Bürger, Christa
(1935-2025), bis 1998 Professorin für Literaturwissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, lebte zuletzt in Berlin. 2019 erschien die Neuausgabe von »Mein Weg durch die Literaturwissenschaft 1968 – 1998«, 2024 »Luziferische Kunst« (mit Peter Bürger †).
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2018 | Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball
- 1/2019 | Die Ordnung der Liebe. Marie de France
- 1/2020 | Rilkes Gesetz
- 2/2021 | Widersagung
- 6/2021 | Rilkes Rodin
- 5/2022 | Von der Schönheit oder Die wirkende Macht des Eros
- 3/2023 | Marie de Gournay oder Die Klage der Frauen
- 1/2024 | Spröde Individualitäten. Zu Friederike Helene Ungers »Bekenntnissen einer schönen Seele«
- 5/2025 | Sehnsucht im Stillstand. Zu den Aufzeichnungen Elisa von der Reckes
»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings (...)
LeseprobeBürger, Christa
Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball
»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings kurz vor dem Ersten Weltkrieg Hugo Ball kennenlernt, ist sie fast dreißig Jahre alt. 1885 in Flensburg geboren, großgeworden ohne Schul- und Ausbildung, ist sie Dienstmädchen gewesen, Schauspielerin in einer Wandertruppe, als Siebzehnjährige verheiratet, mit zwanzig Mutter. Nach der Scheidung führt sie ein unstetes Nomadendasein, als Hausiererin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, vagabundierende Balladensängerin, Kabarettistin schließlich in Berlin und München, drogenabhängig, halt- und heimatlos, mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen. 1911 tritt sie zum Katholizismus über. Nach einem Gefängnisaufenthalt im Frühjahr 1914, dessen Hintergründe ungeklärt sind, emigriert sie mit Ball in die Schweiz, wo das Paar, mit dessen Namen wir heute das Cabaret Voltaire, also die Gründung des Züricher Dadaismus verbinden, in äußerster Armut lebt. 1919 und 1920 schreibt Emmy Hennings ihre beiden Bekenntnisbücher, »Gefängnis« und »Das Brandmal. Ein Tagebuch«. Nach ihrer Heirat 1920 leben Emmy und Hugo Ball meistens im Tessin, freundschaftlich unterstützt von Hermann Hesse, aber immer am Rand des Existenzminimums. 1927 stirbt Hugo Ball an Darmkrebs, wohl infolge jahrelanger Entbehrungen. Emmy hatte noch einundzwanzig Jahre zu leben.
Dreimal begegnet Wolfram von Eschenbachs Parzival auf seinen Umwegen zum Gral der trauernden Sigune, seiner Mutter Schwesterkind, als Pietà mit dem toten Geliebten im Schoß, als Baumheilige mit dem einbalsamierten Toten, als Klausnerin an seinem Grab: »Er vant ein klôsnaerinne, / diu durch die gotes minne / ir magettuom unt ir freude gap. / wîplicher sorgen urhap / ûz ir herzen blüete alniuwe, / unt doch durch alte triuwe.«
Der Anblick der trauernden Frau, die ihre irdische Liebe in Gottesliebe umgewandelt hat, um dem Toten die Treue zu halten, löst in dem mit sich und der Welt unbekannten jungen Ritter ein ihm ganz neues Gefühl aus: Mitleid. Parzivals Mitleid, das dem Gralskönig endlich die langersehnte Erlösung bringen wird, hat seinen Ursprung in der Leidensfähigkeit der Frau.
Emmy Hennings nimmt nach Balls frühem Tod mit der Veröffentlichung des von ihr zusammengestellten Bandes »Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten« (1929) als Autorin den Namen Ball-Hennings an. Über Hugo Ball schreibt sie drei Bücher: »Rebellen und Bekenner« (1931 / 32), »Hugo Balls Weg zu Gott« (1931), »Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball« (1948, posthum veröffentlicht 1953). Es sind drei Versuche, die Trennung von dem geliebten anderen aufzuheben. Balls Tod hat sie ihrer genuinen Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Sie könne »nicht mehr verspielt sprechen«, klagt sie 1927 in ihrem Tagebuch. Aber in dem Maße, wie sich von Buch zu Buch das Gewebe ihres Lebens mit Hugo Ball verdichtet, verwandelt sich ihre eigene Geschichte, so daß allmählich, rückwirkend, aus dem Irrweg ein Weg wird. »Wir leben das Leben der Toten, Seligen weiter, und es bewegt sich in uns«, schreibt sie in »Hugo Balls Weg zu Gott«. Wie die meisten Sätze Emmy Hennings’ ist auch dieser vieldeutig. Wenn wir der Beobachtung von Hans Richter trauen wollen, der sie sieben Jahre nach Balls Tod im Tessin besucht hat, drückt sich darin ein Gefühl des Selbstverlusts aus. »Sie führte mich in den Stockwerken herum, als lebte Ball noch. Alles war an seinem Platz. Balls Kleider hingen neben ihren, seine Bücher standen neben Emmys. Sie war, soweit wie möglich, hier ›in Gott mit ihm vereint‹, eine Eremitin.«
Nun konnte Richter schon in der Epoche des Züricher Dadaismus Hennings »ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit «. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist er einer Trauernden begegnet, deren Trauer aber von einer anderen Ordnung war als der ihm zugänglichen. Das Leben Hugo Balls, das diese freiwillige Eremitin schreibend in sich bewegt, erfährt durch sie eine Verwandlung, deren Richtung die Schreibende selbst vielleicht noch nicht kennt, diese Trauernde, die keine Gewißheit hat außer dem Grund ihrer Liebe zu Hugo Ball und ihres Schreibens über ihn. Es war Mitleid mit einem Menschen, dessen furchtbare Armut, dessen äußeres Leben in einem unerträglichen Widerspruch zu seinem geistigen stand. »Hätte er nie eine Zeile geschrieben, auch dann wäre seine einmalige Existenz, gerade wie er sie geführt, bewundernswert.« ("Hugo Balls Weg zu Gott«) Indem sie schreibend das alte Gefühl des Mitleids in sich wachhält, wîplicher sorgen urhap, bekommt Balls Existenz einen Namen: Askese.
Man hat, nicht zu Unrecht, Emmy Ball-Hennings die »religiöse Überhöhung« ihrer Beziehung vorgeworfen, und die Asymmetrie in ihrer Darstellung ist in der Tat nicht zu übersehen. Die beiden 1938 und 1940 veröffentlichten autobiographischen Bücher, »Blume und Flamme« und »Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau«, lassen ihr Leben als einen Weg zu Ball erscheinen, dem Mann, dem sie sich vollkommen anvertraut, weil sie bei ihrer ersten Begegnung schon geahnt hat, daß sie »mit ihm beten konnte« ("Das flüchtige Spiel«). Die Frau, die auf ihr Leben mit Hugo Ball zurückblickt, weiß freilich selbst, daß sie dieses schönt. Die »Erinnerung ist eine rührende Dichterin, die alles Nebensächliche, Trübe möglichst unberührt läßt. Die Erinnerung hat recht, so vorzugehen, denn von mancher Qual, die das Dasein mit sich bringt, bleibt einmal nur die Frucht des Leidens, die Liebe. Alles andere ist nichts und wird einmal sein, als wäre es nie gewesen« ("Ruf und Echo«). Erinnerndes Dichten, das sich um biographische Genauigkeit nicht kümmert: Ball hätte darin Emmys Grazie erkannt. In der »Flucht aus der Zeit« hat er einen Satz aus einem Gespräch mit ihr festgehalten: »Die unverdaulichen Vorkommnisse in jedem Moment mit der Illusion konfrontieren: das ist der Triumph der Grazie.«
Wenn man aus einer anderen Perspektive als der der Wirklichkeitstreue diese Erinnerungsbücher liest, wenn man nicht wissen will, wie es eigentlich gewesen, sondern wie es erfahren worden ist, wird man ihnen einen eigenen Formwillen nicht absprechen. Es ist die Legende, eine »einfache Form«, der eine bestimmte »Geistesbeschäftigung« zugrunde liegt, die Imitatio, ein Erzählen, das Menschlichkeit und Heiligkeit miteinander verwebt.
Die Geistesbeschäftigung der Imitatio war Emmy Ball lieb und vertraut. Viele Monate lang hatte sie sich mit Hugo in die Acta Sanctorum versenkt, in der Stille ihres kleinen Hauses in Agnuzzo mit seinem verwunschenen Garten. Auf den Granitstufen ihrer Treppe, »vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien«, lesen sie zusammen in ihrem »paradiesischen Bilderbuch, dem die Heiligen entstiegen« ("Ruf und Echo«). »Das Bekanntwerden mit den Heiligengestalten (…) wirkte wie ein Lichtsturz auf uns ein.« Hermann Hesse, der den toten Freund als »einen schönen hageren Heiligen« beschrieben hat, beglaubigt in einem offenen Brief in einer umfassenden Geste die Erinnerung der Witwe. »Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen (…) und alles wird wahr und mehr als wahr sein.« Daß Hesse in diesem Brief Emmy Hennings mit Bettina von Arnim vergleicht, geschieht wohl nicht ohne Absicht. Beide Frauen stehen ihm für ein gleichsam überliterarisches Schrei ben. Indem sie sich selbst als Zeuginnen eines exemplarischen Lebens verstehen, nehmen sie ihre Marginalisierung in Kauf. Aber ihre Schriften, die nicht Werke sind, werden gebraucht – als Texte einer heimlichen ecclesia.
[…]
SINN UND FORM 3/2018, S. 322-332, hier S. 322-324
Das »Portrait de Mme la Marquise de Sévigné«, mit dem Marie-Madeleine de la Vergne, Comtesse de La Fayette, in die Geschichte der Literatur (...)
LeseprobeBürger, Christa
Widersagung
Das »Portrait de Mme la Marquise de Sévigné«, mit dem Marie-Madeleine de la Vergne, Comtesse de La Fayette, in die Geschichte der Literatur eingetreten ist, geschrieben auf Bitten der Duchesse de Montpensier für deren Sammlung, unter dem Namen eines »Inconnu«, eines Unbekannten, ist eine Grenzüberschreitung eigenen Rechts. Es will nicht idealisieren, wie der Rahmen des höfischen Divertissements, den die Auftraggeberin vorgegeben hat, eigentlich vorschreibt: es will abbilden. »Vermittels des Privilegs, daß ich für Sie, Madame, ein Unbekannter bin, will ich Ihnen reinen Wein einschenken, ganz wie es mir gefällt.« In diesem scheinbar unscheinbaren Text setzt Madame de La Fayette ihr Bedürfnis nach Wahrheit durch. Aber in einer Welt des Scheins, die sich die Wirklichkeit zum Theater macht, verkleidet sie die Wahrheit in eine für ihre Umgebung leicht zu entschlüsselnde Travestie – und verkehrt damit das in der zeitgenössischen Tragikomödie beliebte Spiel des Täuschens mit der Wahrheit. Das Inkognito erlaubt ihr zu sagen, was die Konvention zu verbergen gebietet: ein Herz, das seine Zärtlichkeit offen zeigt. So schimmert durch den Schein die Wirklichkeit einer gelebten Liebe durch.
»Sie sind von Natur aus zärtlich und leidenschaftlich, aber zur Schande unseres Geschlechts ist Ihnen diese Zärtlichkeit nicht von Nutzen gewesen, und Sie haben sie in Ihrem eigenen verschlossen gehalten, indem Sie sie Mme de La Fayette zugewendet haben.« In dem wahrscheinlich letzten ihrer zahlreichen Briefe an die Freundin kommt jene Wahrheit unverstellt zum Ausdruck, Liebesbekenntnis und Vermächtnis in einem: »Glauben Sie mir, Liebste, daß Sie diejenige sind, die ich auf der ganzen Welt am wahrhaftigsten geliebt habe.« Der pathetische Satz entzieht sich der Eindeutigkeit, die ihn zum Vermächtnis und /oder Liebesgeständnis machen würde. Denn er kann sich ebenso gut auf den Grad der Liebe beziehen wie auf deren Wesen. Mme de Sévigné versteht ihn vollkommen. »Man muß ihr aufs Wort glauben«, schreibt sie ihrer Tochter, Mme de Grignan. Und was das bedeutet in einer vom Schein und von der Verstellung beherrschten Welt, hat die Marquise erfahren. Die Liebesfreundschaft dieser beiden grandes dames des 17. Jahrhunderts – hätten sie ihr eine eigene Wirklichkeit gegeben, so hätte diese den herrschenden Code der Liebe, der ein männliches Subjekt des Begehrens und ein weibliches Objekt zueinander in ein Machtverhältnis setzt, überschreiten müssen. Denn sie gehört zu einer anderen Ordnung. Für Mme de La Fayette ist Marie de Rabutin-Chantal, die Enkelin der heiligen Jeanne de Chantal, der Gründerin des Ordre de la Visitation, die verkörperte Freude, für Mme de Sévigné ist die Freundin eine im Zeichen der Melancholie Geborene, deren Wesen sie, wenige Wochen nach ihrem Tod, in einem einzigen fast ungrammatischen Satz zusammenfaßt: »Elle avait une tristesse mortelle.« Sie hatte eine tödliche Traurigkeit, wie man eine unheilbare Krankheit hat. Es ist diese Traurigkeit, die sie verbindet mit dem ebenso melancholischen Freund, dem Moralisten La Rochefoucauld, dem enttäuschten Frondeur, und mit den Solitaires, den Einsamen von Port Royal, zu denen Pascal gehört. Dessen »Gedanken« kreisen um die »misère de l’homme sans Dieu«, das Elend des gottlosen Menschen, der, ein »denkendes Schilfrohr«, ewig zweifelnd am Sinn des Daseins, in die Imagination, den Schein und die Zerstreuung flüchtet. So traurig seien die Gespräche der Freunde, schreibt Mme de Sévigné ihrer Tochter, »daß sie wohl am besten täten, sich gleich begraben zu lassen«. Gerade in dieser Melancholie jedoch gründet ein Werk, mit dem die Geschichte des modernen Romans beginnt.
Mme de Sévigné erinnert sich an viele Jahre ungetrübter Zuneigung. »Ich war mir immer sicher, daß ich ihr liebevollster Trost war, und seit vierzig Jahren ist es so gewesen (…) darauf beruht auch die Wahrheit unserer Verbindung.«
In diesen Jahren hat Mme de La Fayette eine ihrem Stand entsprechende Heirat gemacht – mit einem fast zwanzig Jahre älteren Mann –, zwei Söhne zur Welt gebracht, danach das Stammhaus von Monsieur de La Fayette, das Château d’Espinasse en Bourbonnais, verlassen und sich in ihrem Stadthaus in der Rue de Vaugirard in Paris eingerichtet. Seit früher Jugend kränkelnd, zieht sie sich bald aus dem Hofleben zurück und beschränkt sich auf den auserlesenen Kreis von Freunden, der sich in ihrem Salon versammelt, außer dem Schriftsteller und Gelehrten Ménage, ihrem Lehrer, Freund und Mitarbeiter, Mme de Sévigné und La Rochefoucauld noch einige geistliche Berater aus dem Umkreis von Pascal und Port-Royal. Sie lernt, angeleitet von Ménage, Latein, liest mit ihm die Romane von Mlle de Scudéry, vor allem die »Clélie« mit der »Carte de Tendre«, einem beliebten Gegenstand der Salongespräche der Zeit. Descartes hat sie offenbar nur vermittelt über ihre Tochter zur Kenntnis genommen. Aber mit seinem Brief an die Prinzessin Palatine, die von dem Philosophen Antwort verlangt auf die Grundfragen des Lebens, wäre sie wohl einverstanden gewesen: »Da ich sehe, daß die Wahrheit zu kennen eine größere Vollkommenheit darstellt, selbst wenn sie unserem Interesse zuwider ist, als die Ignoranz, gebe ich zu, daß es besser ist, weniger froh zu sein und dafür umfassendere Kenntnisse zu besitzen.« (Descartes an Elisabeth, 6. Oktober 1645)
Mme de Sévigné hat das nicht so gesehen: »Ich weiß nicht, ob es nicht besser ist, nicht soviel Geist zu haben wie Pascal, als dessen Unbequemlichkeiten hinzunehmen.« Sie erörtert diese Maxime in einem Brief an Mme de Grignan, die sie mit einem unüberhörbar blasphemischen Beiklang gelegentlich als geistige Tochter Descartes’ anredet.
Mme de La Fayette jedenfalls will wissen, auch wenn die Erkenntnis für sie unangenehm sein könnte. Sie will wissen, ob ihre tristesse zur condition humaine gehört oder ob sie sich aus der Verfassung der Gesellschaft, in der sie lebt, erklären läßt. Um das zu erforschen, geht sie mit geradezu cartesianischer Rationalität vor. In ihrem Nachruf rühmt Mme de Sévigné diesen Charakterzug der Freundin, ihren Willen zur Wahrheit und zum Wissen. Diese »göttliche Vernunft« setzt Mme de La Fayette in Gang, um zu ergründen, ob es unter der Herrschaft des Scheins eine Liebe geben kann, die dem Begriff des Wortes entspricht, und ob sie, wenn sie sich ereignet, verwirklicht werden kann.
Den Untersuchungsgegenstand hat das Leben selbst ihr zugeführt in Gestalt der jungen Henriette d’Angleterre, die im französischen Exil Monsieur geheiratet hat, Philippe d’Orléans, den Bruder Ludwigs XIV. Ihre Autorschaft gilt nur als wahrscheinlich; aber gesichert ist, daß die »Geschichte Henriettens von England « ein Auftrag der Prinzessin ist, von dem eine knappe Vorbemerkung berichtet. »Ich nahm diesen Gedanken mit Vergnügen auf und wir machten einen Plan für unsere Geschichte.«
In diesem Experiment ist die Autorin klarsichtige Beobachterin und zugleich teilnahmsvolle Vertraute in einer Tragödie, die nach einer unerbittlichen Logik abläuft. Henriette, Tochter des enthaupteten englischen Königs, Schwester seines Nachfolgers Charles II., Schwägerin des »Sonnenkönigs« und durch ihre Schönheit und Grazie Mittelpunkt von dessen Festveranstaltungen, aber auch erfolgreiche Unterhändlerin eines französisch-englischen Vertrags, ist in all diesem Glanz zugleich Gefangene eines undurchschaubaren Labyrinths der Gefühle, aus dem ein schreckensvoller plötzlicher Tod sie erlöst.
Ein hartnäckiges Gerücht will, daß sie vergiftet worden sei. Die mit dem analytischen Interesse einer Ethnologin die Schritte der Freundin verfolgende Erzählerin läßt nichts aus. Sie setzt ein mit einem Portrait von Monsieur: »Er war schön und gut gewachsen und von einer Figur, eher einer Prinzessin als einem Prinzen angemessen. Auch hatte er sich immer mehr darum gekümmert, daß jedermann seine Schönheit bewunderte, als sich ihrer zu bedienen, um den Frauen zu gefallen. (…) Seine Eigenliebe schien ihn zu keiner anderen Bindung als an sich selbst zu befähigen.«
Als Vorausdeutung auf das Eheschicksal Henriettes gelesen, läßt das Porträt die zur Schau getragene Liebe des Herzogs zu seiner jungen Frau als höfische Maske erscheinen. Er beherrscht das Hofzeremoniell: »Monsieur ging ihr entgegen mit aller denkbaren Aufmerksamkeit, und bis zu seiner Heirat erfüllte er ihr gegenüber alle seine Pflichten, denen es nur an einem mangelte, der Liebe.« Es ist dies in der »Histoire« die einzige Stelle, wo das Wort amour vorkommt – als das, was fehlt. Das Liebesverhältnis, das Madame – dies ist der Titel, der Henriette als Schwägerin des Königs zukommt – mit dem favori von Monsieur eingeht, dem Comte de Guiche, steht daher auch im Zeichen der Illusion und der Täuschung.
Parallel zu dieser Geschichte erzählt Madame de La Fayette von den Amouren des jungen Königs, dessen erste Liebe Henriette gewesen ist. […]
SINN UND FORM 2/2021, S. 188-202, hier S. 188-191