bedeuten?
CĂRTĂRESCU: »Orbitor« ist in der Tat ein Roman voller Schmetterlinge. Während ich daran schrieb, hatte ich unzählige Erlebnisse mit Schmetterlingen. Bei Márquez in »Hundert Jahre Einsamkeit« gibt es eine Figur, um die ständig Schmetterlinge flattern. So kam ich mir auch vor. Beispielsweise war ich ein Jahr lang in Amsterdam und begann dort mit dem Buch. Draußen regnete es, und durch das offene Fenster kam ein großer roter Schmetterling herein, schwirrte durchs Zimmer und fiel auf dem Fensterbrett in eine Wasserlache. Ich habe ihn herausgeholt. Er saß mir dann gegenüber, bis seine Flügel getrocknet waren. Und als es aufgehört hatte zu regnen, ist er in den Regenbogen hinausgeflogen.
PFEIFER: Ein schönes Bild.
CĂRTĂRESCU: Ein anderes Mal, ich saß gerade mit meiner Frau beim Kaffee, kam wieder ein Schmetterling herein, flog geradewegs zum Bücherregal und setzte sich auf den Einband meines Gedichtbands »Dragostea« (Liebe). Dort blieb er eine halbe Stunde und flog dann wieder weg. Der Schmetterling ist vielleicht das wunderbarste Symbol, das der Mensch in der Natur entdeckt hat, weil er durch die Metamorphose, die er durchläuft, ein Symbol der Seele ist. Zuerst ist er eine Raupe, was unserem Erdenleben entspricht, dann spinnt diese sich in eine Puppe ein, eine Art Grab oder Sarg, und wartet auf die Wiedererweckung, so wie der Mensch auf Unsterblichkeit, auf seine Verwandlung in einen Engel hofft. Interessanterweise waren bei den alten Griechen nicht Vögel, sondern Schmetterlinge das Symbol der Seele. Im Altgriechischen heißt die Seele Psyche, sie wurde als Frau mit Schmetterlingsflügeln dargestellt. Der Schmetterling ist außerdem ein Ausdruck vollkommener Symmetrie, wie ein gutes Buch. Der menschliche Körper ist wie ein Schmetterling, und das Symbol des gekreuzigten Christus auch. Der Schmetterling dient sogar der Erkundung des Bewußtseins: Einer der wichtigsten psychologischen Tests ist der Rorschach-Test. Ein Blatt mit Tintenklecksen wird gefaltet, gepreßt und wieder entfaltet, so daß die Muster auf der rechten und der linken Seite spiegelgleich sind. Die meisten der zehn Tafeln, mit denen die Persönlichkeit des Probanden interpretiert wird, zeigen schmetterlingsähnliche Formen. Zu ihnen gibt es viele Kommentare, die ich auch verwendet habe, um dem Roman eine gewisse symbolische Kohärenz zu geben.
PFEIFER: Man könnte den Aufbau der Trilogie auch mit dem eines Altars vergleichen. Die Religion spielt in Rumänien heute wieder eine größere Rolle. Gottesdienste haben mehr Zulauf, viele Menschen, ob jung oder alt, bekreuzigen sich an Kirchen. Überall gibt es Ikonen zu kaufen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Und wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Religion?
CĂRTĂRESCU: Ich bin in einer typisch kommunistischen Familie der fünfziger Jahre großgeworden, in der die Religion verteufelt wurde. Meine Eltern waren einfache Leute vom Lande, die in die Stadt kamen und Arbeiter wurden. Üblich war ein Besuch der berühmten Parteihochschule »Ştefan Gheorghiu«. Mein Vater ist dann Journalist geworden. Sie sind als ganz junge Leute mit dem Kommunismus indoktriniert worden, daher bin ich ohne religiöse Erziehung aufgewachsen. In der Schule wurde natürlich gesagt, Juri Gagarin war im Weltall und hat dort keinen Gott vorgefunden. Ich glaubte, Religion sei eine Ansammlung von Vorurteilen und Aberglauben, etwas für alte Frauen, die in die Kirche gehen und beten. Zu Hause hatten wir nicht mal eine Bibel. Erst nach der Revolution habe ich von Missionaren eine bekommen, da ich war schon über dreißig. Und weil ich wußte, daß die Bibel wie der Koran ein bedeutsames Buch ist, habe ich, wenn auch voller Skepsis, angefangen zu lesen, doch nach und nach hat mich die Lektüre gefangengenommen. Nach etwa hundert Seiten wurde mir klar, daß es etwas völlig anderes war, als ich angenommen hatte. Die Bibel ist der größte Roman, der je geschrieben wurde. Sie war der Ausgangspunkt für viele Fragen, die ich mir seither gestellt habe. Von dem Zeitpunkt an habe ich sie fast jedes Jahr von neuem von vorn bis hinten durchgelesen. Vor kurzem erst bin ich wieder einmal mit der Apokalypse zu Ende gekommen. Für mich als Gläubigen und auch für mich als Künstler ist die Bibel ein wichtiges Buch.
Die Rumänen hatten fünfzig Jahre lang kein normales religiöses Leben. Nun haben wir es mit einer Art Wiederkehr zu tun, die viele gute Seiten hat, aber auch viele Übertreibungen hervorbringt. Die rumänische orthodoxe Kirche neigt dazu, ihre Macht zu mißbrauchen. Fünfundneunzig Prozent der Rumänen sind orthodoxen Glaubens, und da die Kirche in der kommunistischen Zeit akzeptiert, oder besser gesagt, toleriert wurde, während andere Religionen, wie die griechisch-katholischen Kirche, verboten waren, hat sie autoritäre Reflexe entwickelt. Auch heute mischt sich die Kirche oft in politische Angelegenheiten ein. Das ist unerfreulich, aber in letzter Zeit hat sie auch viel Gutes getan. Zum Beispiel bringt sie sich im Umweltschutz und im karitativen Bereich ein, der schon immer in die Kompetenz religiöser Institutionen fiel.
PFEIFER: Spielen Sie als Künstler Gott und schreiben eine Schöpfungsgeschichte, wie Radu C. Ţeposu von den rumänischen Postmodernen sagte? Beschreiben und interpretieren Sie mit Ihren Werken die Welt nicht nur, sondern erschaffen sie gar?
CĂRTĂRESCU: Schon immer hat sich der Künstler für einen kleinen Gott seiner eigenen Welt gehalten. In »Orbitor« ist ja auch die Rede von der Sekte der »Wissenden«, denen aber bewußt ist, daß sie in einem Buch und nicht in der Realität leben. Aufmerksam suchen und finden sie sich und bewegen den Autor dazu, dieses Buch und kein anderes zu schreiben, also jenes, in dem sie existieren. In diesem Buch und mehr noch in »Nostalgia« ist der Demiurg, der Schöpfer der Welt, ein beherrschendes Thema. Aber das ist nichts Besonderes, ich glaube, so wie jedes Buch sich selbst reflektiert, träumt auch jeder Autor, ob Realist wie Balzac oder nicht, von der Kontrolle über die Vollendung seines Werks.
PFEIFER: Als Sie nach 1989 nach Westeuropa und Amerika reisten, erlitten Sie nach eigenen Aussagen einen Kulturschock, der Ihre Maßstäbe zerbrach und Ihr Selbstwertgefühl ins Wanken brachte. Das Poem »Der Westen« ist Ausdruck eines Verzweifelten, der sein bisheriges Leben und künstlerisches Schaffen entwertet sieht. Sie schrieben: »Ich finde meinen Platz nicht, ich bin nicht mehr von hier und kann von dort keiner sein.« Inzwischen haben Sie sich längere Zeit außerhalb Ihres Heimatlandes aufgehalten und können auf zahlreiche Übersetzungen Ihrer Werke sowie auf beachtliche Resonanz im Ausland verweisen. Haben Sie sich nach zwanzig Jahren von dem Schock erholt und einen neuen Platz gefunden?
CĂRTĂRESCU: T. S. Eliot hat genau über diese Situation ein Poem geschrieben. Es heißt »Die Reise aus dem Morgenland« und handelt von den drei Weisen, die dem Stern von Bethlehem folgen und Zeugen von Jesu Geburt werden. Dann stellt sich das Problem der Rückkehr nach Hause. Die drei sind im Zustand völliger Verwirrung, weil sie nicht mehr Heiden sein können, aber auch keine Christen sind. Sie befinden sich zwischen zwei Welten, sind Zeugen einer entstehenden Welt. Genau so habe ich mich gefühlt. Alle Rumänen, eigentlich alle im Osten Europas, haben das nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der Grenzen durchgemacht. Das ist auch ganz natürlich, ein Eiserner Vorhang, der zwei Welten so viele Jahrzehnte getrennt hat, kann nicht ohne psychische Spuren überwunden werden. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin zum ersten Mal aus diesem furchtbaren und grauen Bukarest des Hungers und der Kälte abgereist und bin … im Land, wo Milch und Honig fließen, gelandet. Mitten in New York, über das ich so viel gelesen hatte, ohne zu denken, daß ich es je mit eigenen Augen sehen würde. Nicht mal auf Prag hatte ich mir Hoffnung gemacht! Am ersten Morgen, ich hatte kaum geschlafen und stand um sechs Uhr auf, hängte ich mir den Fotoapparat um und ging in den erstbesten Selbstbedienungsladen, den erstbesten Supermarkt, und begann zu fotografieren, denn ich dachte, zu Hause glaubt mir kein Mensch, wenn ich von diesem materiellen Überfluß erzähle. Nicht zu reden von all den Peinlichkeiten, die allen aus dem Osten passiert sind: nicht zu wissen, wie die Heizung angestellt wird, wie die Toilettentür wieder aufgeht, wie die Dusche funktioniert usw.
Es war also eine Art sozialer und kultureller Paradigmenwechsel, eine traumatisierende Erfahrung. Ich glaube, auch Rolf Bossert, der zwei Monate nach seiner Ausreise aus Rumänien Selbstmord beging, hat sie gemacht und, weil er sensibler war als andere, nicht ausgehalten. Aber wir alle hatten Momente, in denen wir an Selbstmord dachten. Weil dieser Schock bedrohlich war und erst allmählich nachgelassen hat. Es hat Jahre gedauert, bis wir begannen, uns von unseren alten Komplexen und Vorurteilen zu befreien.
Für uns war jeder Mensch aus dem Westen beinahe ein Gott. Mir erschienen diese Leute, verglichen mit uns, wie andere Wesen. Dann zeigte sich, daß sie uns doch sehr ähnlich waren, denn wir konnten problemlos kommunizieren, es gab nur unbedeutende Unterschiede und gar keinen Grund, ihnen gegenüber Minderwertigkeitskomplexe oder Überlegenheitsgefühle zu haben. Aber es hat einige Jahre gedauert, bis ich das gelernt hatte. Heute bin ich vertraut mit dem Westen, bin viel herumgekommen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und überall, wo ich war, habe ich gute Freunde gefunden. Fast alles, was ich in den letzten zwanzig Jahren verfaßt habe, ist im Ausland entstanden, in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich, Ungarn und den USA. Dort kann ich besser schreiben als zu Hause in Rumänien, wo mich immer allerlei Sorgen plagen und ich kaum Zeit zum Arbeiten finde.
PFEIFER: Diese Gefühle finden in Ihrem Band »Europa hat die Form meines Gehirns« überzeugenden Ausdruck. Die dort enthaltenen Essays beschreiben, wie Sie selbst formulieren, »die geistige Verfassung, die Gedanken und Wertvorstellungen eines Künstlers in einer Zeit großer Umbrüche politischer, gesellschaftlicher und kultureller Natur«. Was bedeutet für Sie Europa oder europäische Identität?
CĂRTĂRESCU: Mir scheint, daß die rumänische Revolution von 1989 verloren gewesen wäre, wenn man Rumänien nicht in die Europäische Union aufgenommen hätte. Es war das wichtigste Ereignis seit Jahrzehnten. Ich glaube, dadurch haben wir die politische Legitimität erlangt, die uns vorher versagt war. Wir haben zwischen den beiden politischen Strukturen, die Anspruch auf uns erhoben, dem postsowjetischen und dem westlichen, die richtige Entscheidung getroffen. Unsere Orientierung nach Westen, zu den westlichen Werten war richtig, nun müssen wir uns dieser Einladung auch würdig erweisen. Rumänien war und ist nicht ausreichend gerüstet für die Integration in europäische Strukturen, das durfte man auch nicht erwarten, daher muß die Vorbereitung begleitend erfolgen. Durch die Aufnahme in die EU wie auch durch die gegenwärtige Migration, die viele erstmals mit dem realen Westen in Kontakt bringt, beginnen die Rumänen langsam, sich in Europa heimisch zu fühlen. Sie begreifen sich nicht nur als rumänische Staatsbürger, sondern auch als Bürger dieser Supranation. Europa ist kulturell sehr stark. Dieser symbolischen kulturellen Legitimation werden das Ökonomische und die anderen Bereiche folgen.
PFEIFER: In Ihren Texten beschwören Sie Ihre Herkunft und zeichnen das Bild einer idealen balkanisch-orientalischen Welt. Ich denke besonders an Ihre zauberhafte Geschichte von der Donau-Insel Ada Kaleh, die in dem Essayband enthalten ist. Ich habe den Eindruck, daß Sie sich angesichts der Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre Ihrer persönlichen Identität zu vergewissern versucht haben. Ist das richtig? Wie würden Sie diese Identität beschreiben?
CĂRTĂRESCU: Das Balkanische ist Rumäniens Süden, wo ich herkomme. Meine Mutter stammt aus Bukarest, mein Vater aus dem Banat. Beide Regionen gehören geographisch zum Balkan. Siebenbürgen dagegen ist nicht balkanisch, sondern gehört zu Zentraleuropa. Wir im Süden haben uns schon immer dem Orient nahe gefühlt. Wir waren fünfhundert Jahre lang Vasallen der Osmanen, und zweifellos prägt uns dieser paradoxe orientalische Geist, in dem sich Weisheit mit Faulheit, Korruption und anderen mit dem Orient verbundenen Dingen paart. Unser Wesen ist nicht rumänisch, sondern südlich, walachisch. Mein Poem »Levantul« ist eine Hommage an den Süden Rumäniens.
PFEIFER: Nach der »Ţiganiada« (Ziganiade) von Ioan Budai-Deleanu ist »Levantul« die zweite Epopöe der rumänischen Literatur. Letztere ist darin sogar die Hauptfigur. Was bedeutet das, und warum haben Sie diesen Titel gewählt? Als »Levantiner« im engeren Sinn galt im 19. Jahrhundert jemand mit europäischen und orientalischen Wurzeln, viele vermittelten als Kaufmann zwischen Europa und dem Orient.
CĂRTĂRESCU: Levante ist im Rumänischen ein Synonym für Balkan. Das Balkanische war für uns immer Teil der Levante, also des östlichen Mittelmeers, eine Welt für sich. Dazu gehören die Ägäis, die Semiten mit ihren antiken Meisterwerken, Kreta, der Minotauros, Alexandria usw. Diese Welt lebt in gewisser Weise weiter. Sie ist älter als die westliche Welt und bewahrt viele Spuren des Hellenismus nach Alexander dem Großen, aber auch von Byzanz. Es ist eine Art Histoire croisée, ein Potpourri aus Einflüssen dreier Kontinente. Geprägt durch die drei großen Religionen Judentum, Islam, Christentum, ist es eine historisch, sozial und kulturell vielfältige Welt. Ich habe die Levante immer in mir gespürt, und als ich einige Dichter des 19. Jahrhunderts las, z. B. Dimitrie Bolintineanu, gab es eine Schwingung, eine Übereinstimmung zwischen ihnen und mir. Bolintineanu stammt ja auch aus dem Süden Rumäniens. Ich habe versucht, die Stimmen dieser eher unbedeutenden Autoren aufzugreifen, die in einem sehr ursprünglichen Rumänisch, einer für uns seltsamen und lächerlichen, aber außergewöhnlich flexiblen und interessanten Sprache schrieben. Ich wollte dieser Levantiner Welt ein Denkmal setzen. »Levantul« ist historisch nicht lokalisiert, sondern eine Synthese von Epochen, vor allem ist es ein Repertoire der rumänischen Dichtungssprache von ihren Anfängen bis heute, von Themen und Motiven, aber es ist auch ein Abenteuerroman, ein Liebesroman, ein metaphysischer und ein politischer Roman. Es ist ein Buch, für das ich eine gewisse Nostalgie hege, denn ich werde nie vergessen, wie es entstand. Ich schrieb es auf der Schreibmaschine mit meiner kleinen Tochter auf dem Arm in einem Atemzug und ganz ohne Streichungen.
PFEIFER: War der Wechsel von der Lyrik zur Prosa bei Ihnen mit einem Wechsel in der Art zu denken und zu leben verbunden? Lebt man als Dichter anders denn als Prosaist?
CĂRTĂRESCU: Dichtung ist eine Frage der Inspiration. Man kann drei, vier Tage lang jeden Tag ein Gedicht schreiben und dann sechs Monate lang keines mehr. Dann folgt wieder eine Periode der Inspiration. So habe ich meine Gedichtbände geschrieben: Am Anfang entstand durchschnittlich alle zwei Wochen ein Poem, für einen Band brauchte ich etwa zwei Jahre. Als ich mit Prosa begann, bedeutete das für mich die Disziplinierung des schöpferischen Geistes, die Erfahrung einer kontrollierten Inspiration. Dichtung verhält sich zu Prosa wie eine stürmische Liebe zum Eheleben. Die Ehe ist gesetzter und unaufgeregter, das hat Vorteile, und ich bin ein überzeugter Familienmensch. Das Schreiben von Prosa paßt also zu mir.
Aus dem Rumänischen von Anke Pfeifer
SINN UND FORM 3/2012, S. 383-394.