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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-71-3

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Leseprobe aus Heft 3/2023

Tawada, Yoko

Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang


1
Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. Die Vernunft hat ein solches Gebäude schon längst als eine bösartige Zelle der Geschichte diagnostiziert. Lassen wir es weiter stehen, vermehren sich möglicherweise unbemerkt seine Zellen. Sie können aber nicht herausgeschnitten werden, ohne daß es blutet. Sie sind nicht von außen gekommen wie Viren oder Bakterien, sondern aus den Gehirnzellen der Menschen gewachsen. Moos, Schimmel, Unkraut und Rost versuchen, uns zu überzeugen, daß selbst der Beton in die Natur zurückkehren und damit seine Unschuld bezeugen kann. Ist aber eine Blume unschuldig? Ich halte an und denke an die zwei Zeilen aus »Schneepart« von Paul Celan: »Ich höre, die Axt hat geblüht / Ich höre, der Ort ist nicht nennbar«.

Nicht jedes Gebäude kann abgerissen werden, weil der Abriß keinen Profit bringt. Es sei denn, die Demolierung macht den Platz frei für ein neues, profitables Projekt, zum Beispiel ein Bürohaus. Oder der Bau wird von seinem ursprünglichen Zweck gereinigt und zum Mahnmal umfunktioniert.

2
Mich hat schon immer die Präposition »unter« im Ausdruck »unter Denkmalschutz stehen« stutzig gemacht. Warum »unter«? Hat der Denkmalschutz die Form eines Regenschirms? Wovor schützt uns der Schirm? Vor dem kontaminierten, schwarzen Regen oder vor dem industriellen, sauren Regen? Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genau so, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? Das kommt, weil die Fotos nicht echt sind. Sie sind Fake, wissen Sie, die Leute, die uns politisch manipulieren wollen, haben den Mythos und Fakefotos verbreitet. Allerdings nicht sehr geschickt, denn jeder von ihnen hat seine eigene Phantasiewolke genommen. Es gibt viele wissenschaftliche Belege und Webseiten, die diese Lüge aufdecken. Sie müssen einfach die Suchbegriffe ›Atombombe‹ und ›Lüge‹ im Internet eingeben.« Damals dachte ich, der Taxifahrer würde seinen Mund halten, wenn eine Explosionswolke aus Beton bestehen würde. Manche Katastrophen haben keine bleibende Form. Die Radioaktivität war noch unsichtbarer als die Atomwolke. Sie war von Anfang an gar nicht zu sehen. Wäre sie sichtbar gewesen, wären nicht so viele Menschen kurz nach dem Abwurf der Bombe in die schwer kontaminierte Stadt gereist. Außerdem wäre die überdimensionale Gefahr der Atomkraft nicht
so schnell vergessen worden.

3
Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Das englische Wort concrete ist vielleicht mit dem Wort konkret verwandt. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.

Übrigens habe ich damals nach der Höllenfahrt mit dem Taxi die empfohlenen Suchbegriffe »Atombombe« und »Lüge« im Internet eingegeben. Sofort erschienen einige entsprechende Beiträge, die aber drei Monate später wieder verschwunden waren. Die Informationen im Internet sind nicht aus Beton gemacht. Sie wachsen aus dem Nichts, beeinflussen das Klima und verschwinden wieder. Nach einem Regen sprießen sie wieder aus dem Boden wie Pilze im Herbst.

4
Ich muß keinen schweren Gegenstand auf dem Rücken tragen, um sein Gewicht spüren zu können. Ich fühle es ohne Berührung, wenn ich gebeugt unter dem Schirm des sogenannten Schwerbelastungskörpers gehe. An meinem Schreibtisch zu Hause bin ich in Gedanken schon zigmal unter diesem Pilzschirm gelaufen und spürte jedes Mal eine bedrückende Schwere. Dabei kamen mir die Erdbebenopfer aus den Nachrichten, die unter Trümmern lagen, in den Sinn. Es gab nicht genug Bagger und Kräne, um sie zu retten, oder die Gerätschaften standen hinter der Grenze, die sie nicht überschreiten durften.

In Berlin bebt die Erde nie so stark, daß dieses Bauwerk stürzen würde. Große Beben in der Vergangenheit waren hier immer von Menschen verursacht. Eines der Beben war die Planung einer Stadt und nicht ihre Zerstörung. »Germania Tod in Berlin«: Der Titel eines Theaterstücks von Heiner Müller fiel mir ein. Weder ein Punkt noch ein Komma trennt »Germania« vom »Tod«. Ein schonungsloser Spaziergang durch die Geschichte. Wenn wir gezwungen werden, etwas Lächerliches als Heiliges zu behandeln, können wir mit groteskem Humor darauf antworten.

Der belastende Körper ist ein erdbebensicherer Bau. Das Gewicht des Zylinders wird durch eine massive Säule gerade nach unten geleitet. Der Durchmesser des Zylinders ist 21 Meter. Er steht vierzehn Meter hoch über der Säule, deren Durchmesser acht Meter kürzer ist als der des Zylinders. Die Säule wächst aber achtzehn Meter tief in die Erde, das ist beachtlich. Selbst der Fernsehturm hat nur eine Fundamenttiefe zwischen 2,70 und 5,80 Meter.

5
Manchmal steckt der Sinn eines Denkmals nicht im Objekt selbst, sondern in der Körperhaltung, zu der es uns zwingt. Zum Beispiel sind die Stolpersteine nicht nur zum Anschauen da, sondern zum Stolpern. Sei es auf dem Weg zu einem Termin, zur Arbeit oder bei einem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang, ich soll riskieren, von mir aus zu stolpern und anzuhalten.

Zu welcher körperlichen Haltung zwang mich der Schwerbelastungskörper? Mich bücken, ducken, den Kopf einziehen: So würde ich mich verhalten, wenn der Krieg in den Alltag einbräche. So eine Körperhaltung nehme ich schon jetzt jedesmal ein, wenn ich Fotos von Kriegsgebieten sehe.
[…]

SINN UND FORM 3/2023, S. 339-347, hier S. 339-341