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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-04-1

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Leseprobe aus Heft 2/2012

Brasch, Thomas

Aus den Tagebüchern 1972-74


Aus dem Archiv der Akademie der Künste

 

 

Vorbemerkung
Thomas Brasch, 1945 als Kind jüdischer Emigranten in England geboren, in der DDR aufgewachsen, die er 1976 »zwecks einmaliger Ausreise« verließ, wollte zu keiner Zeit Memoiren schreiben. Um so bemerkenswerter ist das Vorhandensein autobiographischer Aufzeichnungen in seinem literarischen Nachlaß im Archiv der Akademie der Künste. Sie informieren aus erster Hand über das Leben, die Denk- und Arbeitsweise und die Entstehung der Werke des Dichters, Dramatikers, Übersetzers und Filmemachers. Die Materialien reichen von Einträgen in Tage- und Notizbüchern oder in Mappen mit losen Blättern bis hin zu sporadischen Aufzeichnungen auf Zetteln aller Art und Größe. Sie umspannen, allerdings mit erheblichen Lücken, den Zeitraum von 1969 bis 2001. Zu ihnen gehören drei Tagebücher aus den Jahren in der DDR, aus dem letzten wurden hier bisher unbekannte Texte ausgewählt und hier erstmals veröffentlicht. Die Unrast, die Braschs Existenz kennzeichnete, prägt auch Inhalt, Form und Überlieferung der autobiographischen Unterlagen. In vielen Fällen stellen die Konvolute mit ungeordneten, undatierten Notaten eine Herausforderung an künftige Herausgeber dar. Zudem entsprechen die Tagebücher in der Regel auch nicht dem, was man sich allgemein darunter vorstellt. Als Fundus für andere literarische Genres angelegt, dienten sie der Reflexion und der Selbstbefragung, immer in Hinblick auf das Vorantreiben der eigenen Arbeit. Stärkstes Motiv ist die Suche nach künstlerischer Identität, jedoch weniger im Sinne einer Suche nach Lebens- und Arbeitszielen denn als Abwehr drohender Erstarrung. Daneben stehen Pläne und Projekte, literarische Entwürfe, Träume und Lektüreeindrücke.
Mit dem Tagebuchschreiben begann Brasch ein Jahr nach seiner Haft. 1968 war er wegen des Verteilens von Flugblättern gegen die gewaltsame Zerschlagung des Prager Frühlings zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Urteil wurde nach zweieinhalb Monaten zur Bewährung alusgesetzt, das Gericht teilte ihm einen Arbeitsplatz im Transformatorenwerk Oberschöneweide zu. Im ersten Tagebuch hielt der 24jährige seine Erfahrungen mit der realsozialistischen Praxis industrieller Produktion zwischen 1969 und 1970 fest. Er selbst nannte es das Dokument der »Isolation eines Mannes in einem Land ohne öffentliches Leben«. Kopien der Notate überließ Brasch 1975 seinem Freund Rudi Dutschke für ein gemeinsam mit Jürgen Miermeister geplantes, aber nicht realisiertes Projekt. Schließlich verwertete er einiges davon in seinem berühmten Prosaband »Vor den Vätern sterben die Söhne«, der 1977 im Westberliner Rotbuch Verlag erschien. 2004 wurde das Material in dem Arbeitsbuch »Thomas Brasch. Das blanke Wesen« postum erstmals veröffentlicht.
Dem ersten Tagebuch folgte ein zweites mit Einträgen bis 1971. Das Original ging verloren, lediglich Abschriften einiger Passagen im Archiv belegen seine Existenz. Den Aufzeichnungen zufolge war Brasch damals immer noch Fabrikarbeiter, doch zeichnete sich schon eine Wende ab: »Die Arbeit im Betrieb macht mir mehr Spaß als der Feierabend, aber ich werde mich nun in die lauwarme Atmosphäre des Brecht-Archivs der Frau Weigel begeben und für die Tätigkeit meiner intellektuellen Organe 350,– Mark monatlich (!) beziehen.« Bis zum Arbeitswechsel vergingen allerdings noch acht Monate mit gerichtlichen Genehmigungsverfahren. Des weiteren notierte er Lektüre und Filmerlebnisse, fand Anregung bei Cyril Parkinson, Raymond Chandler sowie Alexander Solschenizyns »Krebsstation«.
Bis 1971 hatte Brasch zahlreiche Gedichte, das Hörspiel »Monologe zur Nacht« und kleinere dramatische Texte verfaßt, die mit Ausnahme einer einmaligen Aufführung seines Theaterstücks »Sie geht, sie geht nicht« sämtlich unveröffentlicht waren. Im Tagebuch zog er Bilanz und steckte neue Ziele ab. Im Rückblick schienen ihm die Gedichte »Übung gewesen zu sein, Sprachübung, literarisches Messerwetzen (…) Vergrößerung des Kleinen, in ihrer Form privat wie in ihrer Herstellung«. Beim Nachdenken darüber, welche künstlerischen Formen »echte« Kommunikation über die Arbeit erlaubten, zog er das Fazit, daß weder Gedichte noch Prosa, sondern das Theater die »praktizierbare Kunst vor allen anderen« sei.
Solche Überlegungen fanden in Debatten im Freundeskreis ihre Fortsetzung, etwa mit Heiner Müller, der Anfang der siebziger Jahre sein Freund und Mentor wurde, oder im Kreis um die Studentin der Theaterwissenschaften Barbara Honigmann. In deren Umfeld lernte er Lothar Trolle kennen, mit dem er zwei Stücke verfaßte. »Das beispielhafte Leben und der Tod des Peter Göring«, 1971 uraufgeführt, wurde nach der Premiere verboten. Unbeeindruckt davon, sorgte Jochen Ziller, seinerzeit Dramaturg am Berliner Ensemble, für den Druck des Bühnenmanuskriptes im Henschel-Verlag. Er verfolgte Braschs Arbeit auch im Westen und setzte mit den Stücken »Lovely Rita – Lieber Georg – Mercedes« (1988) dessen erste größere Veröffentlichung in der DDR nach der Ausreise durch. Im Vorfeld druckte Sinn und Form in Heft 3/1988 ein Gespräch zwischen Ziller und ihm zu Fragen des Theaters.
Im dritten Tagebuch von 1972–74, aus dem die folgenden Texte stammen, deutete sich bei Brasch ein neuer Ton an. Nach dem Tod von Helene Weigel endete sein Vertrag im Brecht-Archiv, seitdem arbeitete er freischaffend. In den Mittelpunkt rückte die Frage nach seinem Platz in der Literatur, die er durch Erörterung verschiedener literarischer Methoden zu klären suchte. Das Konvolut umfaßt neben den hier abgedruckten Auszügen in größerem Umfang Dokumente seiner Auseinandersetzung mit Zeitgenossen, Freunden und Geliebten, zu einem Drittel in Form von Briefen.
Anfang der siebziger Jahre gab es in der DDR einen gewissen Wandel. Auf die doktrinäre und technokratische Ära Ulbrichts folgte die vorübergehend moderate, um internationale Anerkennung bemühte Politik Honeckers. Für die Künste bestand Aussicht auf ein Ende von Drangsalierung und Tabuisierung – natürlich alles im Rahmen des sozialistischen Klassenbewußtseins. Brasch profitierte davon kaum. Zwar waren ab 1972 hie und da in Anthologien ein paar Gedichte erschienen, das »Eulenspiegel »-Projekt bei Litera Schallplatte hatte sich jedoch inzwischen zerschlagen, erst 1974 kamen zwei seiner Märchenbearbeitungen auf Platte heraus. Die Hoffnungen auf breitere Publizität und Anerkennung erfüllten sich damit nicht. Notate zur Diskussion um Heiner Müller von 1973 belegen, wie wenig Brasch damals den allgemeinen Optimismus der Künstler teilte. Meist ergaben sich aus seinem Nachdenken Strategien, die auf Veränderung zielten – Veränderung der Gesellschaft wie der eigenen Person.
So erörterte er die Situation Europas und stellte resigniert fest: »Wir leben auf einem alten Kontinent. Die Kriege und die großen Anstrengungen, die auf die Kriege folgten, haben sein Gesicht verwüstet. Schauspielerin, von Falten durchzogen, mit bunter Schminke bestrichen. Sie will ihre Jugend wieder, deshalb beschwört sie ihre Vergangenheit und sucht Liebschaften mit den jungen Revolutionen, die anderen Kontinente. Aber es wird keine Liebe daraus, denn die starken Stöße aus Südamerika und Asien beantwortet der Körper Europas mit einem müden Zucken.« Im Schreiben sah er die einzige Methode, eine Gesellschaft zu erschaffen, die er verändern konnte und die ihn veränderte, doch erkannte er auch, daß den veränderten Bedingungen der Kunst mit der Brechtschen Methode nicht mehr beizukommen war. Brasch wollte berühmt werden, er hatte den Ehrgeiz, über seine Vorbilder, wie Georg Büchner und Georg Heym, hinauszugehen, und wollte keine Kompromisse mit dem Zeitgeist machen.
Die konfliktreiche Suche spiegelt sich Anfang 1972 auch im Privaten, in Briefen an Florian Havemann, die Freundin Sanda Weigl und die Geliebte Nakry. Sie liegen dem Tagebuch in Form von Durchschlägen bei. An ihnen läßt sich Braschs zunehmende Ungeduld gegenüber vertrauten Menschen, aber auch gegenüber sich selbst ablesen. Die Briefe an Havemann reflektieren das Ringen um eine Haltung zu den gegensätzlichen Systemen in Ost und West. Brasch konnte sich eine künftige Gesellschaft nur durch eine Überwindung beider Systeme vorstellen. Auseinandersetzungen über Ernsthaftigkeit und Disziplin in der künstlerischen Arbeit führte er mit Sanda Weigl. Die vermutlich nicht abgeschickten Briefe an seine fernöstliche Geliebte Nakry bezeugen vor allem unerfüllte Hoffnungen. Brasch wurde sich darüber klar, daß unglückliche Liebe für ihn ein entscheidender Antrieb von Literatur war.
Das Tagebuch endet mit einem Nachtrag von 1974, in Erwartung Nakrys, die sich nach zwei Jahren Funkstille wieder gemeldet hatte, um ihren Besuch anzukündigen. Brasch notierte: »Es lebe der Nullpunkt! Der Nullpunkt. Das große Maul. Der falsche Rhythmus. Dieses Jahrhundert. Dieses Individuum. Dieses Land. Die Ruhe. Der langsame Tod, der die Errungenschaft der Neuzeit ist. Die klassische Neuzeit. Die große Liebe. Der elegante Fetzen Shakespeare. I’m poor Hamlet. Der Ehrgeiz, etwas sagen zu wollen, das man fühlen will, um es sagen zu können. Die Überüberzeugung. Das Engagement. Der Geldschein. Vielleicht kann ich Wörter schreiben, bis es an der Tür klingelt.«

Martina Hanf

 

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SINN UND FORM 2/2012, S. 149-164