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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-33-1

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Leseprobe aus Heft 1/2017

Ruhe, Ernstpeter

Die Vitalität der Poésie noire.
Aimé Césaires Wirkung in den deutschsprachigen Ländern


Es brauchte erst einen Weltkrieg, damit die weltweite Wirkung Aimé Césaires beginnen konnte, und einen objektiven Zufall, wie ihn die Surrealisten so schätzten. André Breton, bei seinem Ausweichen nach New York 1941 auf Zwischenstation in Martinique, entdeckte in einem Kurzwarenladen in Fort-de-France ein lokales Zeitschriftenheft mit Gedichten, die ihn zum Dichter selbst und zu dessen »Aufzeichnungen von einer Rückkehr ins Land der Geburt« führten, dem für Breton »größten Monument der Lyrik unserer Zeit«. Die Begeisterung über einen Schwarzen, der dem in der Alten Welt darnieder liegenden Geist neue Inspiration geben und ihn ins Unerforschte führen würde, barg die Gefahr seiner Vereinnahmung im Zeichen des Surrealismus. Lange wurde verkannt, was mittlerweile unabweisbar ist. Der Einfluß war nicht nur wechselseitig, sondern auch dort besonders intensiv, wo es aus eurozentrischer Perspektive undenkbar schien: Césaire experimentierte vorübergehend mit surrealistischen Verfahren, Breton dagegen wurde nachhaltig durch die Begegnung mit der kämpferischen Lyrik Césaires geprägt und ließ fortan ein Thema in Gedichten zu. Seine »Ode an Charles Fourier« macht den Konzeptionswandel schon im Titel offensichtlich.

»Paßt Ihr Euch an mich an. Ich passe mich nicht an Euch an.« Diese Zeile aus »Aufzeichnungen von einer Rückkehr ins Land der Geburt« resümiert die selbstbewußte Haltung, die Césaire zu einem der Väter der Négritude-Bewegung und zu einer der führenden Figuren in der Dekolonisierungsdebatte werden ließ. Zur Lyrik kamen Essays und vor allem öffentliche Reden hinzu. Dem Abgeordneten aus Martinique bot die französische Nationalversammlung von 1945 bis 1993 die ideale Tribüne für sein rhetorisches Talent. Die am nachhaltigsten wirkende Rede mit dem Titel »Über den Kolonialismus« (1955, dt. 1968) wurde allerdings nie gehalten. Als kleine rote Broschüre entfaltete die mit Verve vorgetragene Abrechnung mit der europäischen Kultur, welcher der mit ihren Bildungsgütern bestens vertraute Eliteschüler unerbittlich den Spiegel vorhält, ein weltweites Echo unter den politisch Engagierten.

Der Angriff wird von innen geführt. Texte werden aufgerufen, in denen der französische Kolonisator sein Selbstverständnis formulierte, große Namen wie Joseph de Maistre, Ernest Renan, Jules Romains ebenso wie zeitgenössische Figuren. Schonungslos wird entlarvt, worauf diese Ideologie gründet und welches Schicksal sie notwendig erwartet, denn »niemand kolonisiert unschuldig, und niemand kolonisiert ungestraft«. Die Schlußerwartung der »Révolution« mit Majuskel-R und der führenden Rolle des Proletariats steht noch ganz im Banne der kommunistischen Partei, deren Abgeordneter Césaire ist, ehe er im Jahr darauf unter dem Schock der Berichte über die Verbrechen Stalins öffentlichkeitswirksam mit ihr bricht. Der Brief an den Parteivorsitzenden Maurice Thorez ("Lettre à Maurice Thorez«, 1956) perfektioniert die Taktik des Angriffs von innen. Denn unter der Oberfläche der Argumentation, mit der Césaire die Unterordnung der Problematik des Kolonialismus unter den Klassenkampf zurückweist und für die Kolonisierten das Recht einfordert, »selbst jede Doktrin zu überdenken und an uns anzupassen«, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und jede Organisation abzulehnen, die Eigeninitiative einschränkt, stellt er zugleich etwas viel Grundlegenderes in Frage. Zug um Zug wird das »Kommunistische Manifest« dekonstruiert und aus der Perspektive der Kolonisierten umgeschrieben zum »Manifest der kolonisierten Völker schwarzer Hautfarbe«. Ob der Parteivorsitzende die eigentliche Botschaft des Demissionsschreibens erkannt hat? Seine betonköpfige Antwort bietet nur stereotype Floskeln. Bis zur Aufdeckung der subtilen Gegenlektüre Césaires brauchte es noch Jahrzehnte.

Von der Ablehnung der »fraternalistischen« Behandlung durch die Vordenker der kommunistischen Partei und dem Plädoyer für das Recht der Kolonisierten, selber zu denken, führt ein gerader Weg zu den Thesen, die Césaire wenige Jahr später an einem überraschenden Ort und in einem besonderen Kontext vorträgt: in München in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Die ehrenvolle Einladung des Dichters und Politikers aus der Karibik ausgerechnet nach Deutschland könnte verwunderlich erscheinen, als ein unwahrscheinliches, seltenes Ereignis, das denn auch die französischsprachige Welt nicht einmal wahrnahm. Aber sie war intensiv vorbereitet und betraf einen Autor, der im deutschsprachigen Raum bereits sehr gut bekannt war. Zu danken war das einem Mann, für den das erste Auftreten Léopold Sedar Senghors 1951 in Frankfurt zum Schlüsselerlebnis wurde: Dem Übersetzer Janheinz Jahn (1918 –1973) wurde die neoafrikanische Dichtung zum Lebensthema. Seine weltweite Suche nach Autoren brachte erstmals zusammen, was oft genug unbekannt und über die Kolonialsprachen verteilt ohne Kontakt untereinander geblieben war. Die Anthologie »Schwarzer Orpheus« (1954) erschloß dem deutschsprachigen Publikum den Reichtum dieser Poesie. Das Buch war ein Bestseller, wurde später wesentlich erweitert und noch lange nachgedruckt. An den Anfang stellte Jahn Senghor, mit dem alles begann, in die Mitte jedoch den Autor, der für ihn zum wichtigsten Dichter schwarzer Hautfarbe werden sollte: Aimé Césaire. Bereits ein Jahr später erschien eine zweisprachige Sammlung seiner Gedichte in Jahnscher Übersetzung ("Sonnendolche – Poignards du soleil«, 1956).

Die Komplexität dieser Lyrik und die schon von Breton bewunderte Sprache, »die kein Weißer heute so zu handhaben versteht«, führten zu einem intensiven Dialog zwischen Übersetzer und Autor, zu langen Fragelisten, die geduldig beantwortet wurden, und zu einem freundschaftlichen Arbeitsbesuch bei Jahn, den Césaire an seinen Selbstdeutungen teilhaben ließ. Aus der engen persönlichen Beziehung und der Arbeit an der Lyrik ergab sich schließlich auch die Entwicklung Césaires zum Dramaturgen. Der theatererfahrene Jahn legte ihm den Plan  zur bühnengerechten Umarbeitung des langen dialogischen Gedichts »Und die Hunde schwiegen« (Et les chiens se taisaient) vor, wofür der Autor neue Szenen schrieb. Die Welturaufführung in Basel im September 1960 erfolgte in einer international aufgeheizten Situation. Neben Rassenunruhen in Südafrika waren es vor allem die Ereignisse im unter Lumumba gerade unabhängig gewordenen Kongo, die dem Stück eine außerordentlich breite und kontroverse Reaktion zuteil werden ließen.

Die Akademie der Schönen Künste hatte anderes im Sinn, als sie Césaire für den November des Jahres zu sich einlud. Sie veranstaltete das erste deutsch-afrikanische Dichtertreffen. Daß sich für dieses Thema gerade München engagierte, hatte für die geladenen Intellektuellen und Künstler des schwarzen Kontinents eine besondere Bedeutung, denn hier war von Leo Frobenius nach dem Ersten Weltkrieg das »Institut für Kulturmorphologie« gegründet worden, hier hatte der Mann gewirkt, dessen Werk für viele Afrikaner als »Zeugnis der Freundschaft mit dem afrikanischen Genius« prägend wurde. Was sie aber letztlich vor allem dazu bewogen hatte, die Einladung anzunehmen, so Alioune Diop, Herausgeber der führenden Zeitschrift »Présence Africaine«, in seiner Eröffnungsrede, sei der Umstand, daß sie zu einem Dichtertreffen eingeladen wurden. Denn was sei berührender für die so lange Zeit verkannten und zum Schweigen verurteilten afrikanischen Völker, als mit Freunden zusammenzutreffen, und dies nicht nur zum Dialog, sondern um ihre Gedichte vorzutragen. Welch schöneren Empfang könne man einem Volk bereiten, als ganz konzentriert zu sein auf das, was aus der Tiefe seiner Seele komme.

Damit ist der Grundton von Césaires Rede angestimmt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. In einer Welt, die durch die gewaltige Expansion der europäischen Kultur immer mehr deren Werten unterworfen werde, immer mehr zur Uniformität und zu einer Passepartout-Sprache tendiere, bekomme alles ein Einheitsgesicht, oder besser eine Einheitsmaske, in der der Mensch gefangen sei. Dies werde von Afrikanern um so bedrückender empfunden, als diese aus fremdem Material gebildete Maske sie nicht nur zu Gefangenen einer fertigen, von anderen gestalteten Welt mache, sondern sie zugleich ihrer eigenen Welt beraube. Deshalb bestehe die Reaktion der afrikanischen Schriftsteller, der Menschen schwarzer Kultur auf die mechanische Uniformierung und den oberflächlichen Universalismus eben in der Wiedergewinnung ihrer Persönlichkeit, der Wiedereroberung ihrer Freiheit und Menschlichkeit. Damit gewänne die vor lauter Intellektualismus ausgetrocknete Welt zugleich Werte wie Sensibilität und Imagination zurück.

Die Idee der Ergänzung der Kulturen scheint auf, wie sie von Césaires Freund Senghor auf die Formel gebracht wurde, das Gefühl sei afrikanisch und die Vernunft griechisch ("L’émotion est nègre, comme la raison est hellène«). Vor allem aber wird sichtbar, wie die schon Thorez entgegengehaltene Rückeroberung des Eigenen gelingen kann: durch die Magie der Kunst, durch die Poesie. Zu entdecken seien so universelle Werte, die Europa vergessen oder heruntergewirtschaftet habe. »Denn das Wort des Negerdichters ist nichts anderes als das revitalisierte menschliche Wort, neu aufgeladen mit seinem ganzen Sinn und seiner ganzen Kraft.« Das Universelle und das Partikulare, die Besinnung auf das Partikulare, das zum wahren Universellen führt – die hegelianische Wurzel dieses Denkens ist unverkennbar. Césaire hatte die Entdeckung der 1940 ins Französische übersetzten  »Grundlinien der Philosophie des Rechts« von Hegel als entscheidenden Moment seiner Entwicklung erlebt, als Befreiung von der okzidentalen Assimilationsmaxime, die ihm als Schüler und Student vermittelt worden war, daß man  nämlich, um universell sein zu können, sein Negersein negieren müsse.

Daß »das wahre Universelle nicht eine Abstraktion ist, sondern der Mensch selbst in seiner Wahrheit und in seiner Aufrichtigkeit«, das belegten die im Anschluß an Césaires Rede von den Autoren vorgetragenen Gedichte, zu denen Jahn jeweils seine Übersetzung las. Senghor, seit zwei Monaten erster Präsident des unabhängigen Senegal und in Dakar unabkömmlich, ließ sich durch den Dramatiker Abdou Anta Ka vertreten; das Gedicht Edouard Glissants, der ebenfalls verhindert war, deklamierte Alioune Diop. Alexis Kagame aus Ruanda, mit der Trommel das Besondere der von ihm gewählten Versform erläuternd, und Tchicaya U Tam’si aus dem Kongo lasen selbst. Césaire setzte den Schlußpunkt mit vier Gedichten, die zusammen mit den anderen Texten anschaulich machten, was die Wiederentdeckung »unserer menschlichen Vitalität« für die Poesie bedeutet. Sie ermöglichte eben jene »Kommunion, fern von aller Art von Diskriminierungen, fern von allem, was uns gestern noch trennte«, die sich Alioune Diop von dem Zusammentreffen erhofft hatte.

Die erste Begegnung deutscher und afrikanischer Poeten hatte Folgen: Senghor und Césaire wurden 1961 als korrespondierende Mitglieder in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen. Beide hielten ihre Inaugurationsreden über das Thema Poesie, der eine noch im gleichen Jahr, der andere, Césaire, im Oktober 1962, jeder seinem Naturell entsprechend, Senghor unter dem allgemeinen Titel »Über die Dichtung«, Césaire mit dem Vortrag »Revolution und Tradition in der neoafrikanischen Dichtung«. Von diesem Text hat sich nur das im Publikum verteilte deutsche Resümee erhalten, Senghors Rede erschien dagegen in der Publikationsreihe der Akademie. Präsident oder Abgeordneter einer Karibikinsel – wog das Politische in der Akademie-Welt der Schönen Künste doch schwerer als das Poetische?

Die deutschsprachige Rezeption verfuhr ausgewogener. Jahn war in beiden Fällen federführend, übersetzte die Lyrik Senghors und den ersten Band seiner Essays ("Tam-tam schwarz«, 1955; »Botschaft und Anruf, Sämtliche Gedichte«, 1963; »Négritude und Humanismus«, 1967), so wie er auch 1968 einer großen Auswahl aus Césaires Dichtung einen weiteren Band widmen konnte ("An Afrika«). Césaires mobiler Umgang mit seinem Werk, das er als kontinuierlichen Schaffensprozeß verstand, für Eingriffe offen (nicht immer zur Freude seines Übersetzers), regte auch Rezipienten zur Kreativität an, was der deutschsprachigen Wirkung eine weltweit einmalige Breite und Vielfalt bescherte. Für die erste Inszenierung von »Und die Hunde schwiegen« schuf der Orff-Schüler Herbert Fries eine kongeniale Komposition, die er selbst dirigierte und die von der Kritik mit dem Wortspiel »zugleich Schwarzer Orpheus und schwarzer Orff« charakterisiert wurde. Das Stück wurde zweimal zum Hörspiel umgearbeitet, die zweite Version nutzte die komplexe Musik von Fries. Auch die 1968 kurz nach der Erstaufführung gesendete Hörspielfassung des Lumumba-Stücks »Im Kongo« (Une saison au Congo) setzte stark auf musikalische Elemente. Schließlich nahm sich das Fernsehen der »Tragödie von König Christoph« an und bot dem Publikum die Aufzeichnung der französischen Originalfassung, die 1964 bei den Salzburger Festspielen ihre Uraufführung erlebt hatte. Daß diese Inszenierung so viel Aufsehen erregte, lag nicht zuletzt daran, daß sie von schwarzafrikanischen und karibischen Schauspielern getragen wurde und auf einer eigens geschaffenen Choreographie der haitianischen Voodoo-Priesterin Mathilda Beauvoir basierte, die die Tänze und Gesänge selbst anführte. Die jetzt wiedergefundene Verfilmung vermittelt einen Eindruck von der Intensität dieses besonderen Theaterereignisses, das seine Wirkung auf einer langen Tournee durch Westeuropa und in modifizierter Form bis nach Dakar und in die Karibik entfalten konnte.

Angesichts der schwer zugänglichen Lyrik Césaires kommt der Übersetzung nach wie vor besondere Bedeutung zu. Mit dem Mut des Pioniers hatte Janheinz Jahn sich auf diesem Gebiet Verdienste erworben. Nach seinem frühen Tod 1973 ergab sich in eben dem Teil des damals noch gespaltenen Landes, in dem der Partei austritt Césaire zur Unperson gemacht hatte, mit Klaus Laabs die Chance eines Neustarts. Von seinen Übersetzungen der Lyrik, die von »Zurück ins Land der Geburt« bis zur letzten Sammlung »Ich Braunalge« (Moi, laminaire …) reichten, hatte er bereits 1989, in der Endphase der DDR, eine erste Auswahl publizieren können ("Jede Insel ist Witwe«, Verlag Volk und Welt). Nach vielen Einzelpublikationen von Gedichten steht eine weit umfassendere, wiederum zweisprachige Edition kurz vor dem Erscheinen. Sie läßt hoffen, daß den deutschsprachigen Lesern eines Tages Césaires gesamte Lyrik zugänglich sein wird.

 

Sinn und Form 1/2017, S. 64-69