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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-34-8

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Leseprobe aus Heft 2/2017

Scherer, Marie-Luise

Die Geschichte von Lydia und Behn


Lydia Proske verbrachte die Wochenenden mit Hubertus Behn auf dem Lande. Sie hatten die Klappräder dabei, die einzige gemeinsame Anschaffung, zu der sie als Paar sich vorgewagt hatten. In der Stadt lebte jeder für sich. Ihre Treffen fanden in ihrer Wohnung statt, während Behn sich die seine als Refugium hielt. Bis auf sein Fahrrad in ihrem Keller, einen Schlafanzug in ihrem Bad, Zahnbürste und Trockenrasierer zeugte nichts von ihren Zusammenkünften.

Das Schlafzimmer lag Wand an Wand mit dem der Nachbarn, deren Liebestätigkeiten immer heftige Wortgefechte vorausgingen, denen nicht minder geräuschvolle Versöhnungen folgten. Das Wort Hure fiel, daraufhin einladendes Frauengelächter. Unter diesen Lauten vollzogen sich die Nächte von Lydia und Behn.

Behn hatte die eisblauen Augen eines Schlittenhundes. Die breiten Schultern überragten seinen schlanken Körper wie ein Joch. Er war, einem Kieselstein gleich, von trockener Glätte und kühl. Sie liebte den Anblick seiner Füße, wenn diese makellos und gotisch schmal außerhalb des Bettes hingen. Sie schliefen auf der Seite liegend ein. Wer hinter dem jeweils zugekehrten Rücken lag, umfaßte den anderen.

Doch so paßgenau und innig sie noch bei Tagesanbruch lagen, so unverbunden begingen sie den Morgen. Behn stand schon mit Jacke da, als das Kaffeewasser kochte. Er füllte seinen Tassenfilter, wartete im Radio auf Meldungen über Straßenstaus und hob für den Fall, daß Lydia dazwischenreden könnte, abwehrend eine Hand in ihre Richtung. Schon zwischen Tür und Angel sagte er: »Bis heute abend!« Sie gaben sich einen fast berührungslosen Wangenkuß, wie er zwischen unverzagten Eheleuten üblich ist. Nur daß es nicht die Koseformeln Liebling oder Liebes zwischen ihnen gab. Und ungeachtet ihrer Nähe in der Nacht wäre keinem die Idee gekommen, sich beim andern anzuschmiegen, wenn sie abends auf dem Sofa saßen.

Das Bett zu teilen bedeutete keinesfalls, daß man auch gemeinsam in der Wanne saß. In Filmen dagegen konnte Lydia von solchen Szenen nicht genug bekommen. Da waren die Wannen aber größer, hatten den breiten Rand für einen Cham pagnerkübel, und der Schaum blieb bis zum Schluß stabil. Und wenn man ausstieg, war man stellenweise noch bedeckt von knisternden weißen Seifenfetzen. Sie war befremdet, wenn jemand ihr am Telefon freimütig anvertraute: »Wir baden gerade.«

Sie hatte gleich das Bild vor Augen, eine kurze Standardwanne, ein stattliches Paar in wenig Wasser, das, dem Gesetz der Verdrängung folgend, immerhin zur Brust hochreichte, die Beine heuschreckenhaft im spitzen Winkel aufgestellt. Ein Mann und eine Frau, entspannt und selbstvergessen, vielleicht auch etwas aufgedreht, und die Emaille quietschte, wenn am flacheren Wannenende ein Rücken tiefer glitt.

Was störte sie an diesem Bild? Nur, daß es ihrem Kinoblick nicht standhielt. Auch die Offenbarung einer Freundin, sie bügele im Sommer nackt, verstörte sie. Jedermann sollte nackt bügeln, backen oder den Braten übergießen, soweit er nicht Mitteilung davon machte. Lydia hatte ein verqueres Verhältnis zur Nacktheit, ob diese nun arglos daherkam oder unerbittlich familiär wie bei jenen Paaren, deren Ehebündnis, wann auch immer, ein unbesorgtes Nacktsein kultivierte.

Das Lockere hingegen überforderte Lydia ganz allgemein. Das städtische Paar, das auf der Deichkrone eines Elbdorfes sich kosend vergißt. Er an die Sechzig, sie vielleicht dreißig. Er betört, eine fast geistesschwache Glückseligkeit im Blick. Mit einem Puppenwimmern, das kapriziöse Geschöpfe von sich geben, wenn jemand sie am Morgen weckt, räkelt sich die Frau und breitet die Arme aus. Wie schön diese Luft! Davon will sie mehr, und sie zieht die Bluse aus. Danach auch das Hemd, und er löst ihr den Büstenhalter im Rücken. Dann läuft die Frau mit tanzenden Brüsten zu den Kühen ins Vorland hinunter. Ein halbnackter Irrwisch, der das Grasen der Rinder unterbricht, die ihre Köpfe heben und die sanften Augen auf den Irrwisch richten.

Den Körper einer geschätzten Person behielt Lydia lieber bedeckt als entblößt im Gedächtnis. Und im Widerspruch dazu teilte sich ihr auf der Stelle die leibliche Beschaffenheit unter der Bekleidung mit. Sie erfaßte den Entwurf eines einst tadellosen Körpers, den Alter oder Trägheit verwüstet hatten. Sie erahnte die zukünftigen Formen einer noch nicht ausgereiften Gestalt, einem Züchter ähnlich, dem sich früh die Eignung eines Fohlens für Turniere zu erkennen gibt. Es war ein Vorauseilen zu späterer Schönheit, zu hohlbrüstiger Hagerkeit, zu freundlicher Korpulenz oder zur Pein starker Beleibtheit.

Nach einem Abendessen während jener Berliner Jahre, als linke Politik und freie Sitten verschwistert waren, gab der Gastgeber die Parole aus: »Jetzt wollen wir baden!« Er war Bildhauer. Eine tiefe Narbe auf der Stirn verlieh ihm etwas Erkämpftes. Die Haut des übrigen Gesichtes wie ein gehämmerter Messingteller voller kleiner Schluchten. Man befand sich in einer heruntergekommenen Villa, wie es viele gab in der damals halben Stadt. Die hohen Räume drückten die erinnerten Zimmerdecken aus Lydias Kindheit in die Tiefe. Das elterliche Wohnzimmer war in strenger Notwendigkeit zugestellt. Der Vater saß in einem Sessel im Stil des Chippendale auf vorgerutschtem Kissen. Nervös und seinen Sorgen hingegeben trommelte er mit den Nägeln der linken Hand auf die Lehne. Ein Trommeln, das mit den Jahren eine Vertiefung im Holz geschaffen hatte, vergleichbar einer flachen Seifenschale. Wenn er nicht trommelte, las er in dem Buch »Männer, die den Krebs bekämpfen«, denn die Mutter war krank.

Durch die geschliffenen, aufs Zierlichste gefügten Scheiben des Berliner Wintergartens gelangte nur noch ein opakes Licht wie durch Pergamentpapier. Was einmal gespänt und gebohnert gewesen sein mochte, war stumpf. Es fehlten die guten Geister, die in Schürzen wienernden Mädchen, die einst unterm Dach ihre Kammern hatten.

Der Handlauf einer Doppeltreppe schloß jeweils mit dem Oberkörper einer Nixe ab, an dem Springseile und Wetterjacken hingen. Zwischen den tropischen Paneelen des früheren Rauchsalons standen ein Trampolin und ein Rudergerät. Die Intarsien des Parketts waren teilweise eingesackt. Den Salon mit zwei geöffneten Schiebetüren beherrschte das Bett des Gastgebers, eine anzügliche Pfühle, abgestützt von großen orangeroten, unter den Vergnügungen des Mannes einknickenden Darjeeling-Dosen.

Der Gastgeber stand im Ruf, zumindest duldete er das Gerücht, ein enormes Geschlecht zu haben, das eine Türklinke niederzudrücken vermochte. Er legte als erster die Kleider ab, und vier seiner Gäste taten es ihm gleich. Alles entspannte Leute. Man kannte einander aus kreuz und quer gelebten Liebesbeziehungen, flott geführten Ehen, deren Haltbarkeit auf sexuellen Erfrischungen gründete. Kurz: Es gab eine Vorerfahrung der Körper.

Lydia hatte diese Vorerfahrung nicht. Sie war auch nicht links im damaligen Sinne. Sie hatte nur linke Pflichtgefühle. Sie mußte die rechte Presse lesen, um sich in einem linken Sinne zu empören, und umgekehrt reizten sie die linken Szeneblätter durch deren duzende Einvernahme, was ihre Gefolgschaft lähmte. Dabei war sie willens, den Rausch der Linken zu teilen, mit den Berauschten die Faust zu heben, in die Springflut der Demonstranten einzutauchen. Doch sie sprang nicht und rief nichts.

Als der Gastgeber ein Bein hob, um in die Wanne zu steigen, regte sich bei Lydia ihre chronisch zu nennende Unzugehörigkeit. Im Gegensatz zur Gelassenheit der übrigen Gäste suchte ihr Blick das legendäre Geschlecht des Bildhauers. Da dieses sich ruhig verhielt, war sie enttäuscht. Ihr fiel das unordentliche Gebilde eines gerupften grauvioletten Wildvogels ein.

Oft überkamen sie unstatthafte Gleichsetzungen von Mensch und Tier. Sie überkamen sie wie ein Zwang. Sie war ihnen ausgeliefert. Sie sah unter der hoch angesetzten Nase ihres Zahnarztes im Geiste einen angespitzten Bambusknebel stecken, mit dem man ein Kamel gefügig macht. Während einer Sendung über Großkatzen hatte sie Behn gefragt, wen er sich lieber in seinem Bett vorstelle: den Panther oder Gundel, eine bärtige Frau aus dem Bekanntenkreis? Behn hatte daraufhin gesagt: »Du bist krank!« und das Zimmer verlassen.

Natürlich hatte Lydia mit dieser Frage nicht der Sodomie das Wort reden wollen. Es war nur ein Spiel mit der Reizbarkeit Behns, der ihr Liebesverschwendung an Tiere vorwarf, ihre haptischen Reflexe, sie zu berühren, und wenn die Tiere unzugänglich waren, sich diese Berührung zumindest zu wünschen.

 

Einmal ein rundes Bärenohr anfassen!

Einmal die Wange am Dachsgesicht!

 

Auf dem Berliner Flughafen Tempelhof hatte sie das rote Band einer Absperrung angehoben, um einen Delphin zu betasten und seinem immerwährenden Lächeln aus der Nähe zu begegnen. Das gewaltige Tier maß etwa vier Meter in der Länge und war in derselben Maschine gelandet wie sie. Es lag im niedrigen Wasser einer Art Reisewanne, aus der sein Rücken ragte. Und noch bevor der zoologische Transportbegleiter Lydia zurückrufen konnte, hatte sie schon eine Hand auf den trockenen Rücken des Delphins gelegt. Er fühlte sich wie eine soeben gelöschte, noch nicht ganz erkaltete Kerze an. Mit diesem erregenden Tasterlebnis hatte sie Behn überschüttet, der sie in der Ankunftshalle mit einem seiner knappen Küsse begrüßte.

Sie hatte Behn die Geschichte aus Paris erzählt, wo ein Mann seine Frau wegen eines zahmen Geparden verlor. Der Mann war verrückt nach dem Anblick der Katze mit Namen Leocadie. Sie nahm, fließend hingestreckt, fast das gesamte Sofa ein, auf dem auch die Frau am Abend ruhte. Als die Frau einen Fuß gegen Leocadie gestoßen hatte, damit sie etwas zur Seite rücke, ließ die Gepardin in schönster Trägheit einen Hinterlauf zu Boden sinken. Jetzt vergaß sich der Mann in seiner Hingerissenheit für das Tier, dem keine Bewegung mißriet, und fragte die Frau mit Haß in der Stimme: »Liegst du nun endlich bequem?«

»Und diese Geschichte gefällt dir?« fragte Behn. Ja, sie gefiel ihr.

 

[…]

 

SINN UND FORM 2/2017, S. 149-173, hier S. 149-152