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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-72-0

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Leseprobe aus Heft 4/2023

Regler, Gustav

Paris bei Nacht


Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem gußeisernen Herzen den Kopf in die Federn steckt,
wenn das Barmädchen Suzanne auf ihre Nase eine kleine Wolke von Puder tupft, die Flaschen wegstellt und sagt: »Il fait tard«,
dann ist Nacht in Paris, und der kuriose Glaser nimmt sein Fahrrad aus dem Stall und sein mittelalterliches Gewand aus dem Schrank, wirft es über und stößt vorwärts in die Straßen, die sich aufatmend erholen von dem Getöse der Wagen und dem Gift der Verbrennungsgase, und hat eine ganze Stadt für sich, deren Ruhe endlich wieder nach der Geschichte riecht, die sie schuf, nach den Königen, die ihre Avenuen breit in ihr Herz legten, nach den Dichtern, die ihre Cafés, nach den Malern, die ihre Hügel bevölkerten.
Und Glaser, der eine der besten Autobiographien unserer Zeit schrieb, als Deutscher in der französischen Armee kämpfte, Gefangener der Maginotarmee wurde und das Wunder erlebte, daß keiner der Kameraden ihn dem Henker verriet, Glaser pfeift auf seinem Rad, grüßt die herumstreunenden Hunde und Katzen und die schlafenden Schiffe in der Seine, schlägt ein Kreuz vor dem Kriegerdenkmal, das wie ein Pegel geformt ist, als mäße es die Flut des vergossenen Bluts, schnüffelt ein Mönchslächeln beim Passieren des Riesenbahnhofs der Weinfässer und ist bald im zeitlosen Land der Nacht, wo er sich einbilden kann, daß es nur ihn gibt in diesem Gewirr von Straßen, wo von Balkon zu Balkon sich die Geschichten spannen wie mehr oder weniger saubere Wäsche, und er überlegt, während er seine Lenkstange die Seine entlangführt, aus welchem Jahrhundert sie stammen und warum er allein übriggeblieben ist, die Geschichten nachzuschmecken wie einen Medoc und wie würzige Schnecken aus den Weinbergen von Reims.
Er schwenkt heute Nacht zum Norden. Er wird nie wissen, warum. Bald ist er nah der Place de la République. Am Gitter eines Parks hält er an; entzückt setzt er den Fuß vom Pedal auf den Asphalt; ein echtes Idyll bietet sich seinen Augen.
Ein Hirte schläft dort mit Hund und Ziege; er schläft den Schlaf des Gerechten, der nicht berührt ist, weder von der Arroganz der Afrikaner, die sich seit kurzem für ein Jahrhundert der Verachtung an den hilflosen Parisern rächen, noch von den lasterhaften Buben des Café Monaco, noch von den Mädchen der Rue de Lappe, die ihn lange vor Mitternacht sahen, als er sich sein nächtliches Haus ohne Dach baute.
Der Holzkasten mit den runden Käsehäufchen deckt seinen Osten, die braune Ziege seinen Westen, seine Füße wärmt ein Hund, der an eine größere Herde gewohnt war in seinen guten Zeiten.
Um den Hals des Hirten hängt die Schalmeienflöte, deren archaische Tanzweise er am Tag in die benzinvergifteten Boulevards geblasen hat.
Glaser ist voll brüderlicher Rührung; er sieht, daß die Ziege aufgewacht ist, sucht in den Tiefen seiner Mönchskutte und wirft eine Brotkruste vor das Tier, die sie ohne den Körper zu bewegen mit der Zunge erfaßt.
Glaser riecht nun Ziege und Käse. »Der einzige authentische Geruch in der Stadt der Parfüme!« murmelt er und stößt sein Rad wieder an.
Place de la République. Er winkt hinauf zu der bronzenen Dame mit dem ausgestreckten Lorbeerkranz, den sie immer noch nicht vergeben hat.
Hinüber zum Quai de Jemmapes. Der Wassergraben Saint-Martin zieht Glaser an.
Jean Jaurès! Der Canal de l'Ourcq. La Villette ist nah. Glaser hat es nicht bedacht, hat die Schlachthäuser seit Jahren vermieden. Nun blökt und bäht es in den Morgen, der voll Mord ist. Und andere finstere Geräusche mischen sich hinein:
Das Quietschen der Schweine, eh ihnen die Elektroden angelegt werden. Der kurze, aber brutale Knall der Pistolen, die an die Ochsenstirnen angelegt werden. Paris, das fleischgierige, schläft. Der Radfahrer aber erinnert sich der Ziffern, die er einmal studiert hat. Man tötet hier von sieben bis elf Uhr morgens. Gegen Mittag müssen sich die Seelen der Tiere drängen wie die Menschen im Bombenkeller. In einem Jahr 370.000 Großvieh. 230.000 Kälber. 800.000 Hammel. 50.000 Pferde. 840.000 Schweine, die Spanferkel, Apfel im Mund, eingeschlossen.
Wer hat ihn hierhergetrieben? Einer, der ihm die Freude an seinem einsamen Paris verderben wollte? Ein Poltergeist?
Er sieht über die Mauern der Korrale Menschen wimmeln; es gibt viertausend Schlächter und Verkäufer; um 22 Uhr beginnt der Verkauf durch Ausschreier. Vorher hat jeder eine Frühvesper genommen; man serviert als Minimum-Portion ein Pfund Entrecôte pro Person; sie sollen wissen, warum sie töten. Die viertausend sprechen übrigens einen fast unverständlichen Jargon; man nennt ihn „Louchébem“; Glaser versteht kein Wort davon. „Ich will auch gar nicht verstehen“, grummelt er und dreht sein Rad herum. „Was hätte ein solcher mir schon zu sagen!“ Stößt sich ab und zielt wieder nach dem Zentrum. Sein zweiter Fehlgedanke diese Nacht: Er will zu den Hallen, vergißt, daß er da dieselben Tiere steif und blutig vorfinden wird, er aber denkt nur an das Meer von Gemüse, an die Früchte und Blumen, an die Räder von Käse und die Körbchen mit Himbeeren; er fährt, als flüchte er und hätte selbst zu lange die Pistole an starke Stierköpfe gesetzt und zu viele Gurgeln von Schafen geschlitzt. Erreicht die Hurenstraßen von Saint-Martin und fühlt sich in der lauwarmen Atmosphäre der lächelnden Mädchen fast beruhigt. Sie kennen ihn; sein Mönchsgewand erregt ihren heidnischen Widerspruch. Er steigt ab, begrüßt einige, wehrt ihren Versuchen, sein Kleid aufzudecken, schiebt sein Rad weiter zu den mittleren Hallen: der Segen der Erde breitet sich aus!
Hügel von weißem Blumenkohl, die Köpfe wispernd zur Seite gedreht, Riesenkränze von leuchtender Brunnenkresse.
Körbchen von Himbeeren und Walderdbeeren aus Chambord, wie sie die Lippen der Poitiers schleckten.
Trauben der Touraine, die die Tafel von François Premier überkrochen in saftigem Reichtum.
Durchsichtige Säcke von frischen Zwiebeln neben Häuten, die von neuen hellen Kartoffeln strotzen.
Kisten von Pfirsichen von Orléans, deren Duft über die Träume der Jeanne d'Arc wehte. Melonen aus dem Süden van Goghs. Eine Brandung von leichten und heftigen Wohlgerüchen. Feigen aus erster Evahand. Blaugrüne junge Mandeln. Mundreife Birnen. Feste Äpfel aus Lothringen. Reineclauden, schon fast verfallend in ihrem fließenden Zucker.
Glaser geht herum mit seinem Rad und schnuppert. Es ist wie das Atmen an der Küste oder im Gebirge: man saugt alles tiefer ein; wie ein Elixier, wie die Gesundheit selber, wie die Reinheit, denn nichts ist tot hier; der Duft scheint die Garantie zu geben, daß das Leben noch weitergeht, daß die Beete wieder blühen werden, daß die Bäume sich mit grünem Schatten füllen, daß der Reichtum für alle Zeiten gesichert ist, daß dies alles durch den Menschen hindurchgehen und ihn leicht machen und die Brutalität aus seinen Knochen wegnehmen wird und die Mordlüste aus seinen Adern.
Da stößt ihn jemand von hinten an; ein Warnungsruf, ein fader Geruch von Blut, und dann bewegt sich dicht an ihm vorbei die Riesenwand eines geschlachteten Ochsenkörpers; die Wand wankt mit ihrem Fett unter einem verschmierten Menschen, der stark genug scheint, Berge zu versetzen. Gelbes Fett; zersplitterte Knochen, das Gitter eines Brustkorbs, alles unheimlich still, und da es seine Formen noch verrät, merkwürdig zwischen Tod und Leben.
Glaser tritt betroffen zur Seite und bemerkt erst jetzt, daß er schon an die Fleischhallen gekommen ist.

SINN UND FORM 4/2023, S. 515-521, hier S. 515-518