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Heftarchiv – Leseproben

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Leseprobe aus Heft 3/2024

Langner, Beatrix Katharina

Die Dinge suchen ihren Dichter oder Lob des unfertigen Denkens. Giordano Bruno, Johannes Kepler und die Entdeckung der Unendlichkeit


1

Welche tiefe Erschütterung aller Gewißheiten es bedeutete, als zum ersten Mal das Universum als unendlicher Raum gedacht wurde – das können wir heutige Menschen uns nur noch schwer vorstellen. Denn was heißt das, Unendlichkeit? Zweitausend Jahre lang hatte das aristotelische Dogma, daß die Welt eine fest geschlossene Kugel und die Erde deren Mittelpunkt sei, der Menschheit ein Zuhause geschenkt; unsere Wohnung war begrenzt von der inneren Wölbung der Himmelskugel, ihre Wände waren der blau gestrichene Horizont, um den sich die zweite konvexe Wölbung der Fixsternsphäre legte, aus der die Sterne wie Nägel in einem gläsernen Iglu herableuchteten. Dahinter war nichts. Das Nichts, die absolute Leere läßt sich genauso wenig denken wie das Unendliche – ob wires nun En Sof, Welt-All oder Gott nennen wollen.

Es war Nikolaus Kopernikus, der die Zentralsonne der Vernunft in die Mitte des Kosmos rückte. Aber erst Giordano Bruno aus Nola verstand die philosophischen Implikationen der neuen Astronomie dieses Deutschen. Sobald unser Zentralstern nur noch einer unter Abermillionen Sternen am Firmament sein durfte, um die wiederum ein Vielfaches von Planeten und Monden kreisten, war die kristallene Kugel zerschlagen, unter der die Erde wie unter einer Käseglocke seit zwanzig Jahrhunderten gefangen saß. Auf einmal stand der Mensch im Grenzenlosen, frierend und allein, und noch mehr: Der Boden unter seinen Füßen begann sich zu bewegen und fuhr in zweifacher Bewegung mit atemraubender Geschwindigkeit durch den unendlichen Raum – eine weite Himmelsflur mit Sonnen, Erden, Weltkugeln, Sternen, Kometen öffnete sich vor seinen inneren Augen.

In Giordano Bruno hat das kopernikanische Planetensystem seinen ersten Dichter-Philosophen gefunden, auch wenn dieses Unendliche 1588, zur Zeit der Abfassung seines Dialogs »Vom Unendlichen und den Welten«, noch von keinem Mathematiker ausgemessen, von keinem Astronomen errechnet war.

»Dein einsam Wandeln nach den Himmelstoren,
Dahin sich die Gedanken dir erheben,
Führt zum Unendlichen, es hat das Leben
Des Wissens Kunst zu gleicher Höh’ erkoren.«

Auf rein denkerischem Weg, durch logisches Schließen und Deduzieren, mittels kritischer Prüfung der aristotelischen Schriften zur Naturphilosophie, insbesondere der Schrift »De Coelo«, kam Bruno zu dem Urteil, daß die Welt unendlich, das Universum grenzenlos sei und daß die Sterne droben die Sonnen ferner Planetensysteme seien, daß es also im unendlichen Raum Milliarden Sonnen und Planeten geben müsse und das Uni-Versum in Wirklichkeit ein Multi-Versum ist.

Im Aufbau gleicht der Dialog jenem zwischen den arabischen Gelehrten al-Biruni und Avicenna aus dem 10. Jahrhundert. Mit einem Unterschied: Die arabischen Philosophen hatten das All-Eine des Parmenides noch mit dem Gott des Islam identifizieren können. Brunos Universum war ohne Gott. In der akademischen Welt war er bekannt wie ein bunter Hund; sein Ruf als Häretiker eilte ihm auf seinen Reisen durch Europa voraus. Der ruhelose Wahrheitsjäger war, nachdem er England 1585 verlassen und sich einige Zeit in Paris aufgehalten hatte, ein Jahr später auf der Suche nach akademischen Förderern zunächst nach Mainz, Wiesbaden und Marburg gegangen. Doch die Matrikel deutscher Universitäten waren ihm verschlossen, eilte ihm doch der Ruf eines Zauberers, etwa wie der legendäre Johann Faust, und Gottesleugners voraus. Im protestantischen Wittenberg gelang es ihm schließlich, eine Professur zu erhalten, nachdem er die lutherische Konfession angenommen hatte, dort auch veröffentlichte er eine umfassende Aristoteles-Kritik, die »120 Artikel über Natur und Welt«. Von dort zog er weiter nach Prag, an den Hof des Kaisers Rudolf II.; er betrieb einige Monate lang mathematische Studien und vertiefte sich in arabische Philosophie, schickte dem Hofastrologen Tycho Brahe seine Bücher, fand sogar Gehör beim Kaiser – doch wieder keine Anstellung wie erhofft. So reiste er Ende 1588 weiter nach Helmstedt, befaßte sich an der dortigen Universität eingehend mit Magie – und wurde wegen Ketzerei aus der lutherischen Kirche ausgeschlossen.

Im April 1590 floh er nach Frankfurt am Main, wo er einige Monate als Jordanus Brunus Nolano im Karmeliterkloster lebte und in Johann Wechel einen mutigen Buchdrucker fand. In Frankfurt empfing Bruno dann den verhängnisvollen Brief eines venezianischen Adligen, der ihn in sein Haus einlud – und zu seinem Verräter wurde. Der Rest ist bekannt: Am 23. Mai 1592 wurde Bruno verhaftet und verbrachte seine letzten neun Lebensjahre im Gefängnis, bevor er am 17. Februar 1600 auf dem Campo de’ Fiori den Feuertod eines Ketzers erlitt.

Die theologischen Implikationen seiner Naturphilosophie waren in der Tat umstürzlerisch: Wenn Gott das Allmächtige, Unendliche und Umfassende sei, argumentierte er, wie sei es dann möglich, daß er sein Werk als ein Begrenztes, Endliches geschaffen habe, wenn er damit nicht unterhalb seiner Möglichkeiten hätte bleiben wollen. »Denn wie die Tat, so ist der Wille und so auch das Vermögen« – das Weltall als Wille und Vorstellung: ein bezwingender Gedanke, den sich Arthur Schopenhauer rund dreihundert Jahre später zu eigen machen wird.

Die kopernikanische Astronomie widersprach dem »Sinnenschein«, wie Bruno schrieb, »daß diese Erde (…) den Mittelpunkt des Weltalls bilde und daß sie allein feststehe und alles andre um sie sich drehe und kreise«. Derselbe »Sinnenschein« mußte aber auch für die etwaigen Bewohner des Mondes und der anderen Sterne, Erden und Sonnen bestehen, so daß an ihnen der Mensch seinen eigenen Irrtum begreifen könnte (Dritter Dialog). Von diesem Gedanken ist es nur noch ein kurzer Schritt bis zur Idee einer Raumfahrt oder Himmelsreise, wie Bruno sie dann ausgiebig in seinem letzten, von Johann Wechel gedruckten Werk ausführt, »De Immenso et Innumerabilis« (Vom Unendlichen und Unzählbaren), einem kosmologischen Lehrgedicht nach lukrezischem Vorbild. Nachdem der Reisende von oben einen Blick auf Europa, Italien, Sizilien, die Toskana, England geworfen hat, wird er aufgefordert:

»Nun geh’ und lehre jene Mondbewohner,
Es habe auf der Erde sich weit mehr
Verändert, als sie auf der Cynthia Antlitz
Von ihrem Standpunkt aus sich ändern sehn!«

2

Johannes Kepler, zu jener Zeit noch Schüler der Klosterschule Maulbronn, griff dieses Gedankenspiel wenig später begierig auf, hatte er doch nichts Geringeres im Sinn als eine mathematisch-physikalische Mondastronomie auf der Grundlage der kopernikanischen Planetentheorie. 1589 nahm er sein Magisterstudium an der Universität in Tübingen auf; seine Abschlußarbeit gründete er auf Brunos Gedankenspiel einer Reise zum Mond. Das war pure Blasphemie; die Arbeit wurde abgelehnt. Nur Gott war der Blick von außen auf die Erde und die anderen Himmelskörper vorbehalten. Kepler verließ Tübingen und schlug sich einige Jahre als Mathematiker durch. 1596 legte er seine erste eigene Arbeit vor, »Mysterium cosmographicum« (Kosmographisches Geheimnis), eine kühne Rechtfertigung der kopernikanischen Theorie mit Hilfe der pythagoreisch-platonischen Denktradition, wie sie von Timaios in Platons gleichnamigem Dialog vorgebracht worden war. Timaios dachte sich das Universum als symmetrisches Bauwerk, dessen Grundform auf zwei Arten von Dreiecken beruht, aus denen er wiederum vier regelmäßige Polyeder ableitete: Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder und als viertes das Dodekaeder als »schmückende« Umhüllung des Fixsternhimmels. Ihnen wies er die vier empedokleischen Grundelemente zu: Feuer, Wasser, Erde, Luft. So fügte Keplers »Kosmographisches Geheimnis« euklidische Geometrie, pythagoreische Mathematik und empedokleische Elementenlehre zu einer eigenen, ganz neuen Kosmologie zusammen. Er schob – eine kosmologische Simulation, ein Gedankenspiel – einfach zwischen die Bahnen der Planeten, deren Parameter er den gängigen Planetentafeln entnehmen konnte, die platonischen Körper: Und siehe da, alles paßte in gehörigen Abständen wundersam zusammen.

Erst dreiundzwanzig Jahre später – die Keplerschen Planetengesetze waren gefunden, Kepler als Nachfolger Tycho Brahes ein anerkannter Astronom und kaiserlicher Hofastrologe in Prag – sollte sich zeigen, daß die schöne Theorie der regulären Polyeder weder Keplers eigenen Berechnungen noch den wirklichen Verhältnissen am Himmel standhielt, da sie auf der kopernikanischen Hypothese kreisförmiger Planetenbahnen beruhte. Nichts paßte mehr. Hier ragte eine Ecke in die nächstliegende Bahn, dort fehlte ein Stückchen vom Kreisumfang.

War der Lösungsweg falsch, so stimmte gleichwohl die Lösung. Fünf Himmelskörper umkreisten auf regelmäßigen Bahnen die Sonne. Erst als die Marsbahn berechnet, der konzentrische Kreis gegen die exzentrische Ellipse getauscht war, erschloß sich das Wunder der kosmischen Harmonie in seiner ganzen staunenswerten Schönheit.

Dennoch: Giordano Brunos Vorstellung eines außerirdischen Blicks auf die Erde, die bisher nur Gott selbst zugebilligt worden war, ließ Kepler nicht mehr los. Er habe vorigen Sommer eine neue Astronomie gefunden, schrieb er 1610 an seinen Freund Matthias Wacker, eine »Astronomie für Mondbewohner, und nicht nur das, sondern eine Mondgeographie«.

Im selben Jahr war sein mathematisch-physikalisches Hauptwerk abgeschlossen, die erste Darstellung einer vollkommen neuen, »ursächlich begründeten« Astronomie. Die »Astronomia Nova« widerlegt zunächst die kopernikanische Prämisse der konzentrischen Kreisbahnen der Planeten um die Sonne und ersetzt sie durch den aufwendigen Beweis exzentrischer Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht (Erstes Keplersches Planetengesetz). Sie beendet zweitens das tychonisch-kopernikanische Interregnum, indem für alle Planeten reguläre Sonnenumlaufbahnen nachgewiesen werden. Drittens zeigt sie, wie selbst aus falschen Hypothesen im logischen Schlußverfahren wahre Aussagen über physikalische Phänomene möglich sind.

Kepler erweist sich in diesem Meisterstück analytischer Philosophie als überragender Denker. Nachdem er Schritt für Schritt die antike Epizykeltheorie widerlegt hat, nähert er sich im vierten und fünften Teil des Buches seinem Hauptthema, der ursächlichen, das heißt physikalischen Begründung des heliozentrischen Planetenmodells von Kopernikus.

Für den krönenden Abschluß seines kosmologischen Systems, die »Harmonice Mundi« (Weltharmonik), nahm er 1619 noch einmal einen tiefen Zug aus dem mythischen »Mischkrug des Pythagoras«. Mit sichtlichem Spaß teilte er seine pythagoreischen Pappschachteln nach ihrer geometrischen Fähigkeit, ineinander zu schlüpfen, in Männchen (Würfel, Zwölfseit) und Weibchen (Achtseit, Zwanzigseit) und kopulierte sie zu himmlischen Ehepaaren. Die Stellung der Erde im kopernikanischen Planetensystem ergibt sich in dieser fröhlichen Astronomie wiederum als harmonische Mitte – und nur darauf kam es dem wieder nüchtern gewordenen Astronom an – in der Umarmung des (männlichen) Dodekaeder und des (weiblichen) Ikosaeder, »von denen ersteres die Sphäre der Erde von außen stützt, letzteres von innen«. Ihre Sonderstellung wird im planetarischen »Gleichnis der Fortpflanzung in deren Ehe und ihrem göttlichen und unaussprechbaren Proportionsverhältnis« damit begründet, daß sie kopulierend das kosmische Gleichgewicht zwischen den inneren und äußeren Planeten erhält, während sie ihrerseits durch ihren Mond unterstützt wird. Der pythagoreische Mythos der Zahl, auf seinem langen Weg durch die Jahrhunderte ermüdet und in seiner naturphilosophischen Beweiskraft geschwächt, erwacht in Keplers »Harmonice Mundi« als Analogon von Mathematik und Poesie zu neuem Leben. Freudig erbebten die Planeten; ihr Gelächter war bis zu den Ringen des Saturn zu hören.

Der Trompetenstoß der Kopernikanischen Revolution, der »Kleine Kommentar über die Himmelsbewegungen« (Commentariolus), um 1509 verfaßt, war bei den Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts beinahe folgenlos verhallt – das dürfen wir nicht übersehen. Um die Erde denkerisch aus dem Mittelpunkt der Welt in einen Außenarm des galaktischen Spiralnebels zu verrücken, genügte es nicht, die mathematischen Formeln für die Umlaufbahnen der Planeten zu errechnen. Die »logische Zentral-Sonne« der Vernunft wärmte nicht den empirischen Menschen, der Tag für Tag demütig von den himmlischen Mächten sein irdisches Schicksal entgegennahm; und die päpstlichen Konzilien wachten streng darüber, daß dies so blieb. Was die kopernikanische Astronomie brauchte, um das Denken wirklich zu verändern, war eine neue, große Erzählung von Sonne, Mond und Sternen; eine Kosmodizee, die zugleich Physik, Metaphysik und moderne Kosmologie wäre, der große Gesang von den himmlischen Konsonanzen im unendlichen Raum.

SINN UND FORM 3/2024, S. 379-392, hier S. 379-383