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Heftarchiv – Themen und Debatten

Zur Lage der Zeitschriften in Europa

1999, zum fünfzigsten Geburtstag von SINN UND FORM, betonte Gustav Seibt: »Dadurch, daß die Akademie der Künste nach 1989 bereit war, die Zeitschrift weiterzuführen, hat sie einen bedeutenden Beitrag zur geistigen Freiheit in Deutschland geleistet. Redaktion und Leser müssen ihn nutzen.« Literatur- und Kulturzeitschriften sind Orte des Austauschs, der Neugierde, der Entdeckungen. Für ihre Leser sind sie oft lebenslange Begleiter, an denen man sich orientiert, die man verlassen, zu denen man aber auch zurückkehren kann. Wichtig ist, daß sie da sind. Welche Rolle sie im öffentlichen Leben und in der intellektuellen Verständigung spielen, merkt man oft erst, wenn sie nicht mehr da sind. Grund genug, unter den aktuellen Umständen nach der Lage der Zeitschriften in Europa zu fragen. Wir haben Autorinnen und Autoren gebeten, uns ihre Sicht auf die Situation der Periodika in ihren Ländern zu schildern, auf Trends, Entwicklungen, Verluste hinzuweisen. An dieser Stelle wollen wir Sie in den kommenden Wochen in unregelmäßigen Abständen darüber informieren, wie es um diese Beiträge zur »geistigen Freiheit« bestellt ist.

OLGA PAVLOVA
LITERATURZEITSCHRIFTEN IN TSCHECHIEN
Gemäß den Statistiken von 2021 leben in der Tschechischen Republik 10,5 Millionen Menschen. Im selben Jahr wurden dort mehr als 14.000 Buchtitel gedruckt. Und es erscheinen dreißig Literaturzeitschriften, gedruckt oder in elektronischer Form oder beides. So entsteht ein scheinbar paradiesisches Bild: In diesem Land stehen der Kultur Tür und Tor offen. Und doch ist das Gegenteil der Fall. Bei den meisten veröffentlichten Titeln handelt es sich um Lehrbücher, Populär- und Trivialliteratur; bemerkenswerte tschechische Originalausgaben oder Übersetzungen stehen an letzter Stelle. Ein weiteres Problem betrifft den Kulturjournalismus. Diese Tätigkeit freiberuflich auszuüben und davon zu leben ist eine Utopie. Große Redaktionen schaffen ihre Kulturressorts ab – oder es ist nur mehr eine einzige Person für sie zuständig. Deren Arbeit besteht darin, selbst Artikel zu schreiben, weitere Artikel bei freien Mitarbeitern einzuholen und die Existenz des Kulturressorts gegenüber der Geschäftsführung zu verteidigen. Problematisch sind auch die Honorare, die in Tschechien meist auf dem Niveau von vor fünfzehn Jahren geblieben sind und von ein paar Hundert Kronen für kürzere Artikel bis zu wenigen Tausend Kronen für längere Texte reichen (100 CZK = 4 EUR).
Größere personelle Ressourcen sind nur noch bei Kultur- oder Literaturzeitschriften zu finden. (...)

Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck


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MARIA TERESA CARBONE
ATEMLOSE GESPRÄCHE DER UNHAPPY FEW
Zur Lage italienischer Literaturzeitschriften

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Mit dem Titel einer alten Komödie von Dario Fo, »Non si paga, non si paga!« (1974), könnte man auch sagen: In Italien zahlt man einfach nicht für Kultur. Kostenfrei sind so auch einige der am weitesten verbreiteten Blog-Zeitschriften der letzten 10 Jahren, darunter Le parole e le cose (Die Worte und die Dinge) Doppiozero (Doppelnull) und Antinomie (bei deren Geburt unter anderem Federico Ferrari und Riccardo Venturi sowie mein ehemaliger »Alfabeta«-Kollege Andrea Cortellessa mitgewirkt haben). Einige Periodika versuchen sich diesem Verdikt zu entziehen, so ein inzwischen fast als historisch zu bezeichnender Titel »L’indice dei libri del mese« (Index der Bücher des Monats), der sich 1984 nach dem Vorbild der »New York Review of Books« gegründet hat. Die Monatszeitschrift erhebt – wie es sich gehört – für ihre gedruckte Ausgabe ein Entgelt, stellt aber auch viele ihrer Online-Artikel hinter eine Paywall. Es bleibt abzuwarten, ob das im Falle zweier brandneuer, Ende 2022 und Anfang 2023 gegründeter Online-Zeitschriften, die dies auch tun und zu Recht stolz darauf sind, ausreicht, um die Vergütung der Autoren zu gewährleisten: »Snaporaz« von Filippo D’Angelo und Gianluigi Simonetti sowie »Lucy sulla cultura« (Lucy über Kultur), herausgegeben von Nicola Lagioia. Beide Publikationen verbindet der ausdrückliche Wille, diejenigen, die für sie schreiben, zu bezahlen (was hoffentlich auch für die Redakteure gilt), und ihre Leserschaft dafür zur Kasse zu bitten.
(...)

Aus dem Italienischen von Elisa Primavera-Lévy


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SIEGLINDE GEISEL
MARKT UND MÄZENE
Kulturzeitschriften in der Deutschschweiz

In der Schweizer Medienlandschaft sind manche Trends deutlicher ausgeprägt als in Deutschland. Mit 5,9 Millionen Deutschschweizern ist der Markt vierzehnmal kleiner, entsprechend erhöht ist der ökonomische Druck. Dazu kommt die politische Lage: Das rechtsbürgerliche Lager verfügt mit Christoph Blocher, Tito Tettamanti und anderen über einige Milliardäre, die sich Medien und damit Macht erkaufen, so geschehen etwa mit der Basler Zeitung sowie der ehemals linksliberalen Weltwoche, die sich unter Roger Köppel in ein rechtes Kampfblatt verwandelt hat.

In der Deutschschweiz gibt es zwei traditionsreiche Kulturzeitschriften: den »Schweizer Monat« (früher: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft und Kultur), gegründet 1921, mit einer Auflage von ca. 4000 Exemplaren, und das Magazin »Du«, gegründet 1941, mit einer Auflage von 16 000 Exemplaren. Beide Zeitschriften erhalten keine öffentlichen Gelder, sie finanzieren sich durch eine Mischung aus Abonnements, Werbung und Sponsorenbeiträgen.

Ein wichtiger Sponsor des »Schweizer Monat« ist der ehemalige Privatbankier Konrad Hummler, laut der Wochenzeitung WOZ unterstützte er den Relaunch der Zeitschrift 2011 mit einem »beträchtlichen sechsstelligen Betrag«. Die »Du« wurde 2003 vom Tages-Anzeiger an den Niggli-Verlag verkauft; seit 2007 gehört sie dem Medienunternehmer Oliver Prange, der das Magazin in Personalunion als Verleger, Eigentümer und alleiniger Redakteur verantwortet. Die Zeitschrift kann man für einen Betrag von 60 000 Franken faktisch buchen: »So sponsern beispielsweise Stiftungen, Großbanken, Versicherungen und kulturelle Institutionen. Und wir machen das Heft dazu«, wird Prange in der WOZ zitiert. Wenn etwa das Lucerne Festival eine Nummer finanziert, bringt »Du« ein Heft zum Festivalthema heraus und die Organisation erhält mehrere hundert Exemplare der Ausgabe als Werbegeschenk.

Private Finanzierung garantiert keine inhaltliche Unabhängigkeit, das zeigt diese Konstellation deutlich. Das dezente Content-Marketing der »Du« ist weniger harmlos, als es klingt. (...)

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ANDREA ZEDERBAUER
KULTURPOLITIK ALS KORREKTUR
Ein bescheidener Vorschlag aus Österreich

Neulich, als ich rundum »sorgenfrei« in unserer Wiener Redaktionshängematte schaukelte – es gab nichts zu tun, eben hatten wir wieder einmal »den Staatstresor geknackt« und mit dessen Inhalt »quasi-monopolistisch« unter Mißachtung »aller konkurrenzrelevanten Faktoren (Leistungen, Preise, Honorare etc.)« die Frühjahrsausgabe unserer Zeitschrift »wespennest« »publizistisch ungefährdet« und in »nur magerer Qualität« an die Druckerei geliefert – und mich in Gedanken über Michel Foucaults »Mut zur Wahrheit« verlor, ein Buch, das Frank Berberich vor dem Hintergrund der von ihm angestrebten juristischen Klärung der Causa »Staatspresse oder Pressefreiheit« in seinem Antwortschreiben an Michael Krüger heranzieht, um sich selbst, wenn ich es richtig verstand, aber wer kann schaukelnd schon klar denken, mit Foucaults Hilfe auf die Seite des Wahr-Sprechens zu stellen und Michael Krüger auf jene der Rhetorik, fiel mein Blick auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Es ging darin um »weaponized incompetence«, was mit »strategische Inkompetenz« übersetzt wurde. Sieh an, dachte ich schläfrig, schon wieder das Heraufziehen eines neuen Kampfbegriffs verpaßt, um kurz darauf festzustellen, daß es sich um alten Wein in neuen Schläuchen handelte. Strategische Inkompetenz meint schlicht: sich ein wenig dumm oder taub stellen (und dabei mitunter trotzdem bekommen, was man will). Alles in allem ein Verhalten, so erinnerte ich mich vage an einen mütterlichen Erziehungsversuch, das besser unterbliebe, ein Ratschlag, der dem Kind gern in der kniffligen Formulierung präsentiert wurde, man möge sich, bitte schön, nicht dümmer stellen als man sei.
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RON MIECZKOWSKI
EIN FUNDUS AN MÖGLICHKEITEN
Literaturzeitschriften in Polen

ENTMUTIGUNG
Wir sind von Euch
entmutigt: Die Zahl Eurer
Abonnements ist jämmerlich
gering, von Eurer Resonanz
ganz zu schweigen, schämt Euch.

Dieses Gedicht (das in meiner Übersetzung viel von seiner mehrdeutigen Gewitztheit verliert) stand einige Jahre lang in jeder Nummer der polnischen Zeitschrift »Literatura na świecie« – anstelle der in anderen Zeitschriften üblichen Abonnementreklame. Was sich wie eine Publikumsbeschimpfung, wie ein Ausdruck der Resignation angesichts der eigenen Bedeutungslosigkeit ausnahm, war wohl eher ein Augenzwinkern für die Leserschaft. Die durfte darin nicht den Groll einer von öffentlicher Hand finanzierten Redaktion erkennen, die ihr Tun gern mit entsprechenden Leserzahlen beglaubigt gesehen hätte, sondern die bewußte Umkehrung des Vorwurfs, vor dem sich in marktgläubigen Gesellschaften jeder hüten muß, der sich mit »Schöngeistigem« beschäftigt: Was wir tun, ist durch keine Nachfrage ökonomischer Art gedeckt. Ihrer Auflage, die seit Jahren stabil bei 1700 Exemplaren liegt, braucht sich die »Literatura na świecie« gleichwohl nicht zu schämen. Eine so ironische Ranküne in Gedichtform muß man sich leisten können. (...)
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MARC SAGNOL
ÜBER DIE VERKÜMMERUNG DES ZEITSCHRIFTENLEBENS IN FRANKREICH
Aus Anlaß der Attacke auf »Sinn und Form«

Angesichts der Bedrohung der Zeitschrift »Sinn und Form«, deren Einstellung unabsehbare Folgen für die deutschsprachige Literaturlandschaft hätte, möchte ich einige Gedanken über das Verschwinden von Zeitschriften und über die Verengung und Verkümmerung der intellektuellen Debatte in Frankreich anstellen. In den letzten Jahren hat man das Ende mehrerer wichtiger Zeitschriften erlebt: »Theodore Balmoral« (1985-2014), »Fario« (2005-2015), »La Quinzaine littéraire« (1966-2016), »Les Temps modernes« (1945-2018), »Conférence« (1995-2019) und zuletzt »Le Débat« (1980-2020). 
»Theodore Balmoral« und »Fario« waren vorzügliche literarische Zeitschriften, die erste gab Thierry Bouchard in Orléans heraus, die zweite Vincent Pélissier in Paris. »Theodore Balmoral« publizierte dreißig Jahre und 74 Hefte lang bedeutende Autoren wie Pierre Bergounioux, Pierre Michon, Louis-René des Forêts, Henri Thomas, Jean Roudeau. Von »Fario« erschienen in zehn Jahren vierzehn Hefte, u. a. mit Übersetzungen von W. G. Sebald, Alexander Kluge, Anna Achmatowa, Olga Sedakowa. Die fast gleichzeitige Einstellung beider Zeitschriften wird durch die Tatsache, daß der Verlag Fario in einer »collection« (literarischen Reihe) an sie anknüpft, nicht kompensiert.
Die zweimal im Monat erscheinende »Quinzaine littéraire« wurde 2016 nach dem Tod ihres Gründers, des Verlegers Maurice Nadeau, nach fünfzigjährigem Bestehen eingestellt. Sie wurde viel gelesen und veröffentlichte vor allem Besprechungen, aber auch Dossiers über Schriftsteller. So trug sie dazu bei, neue Autoren bekannt zu machen und ihnen einen festen Platz im literarischen Leben zu sichern. Geleitet wurde sie von Maurice Nadeau und Anne Sarraute, der Tochter von Nathalie Sarraute. (...)
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