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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-72-0

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Leseprobe aus Heft 4/2023

Czapski, Józef

Tumult und Gespenster


(…)
Cannes. Das Schiff ist gerade erst aus Genua eingelaufen. Auf den Wellen schaukelt eine riesige, weise Schmuckschatulle mit einem roten Streifen am Schornstein und einem grünen dort, wo es die Wellen berührt: »Giulio Cesare«. Schiffsreisen liegen mir überhaupt nicht. Ich kann Schiffe nicht leiden, nicht einmal die schönsten. Die überlangen Flure und Treppen, überall ein eigenartiger Geruch (Lack? Schmiere?), die Enge der Kabinen – auch der ärmste Schlucker wohnt auf Erden geräumiger –, das sanfte Schaukeln, auch wenn der Kreuzer stillsteht – mir wird schon aus bloßer Angst, seekrank zu werden, leicht übel. Nervosität, das normale Reisefieber. Wo sind die Kisten? Wo steht welcher Koffer? Hektisches Suchen, um die »beste« Liege auszuwählen, obwohl alle gleich sind, den besten Tisch im Speisesaal, obwohl alle gleich bequem sind. Die Stimmung in der Menge ist beinahe festlich, triumphierend, fur manchen ist es die Erfüllung eines Traums, das ganze Leben wird auf den Kopf gestellt. Die meisten aber sind Geschäftsreisende, so eine Überfahrt ist für sie ganz alltäglich. Nur eine Frau sehe ich weinen.
Gegen Abend legen wir ab. Bis zum Einbruch völliger Dunkelheit fahren wir die Kette der Alpes Maritimes entlang, sanfte Hügel in oliv, zartlila oder, die entferntesten unter ihnen, blau vor dem weichen, zitronengelben Himmel.
Das erste Mittagessen. Zahllose Gerichte, das Menu auf einer enormen Karte aus Glanzpapier, die Bedienung eifrig. Ein einziger Luxus. Ich sitze bei einem schon alten Paar: Sie sind argentinische Staatsbürger, Juden aus Żółkiew, und sprechen noch polnisch. Die Frau freut sich, einem Landsmann zu begegnen. Sie sind auf der Rückfahrt, hinter ihnen liegt die erste große Urlaubsreise nach vierundzwanzig Jahren schwerster Arbeit in Buenos Aires. Sie erzählen mir von Italien, der Schweiz, Frankreich, wie sich dort die Preise unterscheiden, sie erfreuen sich an jeder Kleinigkeit,ohne auch nur einen Schatten von Groll oder Prahlerei. Ich bin froh, daß ich diesen ersten Abend unter Fremden mit ihnen verbringen kann. Die Menge auf dem Schiff ist laut und aufgeregt, in den vollen Salons bilden sich Grüppchen, man hört Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Englisch. Nur einmal höre ich einige Worte Französisch. Diese Masse empfinde ich vom ersten Moment an als abstoßend und unerträglich fremd. Es überwiegen Herren fortgeschrittenen Alters und mal vertrocknete, mal etwas zu dicke Damen mit üppig verkleidetem Rumpf und extravaganten Ringen und Behangen an ihren Quadratgesichtern.
9. Mai – Ich teile mir die Kabine mit einem Italiener. Er ist gleichmäßig gebräunt, noch recht ansehnlich und hat, obgleich nicht mehr jung und trotz seiner wie eine Billardkugel blitzenden Glatze, eine sportliche Figur; er erweist sich als typischer homme moderne, der sich schon eingerichtet hat (nichts geht übers Tempo). Er bittet mich darum, zwischen sieben und acht Uhr die Kabine zu meiden. Voller Begeisterung, das ich ihn verstanden habe, bietet er mir in gebrochenem Französisch klitzekleine italienische Shampootübchen an – vielleicht ist er Handelsvertreter des Herstellers, oder er will mich bestechen, mich für meine vorausgesetzte Diskretion einfach mit einem Produkt belohnen, das ihm bei seiner Kahlköpfigkeit ohnehin nichts nutzt. Dazu verkündet er noch, er sei Vorsitzender eines höchst erlesenen Clubs an einem Strand in Argentinien, und bietet mir an, eine Ausstellung für mich einzufädeln. Ich erfahre, das er in Stalingrad war, als Soldat während des Krieges, aber er läßt sich in keine Unterhaltung über diese Zeit verwickeln, schneidet den Gesprächsfaden augenblicklich ab, die traurigen Erinnerungen hat er aus dem Gedächtnis getilgt und ist jetzt voller Lebensfreude. Sogar Falten hat er nur wenige. (»Ausgezeichnet sehen Sie aus«, sagte einmal jemand zur keineswegs mehr jungen, aber immer noch bezaubernden Fürstin T., die seit je in Florenz lebte. »Das liegt daran, daß ich mein Lebtag keine Sorgen hatte!«, antwortete sie mit spontaner Ehrlichkeit. Diese Fürstin hatte auf dem Florentiner Friedhof sechs ihrer Kinder begraben.) Das Schiff machte einige Stunden halt in Barcelona. Drei Stunden in einer heißen und staubigen Stadt. Quietschende Straßenbahnen, eine Menschenmenge, die auf den ersten Blick der von Marseille so ähnlich sieht  
In Barcelona. Ich betrete eine Kirche im massigen Herrera-Stil. An den Altären – es ist ein Werktag – drangen sich die Betenden. Auf den Wanden einige Fresken im schrecklich heuchlerischen Stil der Moderne. An einem der Seitenaltäre steht eine Madonna aus dem achtzehnten Jahrhundert, vor Gold triefend, mit einer gewaltigen goldenen Krone und einem aufgemalten, kleinen, beinahe erschrockenen Gesichtchen. In ihren Armen halt sie Jesus, auch er mit einer goldenen Krone und in goldenen Gewändern, er trägt ein gemeißeltes Kreuz, so wuchtig wie eine Keule. Blumen stapeln sich auf dem Altar und dem Boden. Der Charakter der betenden Menge ist ein ganz anderer als in französischen Kirchen, die Menschen hier scheinen sich geradezu heimisch zu fühlen, es herrscht eine ehrliche Atmosphäre lebendigen, täglichen Gebets. Ein Linienbus fährt mich bergauf, dorthin, wo sich ein großes Museum für katalonische Kunst befindet. Im Bus läßt sich noch eine ältere Amerikanerin durchschütteln.
Sie ist mit dem Flugzeug gekommen, mit dem Flugzeug fliegt sie wieder zurück. Ob sie es rechtzeitig zum Flughafen schafft? Auf das Museum will sie nicht verzichten und riskiert es. Ich denke an den Pfaffen von Ludwig XIII.: Was diese Frau nur in solcher Zerfahrenheit wirklich sehen wird? Ich besuche das Museum eigentlich genauso hastig, dabei muß ich mich noch überwinden, denn der Zauber des Neuen wirkt auf mich nicht mehr. Wozu in Barcelona ins Museum gehen, wenn ich mich noch nicht einmal im Louvre richtig auskenne? (…)

Aus dem Polnischen von Ron Mieczkowski


SINN UND FORM 4/2023, S. 437-450, hier S. 438-440