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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-32-4

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Leseprobe aus Heft 6/2016

Georgi, André

Seestück


Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegenspült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel wiederum eine pastellene Verheißung der Erlösung und zugleich eine Ankündigung des Nichts: Drei Flächen, ocker, schwarzblau, pastellblau – der Übergang vom Strand zum Meer eine scharfe Grenze, ausgefranst dagegen der Übergang vom Meer zum Himmel, ein loderndes Blau, wie ein hinter dem Horizont züngelnder Brand einer Stadt, in den falschen Farben gemalt. Vorne ein Mann in schwarzem Gewand, mit eigentümlich verdrehter Gestalt, Oberkörper und Gesicht dem Brand hinter dem Meer zugewandt, die Füße aber zur Seite zeigend, eine instabile Lage, kein Mensch könnte so stehen, der Kopf hat einen Entschluß gefaßt, den durchzuführen die Füße verweigern.

Uhden, der eine Woche vor ihm hier im Dresdner Atelier gewesen war, hatte Schleiermacher gewarnt: Das sei ein Bild, das kein oben und unten kenne, keine Tiefe, die Komposition sei flach und verleugne den Raum, der Betrachter wisse nicht, woran er sei, abgesehen von dem Mann im schwarzen Gewand sei der Strand völlig leer, keine Sträucher, keine Fischernetze, keine Hütten als Orientierungspunkte – ganz anders als beim Vorgängergemälde, das Friedrich drei Jahre früher gemalt und das Uhden auf seiner Rückreise von Italien nach Berlin beim Käufer des Bildes gesehen hatte. Auch auf dem Meer sei nichts, woran man die Tiefe ermessen könne, kein Schiff, und die wenigen, verschwindend kleinen Möwen am Himmel gäben einem auch keinen Halt. Außerdem stimme es, was man in Weimar über das Bild sage, man könne es genausogut verkehrtherum aufhängen, nichts ginge verloren. Im Grunde sei es auch einerlei, hatte Uhden vor einer Woche in Berlin zu Schleiermacher gesagt: Entweder würde der Mann am Strand von Meer und Himmel erdrückt oder er stürze – auf dem Kopf stehend – aus griesgrämigen Schmuddelwolken in den Abgrund einer mephistophelischdunklen Nacht. Uhden, preußischer Staatsrat mit archäologischen Interessen, der zwölf Jahre als Privatgelehrter in Rom gelebt hatte, bevor Humboldt ihn aus seiner finanziellen Dauermisere rettete, indem er ihn nach Berlin in den Staatsdienst rief, bevorzugte das Südlich-Schöne gegenüber dem Nordisch-Erhabenen, denn um seiner depressiven Natur zu entkommen, brauchte er leichte Küsse in homerischem Licht statt ossianischen Dauerregens. Aber trotz seiner latenten Abneigung gegen das ihn beunruhigende Bild sagte Uhden, der Friedrichs psychische und finanzielle Situation bei seinem Besuch sofort erkannt hatte, zu Schleiermacher, er würde seine Zustimmung nicht verweigern, sollte dieser es der Akademie zur Ausstellung empfehlen. Schleiermacher solle selbst nach Dresden fahren, sich einen Eindruck verschaffen und dann entscheiden.

Die Zeit drängte, die Nominierungen zur Akademieausstellung sollten längst bekanntgegeben sein. Schleiermacher nutzte eine Reise nach Leipzig, per Eilbrief ließ er sich bei Friedrich zum Atelierbesuch ankündigen. Eine knappe Woche später stand er ihm am frühen Nachmittag des 12. September 1810 gegenüber. Und erschrak über dessen Erscheinung. [...]

 

SINN UND FORM 6/2016, S. 725-731, hier S. 725-726