Sebastian Kleinschmidt, Sechzig Jahre Sinn und Form
Was das Erreichen des sechzigsten Jahres im Leben eines Menschen bedeutet, kann man in etwa sagen. Auch ich könnte es, bin ich doch aller Voraussicht nach der letzte Leiter von Sinn und Form, der älter als die Zeitschrift ist. Aber nehmen wir Brecht, den Schutzherrn ihres ersten Dezenniums. Er wurde zwar nicht sechzig, aber er hatte Ideen dafür. In dem letzten Gespräch, das Caspar Neher mit ihm führte und von dem er im zweiten Brecht-Sonderheft 1957 berichtet, sprach Brecht von seinen Plänen für das Alter: »Wenn wir sechzig sind, haben wir allerhand hinter uns, da wollen wir manches sein lassen, was wir jetzt noch zu tun haben. Dann wollen wir uns wieder, wie in unserer Jugend, an Gesprächen delektieren, zu denen man leider jetzt viel zu wenig kommt. Es wird an der Zeit sein, sich zurückzuziehen.«
Oder nehmen wir den römischen Kaiser Hadrian, wie ihn Marguerite Yourcenar in ihrem Roman »Ich zähmte die Wölfin« wieder zum Leben erweckt hat, jene Marguerite Yourcenar, mit deren Essay »Träume und Schicksale« das Jubiläumsheft zum 60. Jahrestag von Sinn und Form eröffnet. In diesem wunderbaren Roman, der aus einem dreihundert Seiten langen fiktiven Brief besteht, den Hadrian an seinen Adoptivenkel, den späteren Kaiser Marc Aurel, schreibt, ist gleich zu Beginn von einem Arztbesuch die Rede, von Herzwassersucht, geschwollenen Beinen und vom Ringen nach Luft. Hermogenes, der Arzt, glaubt Hadrian, seinen Patienten, »mit Redensarten trösten zu sollen, zu nichtssagend, als daß sie den Leichtgläubigsten täuschen könnten«. Obwohl Hadrian diese Art von Betrug verabscheut, verzeiht er dem ergebenen Diener den Versuch, ihm seinen baldigen Tod zu verheimlichen. Natürlich wissen beide: die gesetzte Grenze überschreitet niemand. Hadrian schreibt dem Enkel: »Ich bin ein Mann von sechzig Jahren.« Und dann folgen eindrucksvolle Reflexionen über das Näherrücken des Todes: »Es bedeutet nichts, wenn wir uns sagen, daß unsere Tage gezählt sind, denn so war es von je und so ist es noch heute für alles, was atmet. Je mehr aber die Krankheit fortschreitet, je mehr verringert sich die Ungewißheit über Ort, Zeit und Todesart, die uns das Ziel verbirgt, dem wir unablässig entgegengehn. … Wie der Reisende, der das Inselmeer durchschifft, die Uferlinie im Abenddunst aufleuchten sieht, sehe ich allmählich den Umriß meines Todes Gestalt annehmen. Schon gleichen manche Gebiete meines Lebens den ausgeräumten Sälen des zu großen Palastes, den der verarmte Besitzer nicht mehr ganz bewohnt.«
Hadrian führt seinem Enkel vor Augen, welchen Lieblingsbeschäftigungen er schon lange nicht mehr nachgeht, er jagt nicht mehr, er reitet nicht mehr, er schwimmt nicht mehr. Dann kommt er auf die Nächte zu sprechen: »Von den Freuden, die ich allmählich misse, ist der Schlaf eine der herrlichsten und dabei einfachsten. Ein Mann, der auf seinem weichen Kissen nur wenig und unruhig schläft, hat volle Muße, über diese Wohltat nachzusinnen.«
Womit wir beim Thema wären, dem zweifachen des heutigen Abends, dem sechzigsten Jahrestag von Sinn und Form und der Metaphysik der Schlaflosigkeit.
Nachdem wir hörten, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für einen Menschen bedeutet oder bedeuten kann, haben wir nun zu fragen, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für eine Zeitschrift bedeutet. Das ist schwer zu sagen, und zwar deshalb, weil man das Durchschnittsalter von Zeitschriften nicht kennt und ihre Lebensfristen nicht abschätzen kann. Vom Menschen sagt der Psalmist: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« Vor dem Hintergrund dieser Fristen markieren wir die Lebensstufen des Menschen, nämlich Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Uralter.
Aber wie alt ein literarisches Periodikum werden kann, wissen wir eben nicht, jedenfalls nicht, solange es erscheint. Natürlich gilt auch hier, was überall gilt: die Dinge kommen und gehen. Selbst viele der besten und berühmtesten Literaturzeitschriften sind nicht alt geworden. Nehmen wir Schillers »Horen«, zwei Jahre, Wielands »Teutscher Merkur«, sechzehn Jahre, Schlegels »Athenäum«, zwei Jahre, Kleists »Berliner Abendblätter«, zwei Jahre, Jaspers’ »Wandlung«, vier Jahre, Bubers »Kreatur«, vier Jahre, Thomas Manns »Maß und Wert«, vier Jahre, Alfred Anderschs »Texte und Zeichen«, drei Jahre, Enzensbergers »Transatlantik«, dreizehn Jahre. Aber einige Periodika sind alt geworden, ein paar sogar sehr alt. Bohrers und Scheels »Merkur « erscheint seit 1947, Michael Krügers »Akzente« seit 1954, »Die Neue Rundschau « des S. Fischer Verlags seit 1890. Und in den Niederlanden gibt es »De Gids«, zu deutsch der Leitfaden, der seit 1837 erscheint.
Die Gründe für diese extrem unterschiedliche Lebensdauer von Literaturzeitschriften sind vielfältig, Geldmangel, Redakteursmangel, Lesermangel, Ideenmangel, Lustlosigkeit. Zeitschriften sterben also entweder an finanzieller oder an personeller oder an geistiger Erschöpfung. Aber es gibt noch andere Ursachen. Zum Beispiel Währungsreformen und Generationswechsel. Nicht zu vergessen Revolutionen. Nichts ist für eine Zeitschrift so gefährlich wie ein plötzlicher geschichtlicher Umbruch. Ich weiß, wovon ich rede.
Auch Sinn und Form, die nun sechzig Jahre alt gewordene Zeitschrift der Akademie der Künste, hat einen Epochensturz erlebt. Die meisten Zeitschriften überleben ihn nicht, weil sie zusammen mit dem Ancien régime, der über Nacht schal gewordenen alten Welt, untergehen.
Wer sich heute der Revolution von vor zwanzig Jahren erinnert, einer Revolution, die nicht nur das Ende des kommunistischen Zeitalters bedeutete, sondern auch den Weg freimachte für die Wiedervereinigung des zweigeteilten Deutschland, der muß immer wieder darüber staunen, daß dies alles friedlich und ohne jene Schrecken vonstatten ging, die üblicherweise mit Revolutionen, mit der Leidenschaft ekstatischer Massen, ihrem Haß, ihrer kollektiven Gewalt, ihrer geistigen Bedenkenlosigkeit verbunden sind. Wo gab es je so einsichtsvolle, sanftmütige, disziplinierte und höfliche Revolutionäre? Und wo gab es je einen so demutsvollen und geräuschlosen Abgang von Staaten, ein so ergebenes Sich-Fügen ins geschichtliche Abtreten, ein derartiges In-sich-Zusammensinken von Macht? Und vergessen wir nicht, diese Macht war kein nur ins Agitieren, Propagieren und Dekretieren verliebter Orden gutgläubiger Parteisekretäre, das war ein waffenstarrendes Regime, das alle Kommandohöhen der Gesellschaft besetzt hielt und niemandem gestattete, es zur Rede zu stellen.
Besonders prekär war die Lage hinsichtlich der geistigen Produktion. Wer sagt, im Kommunismus herrschte die Lüge, sagt nicht die Unwahrheit. Aber wie abgedroschen klingt das. Wer aber liest, was Erwin Strittmatter in seinem Tagebuch unter dem Datum 8. April 1978 notierte, wird die ganze Heillosigkeit der Verhältnisse wieder vor sich sehen: »Der Roman (gemeint ist ›Wundertäter III‹ – S. K.) ist abgegeben, aber ich gehe umher wie ein Mörder, der bangt, daß man seine Tat bald entdecken wird. Kann es soweit kommen, daß ein Mensch fürchtet, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er aufschreibt, was er in seiner Umgebung und in seiner Gesellschaft, in der er lebt, durchschaute und erkannte? Das ist so, weil ich bereits in der zweiten Diktatur lebe und weil in beiden Diktaturen (auch in der zweiten, von der ich etwas erhoffte) nach dem Grundsatz gehandelt wird: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer uns kritisiert, ist ein Abgesandter des Feindes. Ob Rechts-, ob Links-Diktatur, in beiden wird der Geist vergewaltigt. In der einen wird der anderen vorgeworfen, dass sie den Menschengeist knechtet, und umgekehrt. Wie kann ein denkender Mensch das gutheißen? Er heißt es nicht gut, doch allmählich bildet sich in ihm das Gefühl heraus, ein Ketzer, ein Verbrecher zu sein. Er ist allein, und derer, die der Diktatur lobsingen, sind viele.«
Es versteht sich, daß ein solcher Eintrag in der DDR nirgendwo hätte erscheinen können, auch nicht in Sinn und Form, jedenfalls nicht vor dem Herbst 1989. Daß wir des gewaltlosen Endes dieses Staates ansichtig werden durften auf der Bühne der Geschichte, einer Bühne, auf der es normalerweise ohne Blut und Tränen nicht abzugehen pflegt, ist ein Glück. Und ein geistiges Glück zudem, gerade auch wenn man weiß, daß der Geist nicht nur in Diktaturen unter Druck geraten kann.
Hegel, unser größter Geschichtsdenker, hat gesagt, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr. Wie wohltuend, daß er hier einmal irrte.
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SINN UND FORM 2/2010, S. 273-279, hier 273-275