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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-75-1

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Leseprobe aus Heft 1/2024

Trott zu Solz, Adam von

Ein böser Traum


Wir marschierten ganz früh morgens auf einer schmutzigen Straße zwischen kahlen Bäumen. Linker Hand zeigte sich der erste helle Streifen am Horizont. Ich war ziemlich weit vorn in dem Zug. Von Zeit zu Zeit überholte mich in der lockeren Marschordnung mein Hintermann – einer, mit dem ich mal zusammen auf der Schule gewesen war. Dahinter liefen, das wußte ich, noch allerlei Freunde aus der Studentenzeit und Beamte, die ich dann später auf den Büros kennengelernt hatte. Wir alle aber trugen die gleiche schmutziggrüne Uniform, Wickelgamaschen und Stiefel, deren Nägel auf dem Schotter im Straßendreck schürften. Wir marschierten aus, um uns eine Hinrichtung anzusehen.

Ein Lied müßten wir doch anstimmen. »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang« paßte doch. Wir sangen auch nicht laut, sondern unlustig, wie man das tut, wenn man nicht gefrühstückt hat. Nur einer sang die erste Strophe oder die letzten Worte – »bricht mir das Herz noch entzwei« – gellend laut, so daß es von einer roten Backsteinmauer widerhallte, die rechts aus dem Halbdunkel auftauchte. Weil er sich wichtig tun will, dachte ich, oder um die Beamten zu ärgern. Neben mir lachte einer schadenfroh.

Die Chaussee machte nach rechts einen Bogen, und wir marschierten nun geradewegs auf eine Reihe von Baracken los, die links am Wege lagen – rechts lag die hohe, rote Mauer. Noch ging es aber durch Äcker. Sie lagen ein paar Fuß tiefer als die Straße grau und naßkalt zwischen ausgeworfenen Gräben da. Der helle Streifen am Horizont fing an, gelb zu glühen. Das Lied war unterdes zu Ende gegangen. Ich stimmte diesmal an, ich weiß nicht, wie ich darauf kam: »Zu Mantua in Banden …«. Ich merkte aber, daß die anderen nicht richtig mitsangen. Trotzdem aber machte es mir Spaß, weil ich selten die tiefen Töne so schön herausbringen konnte – so tief konnten die anderen gar nicht singen. Ich machte auch, wie ich es von einem Gesangverein gehört hatte, nach »Ganz Deutschland« und vor »lag in Schmach und Schmerz« eine richtige Zäsur, nach der man etwas leiser weitersingt.

Donnerwetter, sagte ich zu mir selbst, was mach ich hier für einen Unsinn mit: Jetzt gehen wir alle zu einer Hinrichtung, und ich tue schön mit meiner Baßstimme. Pfui Teufel! Dabei ärgerte ich mich mehr über mich selbst, als daß ich etwa erwogen hätte, daß Staat und Strafe sein müssen und »Andreas Hofer« darum nicht am Platz gewesen wäre.

Dann langten wir an den Baracken an. Es waren unansehnliche, niedrige Häuschen aus Holz, innen mit schlechter, weißer Farbe gestrichen. Man konnte deutlich die vielen Stellen sehen, an denen sie schon abgesplittert war. Offenbar waren die Räume voller Sträflinge. Sie standen meist in Reihen zu dritt und unter Bewachung hinter den Fenstern und warteten auf das Schauspiel. Mein Blick traf den eines Gefangenen mit einem ernsten und schönen Gesicht, das er abweisend fortwandte. Einige Schritte weiter trat ein schnapsnäsiger, borstiger Alter in Gefangenenkleidung aus einem Gang heraus.

Rechts umschloß die rote Mauer einen undeutlich erkennbaren Platz, auf dem sich Menschen drängten. Es waren auch Jahrmarktsbuden aufgeschlagen. Plötzlich verstand ich, was dort vor sich ging. Zwei Henker tranken sich Mut an Menschenblut, um sich vor Anwandlungen zu schützen. Der eine vor der Bude drehte mir den Rücken zu. Ich konnte nur die Flasche mit dem dunkelroten, dickflüssigen Inhalt erkennen, die er angesetzt hatte. Hinter ihm sah ich Gerätschaften und ein großes Glasbassin auf dem Tisch, in dem – wie ich sofort verstand – menschliche Fleischteile in einer grünlich klaren Flüssigkeit schwammen. Etwas weiter, an der Mauer, stand der zweite, offenbar noch jüngere Henker. Mit beiden Händen vor dem Mund hielt er in einer unbeschreiblichen Weise, als ob er mit aller Kraft den Ekel herunterwürgen müßte, die Flasche und saugte und schmatzte an ihr, hintenübergelehnt mit geschlossenen Augen. Er trug einen blau-weiß gestreiften Kittel, ein weißes Käppchen und Ledergamaschen. Ich drehte mich um –

Trotz Anstrengung konnte ich den Fortgang des Traums nicht erfahren.


Nachbemerkung

Adam von Trott zu Solz, der Autor dieses bisher unveröffentlichten Textes, ist, wenn überhaupt, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime bekannt. Ab 1939 engagierte er sich beharrlich und unter ständiger Lebensgefahr für dessen Sturz und wurde wenige Wochen nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 im Alter von fünfunddreißig Jahren hingerichtet.

Von Anfang an war Trott keinerlei Kompromisse mit dem neuen Regime eingegangen und hatte dafür persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ein ideologisch-politischer Schulungsleiter in Kassel bescheinigte dem damaligen Rechtsreferendar »Schwäche und Unfähigkeit, bei den Ereignissen des neuen Aufbruchs anzukommen«. Obwohl »in mehrerlei Hinsicht begabt, mangele es ihm grundlegend an Eingliederung«. Der ständige Druck, dem der junge Mann ausgesetzt war, änderte nichts an seiner Entschlossenheit, selbstbestimmt zu leben und zu handeln. Als wacher Beobachter wußte Trott von Razzien, Verhaftungen und Konzentrationslagern. Er erlebte die Gefährdung und Verfolgung jüdischer und sozialistischer Freunde und Bekannte, denen er auf oft riskanten Wegen zu helfen bemüht war. Ihre Flucht und Emigration rissen bald große Lücken in seinem Freundeskreis. In Berlin knüpfte Trott Kontakte zu verschiedensten Regimegegnern. Er unterstützte auch sozialistische Untergrundkämpfer, ohne sich allerdings ihnen anzuschließen. Ihr Scheitern bestätigte seine Einschätzung, daß Widerstand keine Aussicht auf Erfolg hatte, solange sich das Militär nicht beteiligte.

Trotts Regimegegnerschaft kommt auf besondere Weise in einer Edition von Prosatexten Heinrich von Kleists zum Ausdruck. Da man eine solche Publikation nicht unbedingt von einem Rechtsreferendar erwartet, ist vorauszuschicken, daß Trott eine breite philosophische, politiktheoretische und literarische Bildung besaß. Mit knapp zweiundzwanzig Jahren hatte er nach seinem Jurastudium in Göttingen über »Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht« promoviert und anschließend in Oxford Philosophie, Politik und Volkswirtschaft studiert. Daneben hat er sich seinen Interessengebieten im Selbststudium ebenso wie in Gesprächen und Diskussionen mit vorzugsweise Gleichgesinnten gewidmet. Lesen war von Jugend an sein Lebenselixier.

Nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, denn die Verleger scheuten das Risiko, konnte Trott 1935 beim Potsdamer Alfred Protte Verlag Kleists »Politische und journalistische Schriften« herausgeben. Einige der ausgewählten Texte und vor allem Trotts doppelsinnige Einleitung sind nicht zuletzt als Appell an seine Zeitgenossen zu verstehen,»mitgängerische Anpassung« zu vermeiden und sich in »freimütiger Selbstverantwortlichkeit « aus der »unheimlichen Demoralisation der Despotie« zu befreien.

An einer Stelle heißt es bei Trott: »Die Freiheit ist nicht nur ein inneres, sondern ein politisches Postulat, insofern die äußere Macht und ihr Eingriff jenen allein Recht schaffenden Ursprung echter menschlicher Ordnung zu gefährden vermag. Je unsicherer es mit der Welt überhaupt bestellt ist, desto sicherer ist es notwendig, für dieses Recht zu kämpfen.« Kleist galt damals als »Klassiker des nationalsozialistischen Deutschlands«, und dies mag dazu beigetragen haben, daß die Zensurbehörden diesen Band ungehindert passieren ließen. Auf die Idee eines Gegenwartsbezugs sind sie erstaunlicherweise gar nicht gekommen.

Adam von Trotts literarischer Versuch »Ein böser Traum« ist im Dezember 1935 entstanden, und zwar, wie aus einem seiner im Bundesarchiv Koblenz liegenden Briefe hervorgeht, nach einem Traum, den er »fast genauso neulich hatte«.

Trott war zu jener Zeit sechsundzwanzig Jahre alt, was die deutlich jugendliche Prägung des Textes erklärt. Es war eine schwierige Zeit für ihn, wie ein Zitat aus einem Brief an seinen Vater verdeutlich: «Sehr werde ich von der Unmöglichkeit, eine berufliche Zukunft vor mir zu sehen, beunruhigt.« Wodurch diese Unmöglichkeit bedingt war, ist leicht zu erahnen. Es bedrückte ihn damals auch etwas ganz Aktuelles: Ihm stand in den ersten Monaten des Jahres 1936 die Einberufung ins Referendarlager bevor. Dies war ein notwendiger Teil der juristischen Referendarausbildung, den die Nazis eingeführt hatten: acht Wochen Kasernierung in der Nähe von Jüterbog, mit mehreren hundert Mann zur ideologisch-politischen Schulung und zu militärischem Drill. Mit Hinrichtungen hatte man in diesem Lager nichts zu tun. Desungeachtet fanden sie jedoch zunehmend statt.

Man muß kein Spezialist für Traumdeutung sein, um festzustellen, daß die Aversion gegen den Lageraufenthalt in den Traum eingegangen ist. Hier ist aber ohnehin vor allem Interpretation angebracht, denn Trott hat sein nächtliches Erlebnis mit literarischen Mitteln zu einer Erzählung gestaltet.

Der Traum als Darstellungsform hat in der Weltliteratur eine außerordentliche Bedeutung, bietet er doch unbegrenzte Möglichkeiten: Der realen Welt in keiner Weise verpflichtet, vermag er gerade diese besonders deutlich zum Ausdruck zu bringen, kann sie spiegeln oder umkehren, mit Irrealem auf vielfältige Weise verquicken oder auch in anderer Form Unsagbares andeuten, je nach künstlerischer Absicht. Diese Bedeutung des Traumes war Trott natürlich bestens bekannt. Viele seiner Lieblingsschriftsteller, seien es E. T. A. Hoffmann oder Jean Paul, Dostojewski oder Kafka, haben davon Gebrauch gemacht. Trott war weit davon entfernt, sich mit solchen Koryphäen messen zu wollen. Dennoch hat es ihn offensichtlich gereizt, die Möglichkeit des Traums einmal selbst literarisch zu nutzen.

Wenden wir uns Adam von Trotts Erzählung zu. Sie hat keine eigentliche Handlung, das Hauptaugenmerk ist vielmehr auf das Wo und Wie zu richten. Für Trott war eine elementare Beziehung zur Natur charakteristisch. Von allen Naturphänomenen, die er zu beobachten und auch zu beschreiben liebte, zogen ihn der Himmel und die Bäume am meisten an. Wann immer er Natur erwähnt, und sei es in einem einzigen Satz, bezieht er sich mit Sicherheit darauf, sogar in seinem unmittelbar vor der Hinrichtung geschriebenen Abschiedsbrief. Und auch in »Ein böser Traum« kommen Himmel und Bäume wieder vor, aber negativ besetzt wie selten bei ihm. Der Himmel wird auf einen hellen Streifen am Horizont reduziert, der gelb, fast feindselig zu glühen anfängt, und die Bäume sind kahl. Die ganze Atmosphäre ist bestimmt von einer Mischung aus visuellen und akustischen Elementen: eine schmutzige Straße, »schmutziggrüne« Uniformen und Stiefel, deren Nägel auf dem Schotter im Straßendreck schürfen, eine gellende Stimme, schadenfrohes Lachen, graue und naßkalte Äcker zwischen ausgeworfenen Gräben.

Der »unlustigen« Stimmung, wenn »man nicht gefrühstückt hat«, begegnen die jungen Männer mit Gesang: »Ein Lied müßten wir doch anstimmen«. Obwohl nur ein Traum wiedergegeben wird, ärgert man sich beim Lesen unwillkürlich darüber und ist fast erleichtert, daß der Erzähler genau diesen Punkt aufgreift: »Donnerwetter, sagte ich zu mir selbst, was mach ich hier für einen Unsinn mit, jetzt gehen wir alle zu einer Hinrichtung, und ich tue schön mit meiner Baßstimme!« Nebenbei wird hier ein biographisches Detail angesprochen, denn Trott war, wie vielfach belegt, ein guter und begeisterter Sänger. So hieß es häufig: »Adam, stimm’ an!«

In der Erzählung sind die Lieder aber kein Beiwerk, sondern haben eine Funktion. Beide nehmen, auf unterschiedliche Weise, das Thema der Hinrichtung auf. Das erste Lied »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang« (nach einem Text von Adelbert von Chamisso) handelt von einer privaten Freundschaftstragödie, der Freund muß den Freund erschießen. Dieses Lied wird von allen gesungen. Das zweite Lied über die Hinrichtung eines politischen Freiheitskämpfers aber singen »die anderen nicht richtig mit«, und so singt der Erzähler auffälligerweise allein. Eine zentrale, demonstrative Bedeutung kommt der Verszeile zu: »Ganz Deutschland lag in Schmach und Schmerz«. Sie entstammt dem Gedicht »Andreas Hofer«, 1831 verfaßt von Julius Mosen. (Dort heißt es aber nicht »lag in Schmach und Schmerz«, sondern »Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz.«) Der Tiroler Hofer wurde 1810 von einem französischen Militärgericht in Mantua verurteilt und hingerichtet und galt lange Zeit als Symbol des Freiheitskampfes schlechthin. Das vertonte Gedicht ist übrigens seit 1948 die offizielle Tiroler Landeshymne.

Der Erzähler hat es mit einem genialen Kunstgriff verstanden, die ganze Aufmerksamkeit auf diese Zeile zu lenken, indem er eine Nebensächlichkeit einfügt: »Ich machte auch, wie ich es von einem Gesangverein gehört hatte, nach ›Ganz Deutschland‹ und vor ›lag in Schmach und Schmerz‹ eine richtige Zäsur, nach der man etwas leiser weitersingt. « Ein weiterer Effekt: Durch die Betonung des leisen Weitersingens wird die Zeile erst richtig laut.

Die Verszeile läßt sich gleichsam als Leitspruch zum Erzählten verstehen: eine Welt, in der die Menschen, auch die Zivilisten, entweder Uniform oder Sträflingskleidung tragen, selbst der Henker. Eine Welt, die bestimmt wird von einer hohen, roten Mauer und unansehnlichen Baracken voller Sträflinge. Und dann sind da noch die blutschlürfenden und blutschmatzenden Henker. Sie sind ein ekelhaft eindrückliches Symbol für das Phänomen der Enthemmung, der Vorbereitung zu ungeahnter Brutalität.

Nicht nur die herausgehobene Verszeile, sondern den ganzen Text dieser Alptraum-Vision hat Adam von Trott auf seine Gegenwart bezogen. Er schickte ihn an seinen Bekannten Gustav Ecke, einen literarisch versierten Kunsthistoriker, in Peking. Ecke war jahrelang nicht mehr in Deutschland gewesen, und da Trott ihm keinen Tatsachenbericht über die veränderten politischen Zustände geben konnte, versuchte er es mit Literatur. Ganz unauffällig für die Zensur schrieb er dazu: »Mehr als dieses und jenes sagt Ihnen über uns vielleicht das kleine Blatt, das ich Ihnen beilege.«

In der geistigen Öde des Referendarlagers war Trott mit Georg Basner, einem der Schulungsleute, über Literatur ins Gespräch gekommen. Basner war Laienautor und schrieb an einem Drama über den schwedischen König Karl XII. Zu seiner Freude traf er in Trott einen Literaturkenner und suchte dessen Rat für sein Werk »Thron im Nebel«. Vielleicht weil er die Wirkung auf diesen Mann testen wollte, ging Trott das Risiko ein und schickte Basner den »Bösen Traum«. Dieser reagierte erschrocken, auch wenn er dies mit Humor zu überdecken bemüht war: »Ja, lieber Trott, haben Sie sich da einen tollen Spaß mit sich geleistet oder was? Nach diesen Visionen müßte man für den Schreiber fürchten (…) Was soll denn der Kleist oder der E. T. A. Hoffmann dazu sagen?« Nicht ohne den Schulungswart hervorzukehren, fügte er hinzu: »Ich schicke es Ihnen wieder, obgleich ich mir nicht einmal eine Abschrift machte, ich will es lieber lassen.«

Für uns heutige Leser bezieht »Der böse Traum« eine beklemmende Wirkung vor allem aus einer späteren Tatsache. Der Alptraum bricht ab, und der Erzähler kann »trotz Anstrengung seinen Fortgang nicht erfahren«. Anders als er wissen wir: Nicht im Traum, sondern in der Realität fand die Hinrichtung statt, die des Verfassers selbst am 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee.

Benigna von Krusenstjern

SINN UND FORM 1/2024, S. 5-9

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