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Heftarchiv – Themen und Debatten

Über Katastrophen schreiben

Wer eine Katastrophe überlebt und sie in Worte faßt, oft mit zeitlichem Abstand und gegen innere und äußere Widerstände, bringt kollektive Erfahrung und individuelles Erleben in einer Erzählung zusammen und bewahrt so die Erinnerung für eine Gemeinschaft von Verschonten. Cécile Wajsbrot beschreibt diese Verschränkung (1/2013) anhand der Katastrophenerzählungen von Plinius’ Augenzeugenbericht vom Untergang Pompejis und Herculaneums bis zu Defoes »Tagebuch des Pestjahrs«: »Hinter den dargestellten Verhaltensweisen erscheint die universelle Angst, das Signum der Katastrophe. Der Erzähler ist davon nicht frei und kann es auch nicht sein, sonst hätte sein Zeugnis keinen Sinn.«
Anne Dorn beschreibt die Katastrophe als höchstpersönlichen Verlust (6/2010), den sie mit dem Zusammenbruch des Historischen Archivs der Stadt Köln am 3. März 2009 erlitt: »Und unter der Haut bleierne Stille und Schwere, wie ein Senkblei die gefühlte Gewißheit: Das ist für mich.« Fast ihr gesamter Vorlaß und damit ein wichtiger Teil ihrer künstlerischen Identität und ihres Vermächtnisses wurden verschüttet.
Verschiedene Theorien über Katastrophen als Einbrüche aus dem All und Kollisionen von Himmelskörpern, die unsere Erde mitgeformt haben, untersucht Claudia Schmölders in ihrem faszinierenden Essay »Der Meteorit von Tunguska. Zur Geschichte des Katastrophismus« (1/2009): »Das Tunguska-Event gehört auch in jene Kategorie, die Reinhart Koselleck in der neueren Geschichtsschreibung vermißt hat: die des Zufalls. Schon Leonid Kulik hatte ja bemerkt: ›Wäre der Meteorit um nur vier Stunden und 48 Minuten eher niedergegangen, so hätte im Explosionszentrum das damalige St. Petersburg gelegen und niemand weiß, was dann davon noch übriggeblieben wäre.‹ Eine Vision, die sich noch ausspinnen läßt. Denn hätte es nach einer solchen Katastrophe überhaupt eine russische Revolution geben können, einen ersten Weltkrieg und einen zweiten?«

CLAUDIA SCHMÖLDERS Der Meteorit von Tunguska. Zur Geschichte des Katastrophismus
»Alle sprachen von Hitze, Donner und einer Druckwelle, einem leuchtenden Objekt und großer anhaltender Helligkeit. Strittig blieb der Verlauf der Flugbahn des leuchtenden Objekts. Die einen hatten es von Südost nach Nordwest fliegen sehen, die andern eher von Süden nach Norden oder Nordost. Bis heute widersprechen die Berichte einander und demzufolge auch die Deutungen der Wissenschaft.«
1/2009
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ANNE DORN Verlust
»Und dann der Druck meines Zeigefingers der linken Hand auf den Startknopf des kleinen Radios mit Standardeinstellung WDR III.
›Nachrichten. Es ist fünfzehn Uhr. Soeben ist das Historische Archiv der Stadt Köln in sich zusammengestürzt.‹«
6/2010 | zum Text

CÉCILE WAJSBROT Über Katastrophen schreiben
»Und jene, fast hätte ich gesagt, Ur-Katastrophe, was sie chronologisch gesehen gar nicht ist, die man auf den Begriff Auschwitz bringen kann. Doch dieser Name wirft einen zu großen Schatten, verbreitet die schwarze Aura des Grauens und verdammt zum Schweigen, zu wirren, ungreifbaren, widersprüchlichen Gedanken; dafür gibt es keinen Maßstab, keinen Vergleich; Adornos aus dem Zusammenhang gerissener, tabugespickter Satz von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, wo doch zur selben Zeit Paul Celan schrieb. Doch darüber wurde schon so viel gesagt, daß ich die Sache anders angehen möchte, wenn man ihr schon nicht ausweichen kann. Hat Imre Kertész nicht geschrieben, auch wenn ich nicht von Auschwitz spreche, spreche ich von Auschwitz?«
1/2013 | zum Text