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Printausgabe vergriffen

Leseprobe aus Heft 4/2011

Liebermann, Doris

Auf dem kalten Asphalt von Berlin.
Über Vera Lourié


Vera Lourié war achtzig Jahre alt, als sie sich noch einmal leidenschaftlich verliebte: in eine jüngere Frau, die Gattin ihres Hausarztes. Dreißig Jahre lang hatte sie kein Gedicht mehr geschrieben, nun begann sie, Liebesgedichte auf deutsch zu verfassen.

Die Angebetete erwiderte die fordernde, besitzergreifende Liebe nicht. Sie sah in Vera eine Freundin, sorgte sich um ihr Wohlergehen, brachte ihr Medikamente. Hin und wieder tranken die beiden ein Glas Champagner zusammen. Vera Lourié begann damals, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in Form der hier erstmals veröffentlichten Briefe, die an die Geliebte adressiert sind. »Tagebuch einer Seele« sollte die Briefsammlung als Buch heißen. Die kleine, gebrechliche russische Dichterin hatte zu dieser Zeit schon nicht mehr die Kraft, sich über Stunden zu konzentrieren. Sie konnte nicht mehr lange sitzen, ein Bein und die Hüfte schmerzten ständig. Das Laufen fiel ihr schwer, und die Wohnung konnte sie nur noch in Begleitung verlassen. Aber sie klagte nicht. »Alte Klamotte«, so nannte sie sich selbst. Ihre Briefe schildern Fragmente eines Lebens voller Brüche, sie sind Stimmungsbild, Berliner Stadtgeschichte und Autobiographie in einem. Als sie während der Berliner Festwochen 1995 im Deutschen Theater daraus las, bekam sie stürmischen Applaus. Einen Verlag konnte sie indes für ihre Aufzeichnungen nicht gewinnen.

Sie kam erst spät zu Ehren, die letzte Angehörige des legendären »russischen Berlins« der zwanziger Jahre. Lange trug Vera Lourié ihr Wissen mit sich, ohne daß sich jemand in Berlin dafür interessiert hätte. Es war folgerichtig auch ein Amerikaner, der die russische Dichterin Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin »entdeckte«. Der Slawist Thomas R.Beyer vom Middlebury College (Vermont) war während seiner Arbeit an einer Monographie über den russischen Symbolisten Andrej Bely, der von 1921 bis 1923 in Berlin gelebt hatte, auf die Spur der russischen Emigrantin gestoßen. In Amerika hatte Beyer die russische Schriftstellerin Nina Berberowa gefragt, wer von den Russen der zwanziger Jahre noch in Berlin wohnen und Bely gekannt haben könnte. Die Berberowa hatte Vera Lourié genannt, es aber für unwahrscheinlich gehalten, daß sie die Nazizeit überlebt hatte. Und wenn doch, war sie womöglich nach dem Krieg als »Weiße« ein Opfer der Roten Armee geworden. Als »bourgeois« abgestempelt, wurden russische Emigranten nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 oft erschossen oder auf Jahre in Lager deportiert – von den eigenen Landsleuten. Beyer suchte die alte Dame im Telefonbuch zunächst, korrekt aus dem Kyrillischen transkribiert, unter Luré, Lurie, Lurje. Vergeblich. Er wollte schon aufgeben, als ihm die französische Schreibweise in den Sinn kam. Tatsächlich fand er unter »Lourié« die Dichterin, die in den zwanziger Jahren zur russischen Boheme Berlins gehört hatte. Beyer machte sich nach Berlin auf und erfuhr von ihr nicht nur unbekannte Details über Andrej Bely und viele andere Schriftsteller, die sie gekannt hatte. Beyer war es auch, der Vera Louriés eigene Gedichte veröffentlichte. In Rußland hatte sie nur drei davon publizieren können, ihre Hefte mit den Strophen hatten die Wirrnisse der Zeit überstanden. Dank Thomas R. Beyer erschien der Band 1987 in einer Reihe der Staatsbibliothek Berlin. Überwiegend sind es russische Gedichte, ausgenommen das letzte. Es ist das Gedicht an die Freundin »Es war, es ist!« mit den Versen: »Da plötzlich das Wunder, das Wunder zu lieben! / Vergessen das Alter, nicht denken an Schmerzen! / Nach Dir nur geblieben / Die Sehnsucht im Herzen! / Das ist! // Gefallen die Schranken, / Die Leere genommen. / Dem Himmel ich danke, / Die Fee ist gekommen! / Nur Du!« Als Professor Beyer an der Universität Göttingen über Andrej Bely und dessen Berliner Zeit referierte, erwähnte er auch Vera Lourié. Er ermutigte die Slawistik-Studenten, sie in Berlin zu besuchen. Eine Freundin, die in Göttingen studierte und Beyers Vortrag gehört hatte, erzählte mir davon. Ich studierte damals am Osteuropa-Institut der Freien Universität, vom »russischen Berlin« erfuhr ich dort nichts. Ich glaube, auch die Professoren hatten noch nichts oder wenig davon gehört. Die 300000 Russen, die zu Beginn der zwanziger Jahre in der Stadt Verlage, Zeitungen, Theater, Geschäfte, Schulen und Restaurants betrieben hatten, waren längst in alle Winde zerstreut, ihre Geschichte war im geteilten Nachkriegs-Deutschland in Vergessenheit geraten. Bücher wie Karl Schlögels »Der große Exodus« und »Berlin Ostbahnhof Europas« waren zu dieser Zeit noch nicht erschienen, die Quellen waren verstreut und in den Ländern des Ostblocks nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zusammen mit der Göttinger Freundin rief ich Vera Lourié an. Sie lud uns zum Tee ein, und bald gehörten wir zu ihrem Freundeskreis.

Schon seit 1933 lebte sie in einer bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Ein Klavier, Bilder mit dem Porträt der Mutter und russischen Landschaften an den Wänden, Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an junge Leute, Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer »kommunalkas« erinnert. Die Studenten kamen aus dem Iran oder aus Amerika. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren es meist russischsprachige, aus der Ukraine, aus Kasachstan, aus Turkmenien. Sie nahm Anteil am Schicksal ihrer Mieter und wußte über die politischen Zustände der jeweiligen Länder Bescheid. Sie selbst nahm mit dem Durchgangszimmer vorlieb. Nie hörte man sie über die Enge und Unbequemlichkeit klagen, darüber, daß die jungen Leute erst ihr Bett passieren mußten, wenn sie in die vermieteten Räume wollten. Einsam zu sein, wäre für sie schlimmer gewesen. Ich nahm lange Interviews mit ihr auf, aus denen Radiosendungen entstanden, ich befragte sie auch für einen Dokumentarfilm über das »russische Berlin (Rußland an der Spree. Ein Film von Doris Liebermann und Dennis Weiler, SFB 1988). Vera Lourié erinnerte sich lebhaft, und sie konnte gut erzählen. Sie sprach mit energischer, tiefer, dunkler Stimme. Ihr Deutsch war russisch gefärbt.

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SINN UND FORM 4/2011, S. 499-504
Im selben Heft erschienen von Vera Lourié »Erinnerungen an das russische Berlin«.