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über SINN UND FORM

Beiträge in SuF zur Geschichte von SINN UND FORM

Basil Kerski
Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt

Basil Kerski: Das Begriffspaar »Sinn und Form« annonciert keineswegs kulturelle Unentschiedenheit oder ästhetische Wertneutralität. Welche programmatischen Vorstellungen liegen dem Titel Ihrer Zeitschrift zugrunde?

Sebastian Kleinschmidt:
Titel sind Namen, und Namen sind nichts Zufälliges. Recht besehen sind sie schöpferische Formeln eigenen Wollens, des bewußten wie des unbewußten. Sie zeigen die Drehachse der Intention. Vor fünfzig Jahren hätten viele einer Programmformel mit Namen Sinn und Form kulturell zugestimmt. Heute sähe das schon anders aus, es gibt wieder starke Zweifel an so etwas wie Sinn schlechthin. Der Nihilismus ist neuerlich im Vormarsch - unvermeidliche Folge jeder säkularisierten und damit transzendenzlosen Kultur. Manche Leute halten es schon für hochgradigen Idealismus oder schlicht für Realitätsverkennung, überhaupt auf philosophischen Postulaten wie Sinn zu beharren. Das Resultat: Es gibt heutzutage weit weniger Einvernehmen über Dinge, die vermutlich sinnvoll, als über solche, die im Grunde sinnlos sind. Es herrscht Konsens in negativen Überzeugungen, nicht in positiven. Die Menschheit scheint mehr geeint in ihren Befürchtungen als in ihren Hoffnungen. Daß wir gänzlich erwartungslos wären, läßt sich nicht sagen, nur erwarten wir inzwischen wohl eher Verschlechterungen als Verbesserungen unserer Lage.

Keine sehr erfreuliche Tendenz, wie man zugeben wird. Es empfiehlt sich nicht, das geistig einfach mitzumachen. Aber Gott bewahre uns auch vorm Gegenteil, der Blauäugigkeit derer, die stets guten Mutes sind. Freilich wird man umgekehrt die heraufziehende Bewußtseinskrise, symptomatisch erkennbar am Verfall der Inhalte und der um sich greifenden Banalisierung, nicht dadurch überwinden, daß man, philosophisch oder ästhetisch, ad infinitum das Spiel der Verneinungen fortsetzt. Die Potentiale reiner Negativität sind erschöpft, die Dürftigkeiten ausschließlicher Destruktion offensichtlich. Auf diese Weise trägt man nur zur Verdüsterung des Horizonts und zur Ausweitung der Langenweile bei. Als denkende Wesen sind wir doch noch auf anderes aus, als in allgemeiner Desavouierung des Sinns zu enden. Vielleicht ist hier der geistige Grund einer Zeitschrift wie dieser. Jedermann steht unter dem Gebot, seinem Namen nachzuleben, auch wir. Wenn eine Zeitschrift Sinn und Form heißt, darf man von ihr erwarten, daß sie das Sinnproblem ernst nimmt und hier keine Blasphemie betreibt.

Kerski: Wie äußert sich diese Denkweise in der Zeitschrift? Können Sie Namen nennen, die für eine solche Geisteshaltung stehen?

Kleinschmidt: Ein wichtiger Autor in diesem Zusammenhang ist George Steiner, aber auch Hans-Georg Gadamer. Beide zählen zu denen, die philosophisch die Berechtigung der Sinnfrage klug und entschlossen verteidigen. Natürlich ist man inzwischen vorsichtiger in den Antworten, und weniger direkt. Entscheidend bleibt jedoch, die kulturelle Produktivität der Frage offenzuhalten. In der Gadamerschen Perspektive ist Sinn so etwas wie der Bezugs- und Richtungssinn unseres Verstehens - keineswegs eine teleologische Gedankenbewegung, die auf Ziele, die wir kennen, gerichtet ist und sich von ihnen her definiert. Ziel und Zukunft, in letzter Allgemeinheit, können wir nicht wissen, weder in puncto Geschichtsverlauf noch hinsichtlich unserer Lebensbahn. Das Morgen läßt sich nicht vorhersehen, sowenig wie der Traum der kommenden Nacht. Dieser Mangel an Evidenz ist für das Bewußtseinstier Mensch eine permanente Irritation, und sie treibt ihn an, grundsätzlich sprich philosophisch nach dem Sinn dessen zu fragen, was geschieht. Denn das, was wir mit diesem rätselvollen Wort Sinn nennen, liegt nicht offen zutage. Es verlangt schöpferische Interpretation.

Ursprünglich sollte die Zeitschrift übrigens »Maß und Wert« heißen, wie die von Thomas Mann gegründete, aber nicht lange bestehende Exilzeitschrift. Becher hat jedoch von Thomas Mann den Titel nicht freibekommen. Gott sei Dank, wird man aus heutigem Empfinden sagen - zu klassizistisch die Geste, zu normativ. Wir sind allergisch gegen alles, was nach Regel und Maßgabe klingt. Andererseits verdient es die normative Ästhetik nicht, einfach verdammt zu werden, denn die permissive, die derzeit in Kunstfragen offenbar das letztes Wort hat, ist längst auch zum Fluch geworden. Sie zerstört die ästhetische Urteilskraft von der Seite der Theorie her.

Kerski: Sinn und Form war und ist primär eine literarische Zeitschrift. Dennoch haben Sie das Gattungsspektrum erweitert, neben politischen und historischen sind auch philosophische und theologische Texte zu finden.

Kleinschmidt: Es gibt im westlichen Denken eine Art Bewußtseinsverengung aufs Diskursiv-Rationale. Das hat mit der Dominanz des analytisch ausgerichteten, auf Erkenntnisgewißheit zielenden cartesianischen Wissenschaftsideals zu tun. In diesem Reich überschreitet man nicht die Schattenlinie zur Metaphysik, und der Verstand gestattet weder Grundlosigkeit noch Transzendenz. Sinn und Form hat solchen Einschränkungen gegenüber sein schönes volles, sein klassisches Profil bewahren können, das sich von Prosa und Gedicht über das Gespräch bis eben hin zum philosophischen und theologischen Essay erstreckt. Wir versuchen der rationalistischen Austrocknung von Bewußtseinsdimensionen entgegenzuwirken. Je weniger Stockwerke das Bewußtseinshaus hat, aus dem heraus wir die Welt wahrnehmen, desto weniger Stockwerke hat die Welt, die uns vor Augen liegt. Man muß die Vertikale aktivieren, will man mehr sehen als bloß matters of fact und die Flächigkeit des Daseins. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo sagt: »Wir sind heutzutage alle mit der Tatsache vertraut, daß die Entzauberung der Welt auch zu einer radikalen Entzauberung der Idee der Entzauberung selbst geführt hat.« Das denkende Ich, mit Gottfried Benn zu sprechen, leidet nicht an Todesfällen, sondern am Bewußtsein. Dort, wo es die Dinge verstellt. Poetisches und religiöses Denken sind noch immer ein guter Weg ins Herz des Seienden.

Kerski: Die Geschichte Ihrer Zeitschrift spiegelt auch die Geschichte der DDR-Kulturpolitik wider. Von wem kam die Initiative zur Gründung von Sinn und Form, welche kulturpolitischen Ziele verbargen sich dahinter?

Kleinschmidt: Die Gründungsidee stammt von Johannes R. Becher, der kurz nach dem Krieg aus sowjetischem Exil nach Ostberlin zurückkehrte. Wie Sie wissen, stand er der Gruppe Ulbricht nahe, die alle wesentlichen Machtpositionen besetzte. Becher war derjenige, der die Hauptweichen für die Kulturpolitik in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, stellen sollte. Das Konzept von Sinn und Form fußte auf der Idee einer repräsentativen, auf höchstem Niveau stehenden Literaturzeitschrift, die einerseits Verständigungsorgan der sozialistischen Intelligenzia nach innen, andererseits kulturelles Aushängeschild des neuen Staates nach außen, also auch mit Blick auf die westlichen Zonen, die spätere Bundesrepublik, sein wollte.

In den zwölf Jahren NS-Diktatur waren die Deutschen von vielen geistigen Strömungen abgeschnitten, und es gab nach dem Krieg enormen Nachholbedarf, der auch durch Zeitschriftengründungen wie Sinn und Form befriedigt werden sollte. Notwendig war vor allem, sich über Lüge und Verblendung, Fanatismus und Verbrechen klarzuwerden. Aufklärung war gefragt. Becher gewann als Chefredakteur den parteilosen Dichter Peter Huchel, einen Mann der inneren Emigration. Schließlich sollte Sinn und Form kein Parteiorgan sein. Nach Meinung Bechers war sozialistische Kulturpolitik zwar grundsätzlich ideologisch ausgerichtet, aber nicht in sektiererischer Weise. Becher war Lukácsianer und insofern Gegner jeder Art von Proletkult.

Kerski: In den Anfangsjahren wurden in Sinn und Form nicht nur marxistische Schriftsteller gedruckt. Exil beziehungsweise klare Distanz zum Nationalsozialismus war aber ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der Autoren. Aus heutiger Sicht ist interessant, daß Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine Zeitschrift mit gesamtdeutschem Anspruch war.

Kleinschmidt: Die deutsche Frage wurde von Stalin aus außenpolitischen Gründen bewußt offengehalten. Was natürlich nicht heißt, daß es in der DDR eine freie Diskussion über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gegeben hätte. Das Offenhalten der deutsche Frage durch Ulbricht war die sowjetkonforme Strategie einer zur damaligen Zeit keineswegs kommoden Diktatur, das darf man nicht vergessen. Solange Ulbricht für die Wiedervereinigung votierte, war Wiedervereinigung auch Befehl. Auf die literarische Kultur wirkte sich diese Deutschlandpolitik zum Teil günstig aus. In der Philosophie allerdings, der harten Spitze der ganzen Bewußtseinspyramide, gingen die Freiräume gegen Null.

Kerski: Wie wurde Sinn und Form im Westen aufgenommen? Ein Teil der Auflage wurde ja gratis in den Westen verschickt.

Kleinschmidt: Das Echo auf Sinn und Form war im Westen von Anfang an stärker und lebhafter als im Osten. Das ist bis heute so geblieben, wenn man zum Beispiel an Besprechungen in Zeitungen und im Rundfunk denkt.

Kerski: Enzensberger behauptet, daß angesichts der kulturellen Monotonie und Verschlafenheit der frühen Wirtschaftswunderjahre unter Adenauer für ihn als jungen westdeutschen Schriftsteller Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle spielte.

Kleinschmidt: Gewiß doch, Sinn und Form in den fünfziger Jahren, das hieß Brecht, Eisler, Bloch, Lukács, Hans Mayer, Werner Krauss, Paul Rilla, Wolfgang Harich, Ernst Fischer, Georg Maurer, Feuchtwanger, Zweig, Hermlin, Bobrowski. Was Westdeutschland betrifft, würde ich diese Zeit allerdings nicht so abschätzig beurteilen. Denken Sie nur daran, daß an den Universitäten und in der Öffentlichkeit damals Gelehrte wie Jaspers, Adorno, Heidegger, Gadamer, Löwith, Georg Picht, Hellmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Robert Curtius oder Dolf Sternberger wirkten, daß Autoren wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Arno Schmidt oder Heinrich Böll, daß Kritiker wie Günter Blöcker oder Friedrich Sieburg publizierten.

Kerski: Drei Persönlichkeiten prägten in den Gründungsjahren Sinn und Form: Becher, Huchel und Brecht. Eine interessante, widersprüchliche Gestalt ist Johannes R. Becher. Aus großbürgerlichem Hause stammend, hat er sich schon in jungen Jahren zunächst als Sozialist, dann als Kommunist politisch engagiert. Seit dem Moskauer Exil war er eng mit Ulbricht verbunden. Obwohl Becher sich und sein Werk gänzlich in den Dienst der kommunistischen Ideologie stellte, finden seine frühen expressionistischen Gedichte weiterhin die Anerkennung von nichtmarxistischen Kritikern.

Kleinschmidt:
Becher hat in den dreißiger Jahren mit dem Expressionismus gebrochen und den Übergang zum Neoklassizismus vollzogen. Mag er aus Sicht der Literaturkritik als expressionistischer Dichter bedeutend sein oder nicht, mir stehen hier Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Georg Trakl näher. Becher ist, bei aller Kunstfertigkeit, zu sehr Rhetoriker im Gedicht, zu sehr Pathetiker, nicht selten zu sehr Politiker. Dennoch hat er einige tiefe, liedhaft einfache und unvergeßliche Verse geschrieben, wie zum Beispiel »Deutschland, meine Trauer«. Hanns Eisler hat sie vertont, und Ernst Busch hat sie gesungen.

In der Stalinzeit war Becher sowohl als Dichter wie auch als Kulturpolitiker sehr gefragt. Ich glaube, zumindest nach dem, was ich gelesen und gehört habe, daß er alles andere als ein unerschrockener Mensch war. Sinn und Form hat 1990 ein Gespräch mit Lukács über Becher veröffentlicht, das 1967 in Budapest geführt wurde. Dort spricht Lukács von der Lord-Jim-Panik Bechers. Joseph Conrads »Lord Jim« ist die Geschichte des wiederholt in Extremsituationen auf Ehre und Furchtlosigkeit geprüften jungen englischen Schiffsoffiziers Jim, eines Träumers, der in einer imaginären Welt heroischer Taten lebt und im Augenblick der Bewährung versagt, einmal aus Panik, in die ihn seine an Künstlerschaft grenzende Gabe blitzschneller, vorwegnehmender Phantasie stürzte, einmal durch Zaudern. Becher war gleichfalls ein im Guten wie im Bösen höchst phantasiebegabter Mensch, der sich unausweichlich vor die Eigendynamik seiner Vorstellungskräfte gestellt sah, die je nach Situation entweder zur Euphorie oder zur Panik eskalierten. In beiden Fällen wird der Spielraum des Handelns falsch vermessen, im ersten wird er illusorisch überschritten, im zweiten angstvoll unterschritten. Becher geriet nun bei jederart Konflikt oder Gefahr auf der Stelle in so heillose Angst - nicht aus einfacher Feigheit, nicht aus demütigender, die Niederlage antizipierender Furchtsamkeit, sondern weil seine Phantasie ihm die möglichen Konsequenzen in den grellsten Farben zeigte -, daß er keinerlei Risiko einzugehen bereit war.

Nun muß man wissen, der psychische Grundstoff, aus dem Diktaturen gemacht sind, ist Angst, tiefsitzende Angst, und zu deren Wesen gehört, daß man sie sich und anderen nicht eingesteht. Und so wirkt ihr Gift um so stärker, nicht nur unter den Beherrschten, sondern auch unter den Herrschenden. Das hat Becher in der Hochphase des Stalinismus im Moskauer Exil überdeutlich erfahren. Nach Meinung von Lukács hat Becher nicht einmal die spärlichsten Freiräume zu durchschreiten gewagt, weil er stets vermied, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. Wer das aber nicht riskiert, weiß gar nicht, wo die Wand steht, und wird auch nie wissen, wie weit man gehen kann. Stets wird er zu früh haltmachen.

Kerski:
Gibt es Zeugnisse, daß Becher seine Situation reflektiert hat?

Kleinschmidt: Ja, die gibt es. Wir haben 1988 in Sinn und Form einen für DDR-Verhältnisse äußerst kritischen und auch selbstkritischen Text Bechers über den Stalinismus aus dem Jahre 1956 veröffentlicht, was akademieintern zu einer scharfen Diskussion und zu Angriffen der Kulturabteilung des ZK führte. Becher beschreibt hier den Sozialismus als weltgeschichtliche Tragödie großen Stils, an tragischem Gehalt der antiken überlegen. Er spricht von den Verbrechen, der Heuchelei, von seiner Mitschuld, seinem Schweigen, seiner Lebenslüge. »Ich kann mich nicht darauf hinausreden, daß ich davon nichts gewußt hätte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich davon nichts wissen wollte. Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte!« Er hat den Text 1957 aber nicht zum Druck freigegeben. So schlummerte er dreißig Jahre im Archiv. Ich habe einmal mit Gadamer über Becher gesprochen. Gadamer hatte 1946/47 während seiner Leipziger Rektoratsjahre mehrfach Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Er sah, wie verzweifelt der Mann war, wie wenig Illusionen er sich letztlich über die barbarischen Züge des russischen Kommunismus machte. Doch er war ein schwacher Charakter. An Intelligenz hat es ihm nicht gefehlt, also auch nicht an der Fähigkeit zum Selbstbetrug.

Kerski: Der erste Chefredakteur der Zeitschrift war der Dichter Peter Huchel. Könnten Sie ihn kurz charakterisieren?

Kleinschmidt: Peter Huchel war ein Segen für Sinn und Form. Als Dichter ist er eine der großen Gestalten der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Versen, sehr einsamen und melancholischen Chiffren der Natur - einer Art Existenzerhellung vor dunklem Grund -, der Melodik seiner Sprache, in seiner Poetologie der Metapher und des Klangs, dem dichterischen Selbstgespräch mit sich und seiner Zeit, dem poetischen Befragen der Geschichte, ist er von eindrucksvoller Präsenz. Den Test des Wiederlesens besteht er glänzend, jedenfalls mit seinen besten Sachen. Er war kein Essayist, hat aber neben dem literarischen auch den philosophischen Essay in Sinn und Form gepflegt, was in der deutschen Kulturtradition, im Gegensatz zur französischen, für Literaturzeitschriften nicht ganz selbstverständlich ist. Huchels erzwungener Rücktritt als Chefredakteur fällt politisch gesehen zusammen mit dem Mauerbau von 1961 und dem sich daran anschließenden Versuch einer Neudefinition der DDR als sozialistischer Nationalstaat. Damit war es in kultureller Hinsicht mit der gesamtdeutschen Perspektive zu Ende. Huchel lebte seit Herbst 1962 fast zehn Jahre lang gänzlich isoliert und unter Stasi-Observierung in Wilhelmshorst bei Berlin. 1971 durfte er die DDR verlassen und zog nach Süddeutschland. Er starb 1981.

Nebenbei bemerkt hat die Zeitschrift in Heft 5/1992 in einem achtzigseitigen Konvolut von Reden, Briefen, Protokollen, Vorlagen und Aktenvermerken der Jahre 1960 bis 1963, die wir im Archiv der Ostberliner Akademie der Künste und im Zentralen Parteiarchiv der SED fanden, den Fall Peter Huchel ausführlich dokumentiert. Die Quellen bezeugen Punkt für Punkt, wie man einem integren Mann auf schäbige Weise eine Arbeit aus den Händen schlug, an der sein Herz hing und für die er die ideale Begabung besaß. Wir haben uns, angeregt durch die Literaturabteilung der Akademie und aus Anlaß des 50. Jahrestages von Sinn und Form, übrigens dazu entschlossen, Peter Huchel als Gründungschefredakteur künftig im Impressum auszuweisen. Die Zeitschrift ist es sich schuldig. Huchel hat sie wie kein zweiter geprägt. Er hat den Stil begründet, das Erlesene, Distanzierte, in gewissem Sinne Unpolitische, die Balance zwischen Gedicht und Gedanken, den Ernst.

Kerski: Huchel konnte als Chef der Akademiezeitschrift nur dank des Schutzes von Bertolt Brecht überleben. Besonders nach 1953 erkennt man in Brechts Engagement für Sinn und Form dessen recht ambivalentes Verhältnis zum realsozialistischen Staatswesen.

Kleinschmidt: Brecht ist ein Autor, der der DDR gegenüber loyal war. Mancher behauptet, daß er am Lebensende innerlich den Bruch mit dem ostdeutschen Staat vollzogen hätte. Davon kann keine Rede sein. Brecht hat, bei aller Kritik an den Zuständen, aus quasi geschichtsphilosophischer Überzeugung für die DDR optiert. Er war ein origineller marxistischer Denker, ein sozialistischer Schriftsteller aus echtem Selbstdenken heraus, und das war immerhin selten. Brecht kannte die Schriften der Häretiker, und er kannte eine Menge Leute, die von der Partei verstoßen waren. In schwierigen kulturpolitischen Diskussionen hat er sich mehrfach, oft listenreich, an die Seite derer gestellt, die energisch für eine Ausweitung der Freiräume eintraten. Das war schon viel, und das stärkte auch Huchel und Sinn und Form den Rücken. Wiederholt setzte er sich, als Huchel in höchster Bedrängnis war und von niemandem mehr verteidigt wurde, wirkungsvoll für ihn ein. Brecht verstand sich bei alldem als strikter Marxist, als Lehrer des Kommunismus. Obwohl er die Machthaber als Gleichgesinnte ansah, hat er doch die Fehler im bürokratisch organisierten Sozialismus einigermaßen deutlich erkannt. Er ist ganz bewußt nicht ins sowjetische Exil gegangen, und auch eine Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei kam für ihn nicht in Frage. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, in die DDR zu gehen, waren wohl die Anfeindungen im Westen und natürlich die hervorragenden Arbeitsbedingungen in Ostberlin. Schließlich bot man ihm ein eigenes großes Theater.

Kerski: Auch nach der Absetzung Peter Huchels geriet Sinn und Form immer wieder in die Schußlinie der Parteiideologen.

Kleinschmidt: Es hat des öfteren Krach gegeben, mehr oder weniger schweren. Das hing mit bestimmten Texten zusammen. So haben wir zum Beispiel häufiger Arbeiten junger DDR-Autoren gedruckt, die von Verlagen abgelehnt worden waren. Wir versuchten immer wieder Texte zu veröffentlichen, von denen wir wußten, daß sie Grenzen überschritten. Wir haben Konflikte riskiert, weil wir die Erfahrung gemacht hatten, daß entscheidende Leute in der Akademie der Künste, die ja Sinn und Form herausgab, zu uns standen. Das ideologische Klima in der Akademie war in den siebziger und achtziger Jahren weniger frostig als in anderen zentralen Institutionen, was vielleicht damit zusammenhing, daß für die Obrigkeit Kunst und Literatur nicht länger als unmittelbar zur sozialistischen Machtausübung gehörende Bereiche angesehen wurden. Im Rahmen der DDR-Verhältnisse war die Akademie möglicherweise einer der freiesten Orte. Die Zeitschrift hatte das Privileg, für das, was sie druckte, kein Plazet einholen zu müssen. Sie brauchte, theoretisch betrachtet, niemanden fragen. Die Redaktion konnte in gewissem Sinne frei entscheiden. Es gab also für uns keine Zensur oder Vorzensur, allerdings, und das regelmäßig, eine nachträgliche Bewertung. Einschätzung nannte man das, sie wurde übrigens vorgenommen von der Abteilung Kultur im Zentralkomitee der SED, drei bis vier Seiten, Nummer für Nummer, und gelangte, wie wir nach der Wende erfuhren, direkt auf den Tisch des für Ideologie und Kultur zuständigen Politbüromitglieds Kurt Hager. Nach heiklen Beiträgen kam es dann mitunter zu Konflikten, nicht selten mußte sich der Chefredakteur vor dem Sekretariat des ZK verantworten. Den Redakteuren, sofern sie Mitglieder der SED waren, wurden gelegentlich Parteiverfahren angedroht. Mitte 1988, in der Gorbatschow-Zeit, nach Veröffentlichung des erwähnten stalinismuskritischen Becher-Textes, wurde sogar laut über das Verbot der Zeitschrift nachgedacht.

Im Vergleich zur DDR war Polen, ich sage das, weil Sie Pole sind, in seinen inneren Verhältnissen sicherlich freier. Mit der katholischen Kirche gab es immerhin eine große institutionalisierte alternative Ideologie im Lande. Auch in Ungarn war das geistige Leben freier, jedenfalls seit den siebziger Jahren. Andererseits muß man feststellen, daß es in den fünfziger Jahren in der DDR weniger stalinistisch hart zuging als in den osteuropäischen Nachbarstaaten, was mit der schon erwähnten offenen deutschen Frage zusammenhing. Die DDR war schon damals unter ständiger direkter Beobachtung des Westens. Man konnte sich also nicht jede Dummheit und auch nicht jede Härte leisten.

Kerski: Angesichts der Bewegungslosigkeit in der DDR wird oft vergessen, daß der erste große Arbeiterprotest des Sowjetblocks 1953 in der DDR stattfand.

Kleinschmidt: Die Ereignisse von 1953 waren für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis, das einerseits der Bevölkerung, andererseits der Partei zeigte, wo die Grenzen der Freiheit lagen. Bei jedweder parteiinternen Diskussion über Liberalisierung tauchte fortan der 17. Juni 1953 als Menetekel auf. Das erklärt vielleicht auch die anhaltende Lähmung und geistige Bewegungslosigkeit der DDR bis hin zu ihrem schließlich für alle überraschenden Ende.

Kerski: In welcher Beziehung steht Sinn und Form heute zu Ostdeutschland? Wir sprachen bereits vom weiträumigen Blick Ihrer Zeitschrift auf Kunst und Literatur, über das Überschreiten von Grenzen. Mir fällt noch auf, daß im Gegensatz zu westdeutschen Zeitschriften Sinn und Form bei der Auswahl der Autoren nicht westfixiert ist, daß Stimmen aus Mittel- und Osteuropa stark präsent sind. Adam Krzemin´ski, ein genauer Beobachter der deutschen Öffentlichkeit, schrieb kürzlich: »Ich muß gestehen, daß ich die Beharrlichkeit und Skrupulosität bewundere, mit der Sinn und Form den Deutschen die geistigen Räume unseres europäischen Kontinents erschließt. Bei uns tut dies auf diese Art und Weise leider niemand. Wir haben keinen blassen Schimmer, wie die Tschechen, die Ungarn oder die Rumänen denken.« Ist Sinn und Form der intellektuelle Beitrag der untergegangenen DDR zur neuen gesamtdeutschen Kultur?

Kleinschmidt: Die Zeitschrift war zu DDR-Zeiten eine Insel und ist es in gewisser Weise auch heute wieder, freilich Insel in sehr unterschiedlichen Meeren. Nach der Wiedervereinigung haben wir viele Leser gerade im Osten verloren, leider. Das immer mehr verblassende DDR-Milieu ist in seiner geistigen und kulturellen Spezifik natürlich ohne die vielen offenen und verdeckten Bezüge auf linke ideologische Schablonen nicht zu denken. Davon hat sich Sinn und Form nach der Wende freizumachen gesucht. Außerdem haben wir uns mit den dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit, einschließlich der der Geschichte der Akademie, auseinandergesetzt. Zugleich hat sich Sinn und Form philosophisch und natürlich auch politisch (soweit man das von einer im Grunde genommen unpolitischen Zeitschrift sagen kann) radikal geöffnet und druckt keineswegs ausschließlich linke Autoren, wie es früher Prinzip war. Das hat manche irritiert. Dabei geht es doch darum, die naive, ideologisch selbstgefällige Wahrheitsgewißheit in der Welt- und Geschichtsbetrachtung aufzugeben, um die Probleme unbefangen und so perspektivreich wie möglich zu sehen. Insofern kann man sagen, daß Sinn und Form keine Richtungszeitschrift ist. Es treffen hier also Standpunkte aufeinander, die sich sonst nicht ohne weiteres begegnen. Mit der alten DDR hat die Zeitschrift aus naheliegenden Gründen heute immer weniger zu tun, und sie unterscheidet sich wohl auch deutlich von dem, was im Westen das Landläufige ist.

Kerski: Mich hat die Intensität des intellektuellen Lebens in der DDR während der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung, die sich ja auch in vielen Zeitschriften- und Verlagsgründungen manifestierte, sehr beeindruckt. Mittlerweile beobachte ich im Osten Deutschlands eine gewisse geistige Immobilität, einen Mangel an Offenheit.

Kleinschmidt: Ich habe die Jahre der Wende als eine Ekstase des Lernens erlebt. Solche Umbrüche sind wie Gewitterblitze, die jäh die nächtliche Landschaft erhellen. Man sieht in großer Klarheit, was man nie zuvor gesehen hat. Inzwischen hat sich das Leben wieder eingetrübt. Das Hochgefühl von Transparenz und Vitalität, der Schwung des großen Aufbruchs, mental wie politisch, ist vorbei, erlegen dem Siegeszug der neuen Interessen und neuen Sorgen. Wir leben nun in der offenen Gesellschaft, doch nicht unbedingt in einer Gesellschaft der Offenheit. Naivität und Charme der Wendejahre sind verflogen. Das ist schade, doch in gewissem Sinne unvermeidlich. Umbruchszeiten sind ihrer Natur nach von kurzer Dauer. Auf Staat und Gesellschaft bezogen heißt dies, daß die Zeit, da Institutionen unmittelbar formbar waren, hinter uns liegt. Festigkeit tritt wieder an die Stelle von Formbarkeit. Das muß nicht Erstarrung bedeuten. So ist das mit den Rhythmen der Geschichte. Man kann nichts gegen sie machen. Man muß sie hinnehmen. Was ja nicht besagt, auf das Handeln zu verzichten.

SINN UND FORM 1/1999 (vergriffen)