Background Image

Leserstimmen

Sonja Heyer zu Felix Heidenreich, »Unser Dostojewski« in Heft 2/2024

Sehr geehrte Redaktionsmitglieder,

aus dem wie so oft gelungenen März-April-Heft 2024 stach der Aufsatz von Felix Heidenreich „Unser Dostojewski“ heraus. Ich habe mich über ihn geärgert.

Heidenreich unternimmt den Versuch, aus einer Anekdote eine private Kulturtheorie zu entwickeln. Dabei stehen sich zwei Ansätze gegenüber: Zum einen ein durchaus differenzierter Versuch, Begriffe wie wir und uns(er) zu kontextualisieren; zum anderen das Abgleiten in Kulturkampfparolen.
Was kann/soll ich als Leserin aus diesem Aufsatz lernen?

Dass wir leichtgläubigen Europäer, die wir an das „Ende der Geschichte“ glaubten, „nur nicht sehen wollen, was immer schon da war“ (195)?
Wer ist hier wir und was war immer schon da?

Dass Russland Krieg führt, weil es den Westen verachtet?
Wo bleibt hier die Analyse interessengeleiteter Politik in West wie Ost?

Dass das Othering im Westen zu vernachlässigen ist, denn im Osten begann man damit viel früher („Fängt das schon bei Puschkin an? (197)?

Dass die russische Welt (sic) eine „Welt ohne Zukunft“, „irgendwie krank“, „eine Dostojewski-Welt“ ist und „Kritik am britischen Imperialismus zwar schön und richtig ist, nur eben hundert Jahre zu spät kommt“ (197)?

Heidenreichs Aufsatz weist meines Erachtens einige charakteristische Merkmale propagandistischen Schreibens auf. Dazu gehört die Personalisierung, Psychologisierung und Emotionalisierung von Politik sowie das Verschweigen eigener Interessen des konstruierten Wir. Russland wird zu Putin. Wir werden zum modernen Westen, der die moralische Oberhoheit gegenüber dem Bösen behaupten kann, solange es uns gelingt, die eigenen Abgründe zu reflektieren (wenn auch hundert Jahre zu spät). Der „Echoraum (der) Selbstinszenierung“ gilt nur für die anderen. Politik wird kulturalistisch fundiert. Und so bleibt zwischen „Russenkitsch“ und „Russophobie“ kein Gestaltungsspielraum. Wie schade.

Im April 2022 interviewte in der morgendlichen Literatursendung des Deutschlandradios Andrea Gerk, eine erfahrene Moderatorin, Wladimir Kaminer. Vorausgegangen war eine Forderung von ukrainischer Seite, keine russische Literatur mehr ins Deutsche zu übersetzen und russische Literatur aus deutschen Bibliotheken zu entfernen. Kaminer äußerte sich differenziert zur Literaturszene in Russland und bemerkte, gerade jetzt sei es notwendig, den oppositionellen russischen Stimmen durch Übersetzungen in Deutschland eine Öffentlichkeit zu geben. Darauf fragte die Moderatorin: „Dann meinen Sie also, lieber schlechte Literatur übersetzen als gar keine?“ Ich schämte mich für diese Niveaulosigkeit und schaltete das Programm aus. Eine ähnlich gelagerte Scham überkam mich beim Lesen des Aufsatzes von F. Heidenreich.

Nach wie vor geht es meines Erachtens um die klassischen Schritte des Verstehens: Kontextualisieren und Historisieren. Wer zu irgendeinem Zeitpunkt an das Ende der Geschichte glaubte, sollte dieses Mißverständnis hinterfragen und aufarbeiten. Wenn F. Heidenreich vor 20 Jahren nach St. Petersburg reiste, waren die Jugoslawien-Kriege noch gegenwärtig. Der „Traum von einer Zukunft ohne Konflikte“ war nicht nach dem 11. September 2001 ausgeträumt; dieser Traum ist eine Selbsterzählung, die sich lohnt, dekonstruiert zu werden, um nicht immer wieder auf Strohpuppen einzuschlagen. Zwischen die Russophobie und die Russenliebe sollte daher genauso wie zwischen den Anti-Amerikanismus und den amerikanischen Traum das Verstehenwollen treten. Das ist alles andere als kitschig.

Wann setzte eigentlich die Diskreditierung des Begriffs „Verstehen“ ein? Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass wir alle aufgefordert sind, „Versteher“ zu sein. Wir alle sollten nicht nur Putin-Versteher, sondern ebenso Trump-Versteher, Bolsonaro-Versteher, Hitler-Versteher usw. sein. Was denn sonst? Etwa Nicht-Versteher? Die gesamte Aufarbeitung der Nazidiktatur ist eine Arbeit des Verstehens. Und dabei dürfen wir davon ausgehen, dass wir als erwachsene Menschen den Unterschied zwischen Verstehen und Akzeptieren kennen. Aber die Diskreditierung des Verstehenwollens ist eine notwendige Konsequenz der Enthistorisierung und Entkontextualisierung, eine notwendige Konsequenz von Propaganda.

Ich habe im Zuge der Propagandisierung der Medienlandschaft in den letzten Jahren für mich entschieden, Publikationen, die das sog. Böse in Verbindung mit Nationen stellt, nicht länger zu rezipieren. Ich schätze Sinn und Form u.a. dafür, sich zeitgeistiger Propaganda zu enthalten und zwar nicht durch einen Rückzug in historische Texte, sondern durch ein kluges, mitunter sublimes Kontextualisieren aktueller durch lang zurückliegende Texte.

Ich hoffe, dieses Niveau bleibt erhalten. Herrn Heidenreichs Text genügt meines Erachtens diesem Anspruch nicht.

Mit freundlichen Grüßen,

Dr. Sonja Heyer

Berlin