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Heftarchiv – Leseproben

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Leseprobe aus Heft 3/2024

Opitz, Michael

Günter de Bruyns Nachlass.
Aus dem Abseits nach Beeskow


»Mit beginnender Dämmerung überfiel mich eine Lustigkeit«, notierte Günter de Bruyn am 24. Februar 1969 angesichts des Glücks, ein »Haus zu besitzen«, in seinem Tagebuch. »Ich sitze am Ofen, rauche eine Zigarre u(nd) bringe es fast fertig, zu faulenzen.« Das Haus, das ihm so viel bedeutete, hatte er zwei Jahre zuvor eher zufällig gefunden, wie aus seiner Autobiographie »Vierzig Jahre« (1996) zu erfahren ist. Im Juni 1967 hatte er zusammen mit Bekannten eine Wanderung in eine Gegend unternommen, die nicht zu den bevorzugten Ausflugszielen der Berliner gehörte. Sensationelles war in Görsdorf und Umgebung nicht zu erwarten, aber man hoffte, auf zwei Mühlen zu stoßen, folgte dem Lauf eines Baches; und suchte eigentlich – so de Bruyn – die »Abwesenheit von Mensch und Kultur«.

Auf dieser Wanderung entdeckte der Schriftsteller in der Waldeinsamkeit ein Haus, in dem zu leben er sich vorstellen konnte. Allerdings war der Backsteinbau, eine Alte Schäferei, in einem so beklagenswerten Zustand, daß nur ein ausgesprochener Optimist auf die Idee kommen konnte, das Objekt zu kaufen: Fenster und Türen waren marode, und da das Dach an vielen Stellen undicht war, hatten Regen, Sturm und Schnee für fortschreitenden Verfall gesorgt. Der Autor hatte offensichtlich gehofft, daß ihm dieser abgeschiedene Bau die Möglichkeit bieten würde, ins Exil gehen zu können, ohne dafür das Land verlassen zu müssen. Mitten im Wald – so glaubte er – würde er unauffindbar sein. Denn ohne eine Wegskizze konnte man nicht zu ihm gelangen. Für den die Einsamkeit liebenden Autor, der damals noch in der Auguststraße 92 in Berlin-Mitte wohnte, war dies eine verheißungsvolle Aussicht – die sich aber als Trugschluß erwies, denn die Stasi fand ihn auch in seinem Waldversteck.

Wenige Wochen nach der Wanderung schrieb de Bruyn dem für Görsdorf bei Beeskow zuständigen Bürgermeister, daß er das Grundstück – sofern es zum Verkauf stünde – gern erwerben würde. Wie aus einem in seinem Nachlaß gefundenen Schreiben hervorgeht, hinterlegte er am 22. Juni 1968 den vereinbarten Kaufpreis in Höhe von 1600,– Mark. Im selben Jahr, als im Mitteldeutschen Verlag sein in einem Hinterhaus spielender Roman »Buridans Esel« erschien, wurde der Autor Hausbesitzer. Allerdings war sein Anwesen, das den Blick auf einen Bach in unmittelbarer Nähe freigab, bescheiden. Es verfügte nur über zwei Zimmer sowie eine kleine fensterlose Kammer, die de Bruyn als Schlafgemach diente. Es gab keinen Strom, und Wasser mußte mit einer in der Küche befindlichen Handpumpe heraufbefördert werden. Erst 1986 erfolgte der Anschluß an das öffentliche Stromnetz. Bis dahin nutzte de Bruyn Kerzen, Petroleumlampen und eine alte LKW-Batterie zur Lichterzeugung. Für wohlige Wärme in der guten Stube sorgte im Winter ein Kachelofen, an dem sich faulenzen ließ. Das Haus, durchaus jenem vergleichbar, von dem Henry D. Thoreau in »Walden« spricht, hatte seinen Charme – Luxus allerdings bot es nicht.

Seine Berliner Wohnung gab der Eigenheimbesitzer auch deshalb nicht auf, weil er in den Anfangsjahren in Blabber, so hieß der Ort der Abgeschiedenheit, kaum zum Schrei ben kam: »Blabber tötet meine Produktivität«, notierte er am 11. September 1970 im Tagebuch. »Ich kam heute um 10 Uhr hier an, noch gedanklich ganz bei meinem Roman (›Preisverleihung‹). Aber dann fällt einem, wo man geht und steht, nicht getane Arbeit auf, die jetzt plötzlich kaum aufschiebbar scheint.« Obwohl er dort viel zu selten zum Schrei ben kam, wollte er – so hielt er es 1970 im Tagebuch fest – »in den nächsten 2– 3 Jahren ganz nach Blabber ziehen und Ponys züchten (…)«. Pferde hatte de Bruyn eine Zeitlang tatsächlich besessen. Das weiß man aus dem zweiten Teil seiner Autobiographie. Weitere Details dazu hat er einer DIN-A5-Kladde anvertraut, die sich in seinem Nachlaß fand. Doch bevor er sich eigene Pferde zulegte, holte er sich fachmännischen Rat bei dem Island-Ponys züchtenden Schriftsteller Erwin Strittmatter, mit dem er sonst kaum ein Wort wechselte. Strittmatter, der die Absicht durchschaute, beschränkte sich auf ein knappes Antwortschreiben.

Bis zu de Bruyns endgültigem Umzug nach Blabber vergingen mehr als dreißig Jahre. »Heute Umzug der Berliner Möbel«, heißt es am 4. März 1999 im Tagebuch. Wenige Wochen später, am 31. März, machte sich der damalige Leiter der Handschriftenabteilung des Deutschen Literatur Archivs Marbach, Jochen Meyer, auf den Weg, um Günter de Bruyns Vorlaß abzuholen. Daß er auf diese Weise »manches schon loswerden« konnte, gefiel diesem auch aus »Platzgründen «, wie er Meyer schrieb. Im Laufe der Jahre war die Alte Schäferei zu klein geworden, trotz eines Anfang der neunziger Jahre errichteten Wintergartens. Deshalb hatte sich de Bruyn entschlossen, durch einen Anbau mehr Raum zu schaffen. Mit dem Erweiterungsbau würde für den gelernten Bibliothekar auch ein Traum in Erfüllung gehen, wie er am 13. Juli 1998 seinem Tagebuch anvertraute: »Zum ersten Mal in meinem Leben einen Bibliotheksraum, der groß genug ist.« Nicht ganz ein Jahr später konnte der Bau bezogen werden, im Untergeschoß wurde die mehr als zwölftausend Bände umfassende Bibliothek aufgestellt. Vom Erdgeschoß aus führt eine neben der Eingangstür gelegene Holztreppe ins Obergeschoß, wo sich ein Schlafzimmer, ein Bad und zwei miteinander verbundene Arbeitszimmer (mit jeweils einem Schreibtisch) befinden. Von beiden Arbeitsplätzen aus blickte de Bruyn auf das Althaus, den Innenhof, das Gartentor und den Briefkasten. Regale, die er an der Wand unter der Dachschräge aufstellte, boten in beiden Zimmern genügend Platz für neun DIN-A4-Ordner mit eigenen Manuskripten und Typoskripten sowie etwa sechzig weitere Ordner mit Materialien zu märkischen Orten (unter anderem drei umfangreiche Ordner zum Ort Kossenblatt), zu Schriftstellern (etwa zu Heinrich von Kleist und Theodor Fontane) und zu historischen Persönlichkeiten (Königin Luise und von Katte). Im vorderen Arbeitszimmer, dem sogenannten Lexikonzimmer, standen auch drei Ordner mit Berichten und Fotos von Exkursionen zu märkischen Orten. Anfang der achtziger Jahre hatte de Bruyn zusammen mit seiner Lebenspartnerin Rosemarie Zeplin und einem befreundeten Ehepaar damit begonnen, vor allem auf Fontanes Spuren zu wandeln. Mindestens einmal im Monat wurde ein Dorf oder eine Stadt aufgesucht und akribisch erkundet.

Im September 2022 ist mit der Erschließung des in Blabber liegenden Nachlasses begonnen worden. Die dafür erforderlichen Mittel stellten der Bund (BKM), das Land Brandenburg (MWFK), der Landkreis Oder-Spree und die Günter-de-Bruyn-Stiftung zur Verfügung. Seitdem wurden auch ein Teil der Bibliothek erfaßt und de Bruyns Manuskripte und Typoskripte gescannt und archiviert. Und die umfangreiche Materialsammlung zu märkischen Orten, Autoren und jenen Persönlichkeiten, die für ihn von Bedeutung waren, liegt inzwischen größtenteils in säurefreien Ordnern. Bei der Archivierung wurde das Ordnungsprinzip des Schriftstellers beibehalten. Von den Ordnern, in denen er seine Texte und Materialien abheftete, wurden identische Duplikate angefertigt, so daß der ursprüngliche Aufbewahrungsort eines Manuskripts oder Typoskripts jederzeit nachvollzogen werden kann.

Obwohl de Bruyn seinen Vorlaß in Marbach wußte, hatte er testamentarisch verfügt, daß sein Nachlaß im Brandenburgischen verbleiben soll. Die Stadt Beeskow hat der Günter-de-Bruyn-Stiftung in der Brandstraße ein um 1700 errichtetes Fachwerkhaus zur Verfügung gestellt, in dem, wenn die Restaurierungsarbeiten abgeschlossen sind (geplant ist Frühjahr 2025), das Archiv untergebracht wird. Zugleich soll das Haus, in dem auch Teile von de Bruyns Bibliothek einziehen, als Begegnungsstätte genutzt werden. Über die Gründe, warum der Autor seinen Nachlaß nicht nach Marbach gegeben hat, kann nur gemutmaßt werden, denn in einem Brief an das Literaturarchiv vom 18. Dezember 1996 heißt es noch: »In Marbach sähe ich es am liebsten.«

Wer zukünftig über den Verfasser von »Buridans Esel«, »Märkische Forschungen « und »Neue Herrlichkeit« im Archiv arbeiten will, wird zwei Orte aufsuchen müssen. In fünfundzwanzig Archivkästen liegen in Marbach Teile seiner mit Schriftstellerkollegen geführten Korrespondenz, wobei sich der über Jahrzehnte mit Christa und Gerhard Wolf geführte Briefwechsel als besonders aufschlußreich erweist. Bis 1989 war man eng befreundet – zusammen mit Gerhard Wolf gab de Bruyn die Reihe »Märkischer Dichtergarten« heraus. Fast wäre man sogar Nachbarn geworden, denn Ende der sechziger Jahre hatten auch die Wolfs vor – so de Bruyn im Tagebuch –, in Schwenow ein Haus zu erwerben. Doch die Freundschaft zerbrach in den Zeiten der »Wende«. Wer wissen will woran, muß die in Marbach und in der Akademie der Künste in Berlin liegende Korrespondenz einsehen. Von Interesse für die Erschließung von de Bruyns Werk dürften auch die in Marbach liegenden Kladden sein, in denen er Ideenskizzen und erste Fassungen zu Erzählungen und Romanen notierte.

Auf den Weg nach Beeskow werden sich wiederum jene Forscher begeben müssen, die sich für seine Tage- und Notizbücher interessieren. Noch in Sütterlinschrift ist das Tagebuch des Vierzehnjährigen von 1940 verfaßt. Jahrzehnte später, in einem kurz vor seinem 85. Geburtstag notierten Tagebucheintrag vom 1. Oktober 2011, erinnert sich de Bruyn daran, daß er im Unterschied zu seinen beiden im Zweiten Weltkrieg gefallenen Brüdern nur deshalb so alt werden konnte, weil er Glück hatte: »Da der Helm, den ihm die Deutsche Wehrmacht aufgedrängt hatte, den für sein Gehirn bestimmten Granatsplitter soweit bremste, daß er nach dem Durchschlagen des Stahlmantels und des Ledereinsatzes sich mit dem Steckenbleiben im Schädelknochen begnügen mußte, blieb ihm im Gegensatz zu seinen 2 Brüdern ein Grab in fremder Erde erspart.« Doch den Schluß des Satzes korrigierte er unmittelbar nach der Niederschrift im Tagebuch, so daß er schließlich lautet: »blieb ihm das Schicksal seiner 2 Brüder, die ihre unfreiwilligen, allerdings kostenlosen Reisen nach Rußland und Frankreich mit dem spurlosen Verschwinden bezahlt hatten, erspart«.

Zwischen 1940 und 2011 hat de Bruyn selbst unter widrigsten Umständen Tagebuch geführt oder sich in Kalendern Notizen gemacht. Leider haben sich nicht alle Tagebücher erhalten, aber die im Nachlaß vorhandenen stellen einen einzigartigen Fundus dar, den es noch zu erschließen gilt. Ebenfalls in Beeskow werden die Notizbücher mit Aufzeichnungen unter anderem über Sophokles, Jean-Jacques Rousseau, Thomas Mann und Oscar Wilde liegen. Als de Bruyn am 1. Dezember 1949 ein »Diensttagebuch« zu schreiben begann, arbeitete er erst seit zwei Monaten in der Volksbücherei Berlin-Mitte, war aber bereits der Überzeugung, »daß der Beruf des Bibliothekars wirklich der richtige« für ihn sei.

Noch während des Zweiten Weltkriegs hatte er damit begonnen, von ihm gelesene Bücher aufzulisten. Er erwähnt diese »Leseliste« im ersten Teil seiner Autobiographie »Zwischenbilanz« und weist darauf hin, daß er sich im Februar 1942 mit Platon auseinandersetzte. Zwei Monate später, so verrät ein Blick in das DINA5-Heft, las er Goethes »Egmont« und versah den Titel mit zwei Sternchen. Laut Legende ein Hinweis darauf, daß es sich um ein Schauspiel handelt und daß er es zum zweiten Mal gelesen hat. Mit »Wir Wunderkinder« endet das 1942 in Sütterlin begonnene und später in lateinischer Schrift geführte Heft am 31. Dezember 1960. In einem zweiten Heft wurde diese Liste fortgeschrieben. Sie endet im August 2020.

Bis zur Eröffnung des Hauses in der Brandstraße könnte die Archivierung des Nachlasses von Günter de Bruyn abgeschlossen sein, sofern das dafür benötigte Geld zur Verfügung gestellt wird. Auch wird man dann in Marbach und Beeskow wissen, wie sich die Zusammenarbeit der beiden Archive in Zukunft gestalten soll – erste Ideen sind bereits ausgetauscht worden. Eventuell lassen sich schon auf einer internationalen Konferenz zu Günter de Bruyns hundertstem Geburtstag am 1. November 2026 neueste, auf den Archivbeständen basierende Forschungsergebnisse präsentieren.

SINN UND FORM 3/2024, S. 308-312