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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-55-3

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Leseprobe aus Heft 5/2020

Nowka, Michael B.

Zweige verwandelt in Hände.
Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers
(1983-1990)


Beschreibung eines geheimen Berufs

Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, Faulbaum, jungen Kiefern, Birken, Eichen und Robinien. Brombeerhecken und Wipfelbrüche umging ich. Herabgefallene, ins Gras eingewachsene Äste und alte, ebenfalls überwachsene Fuchsbaue waren Knochenbrecher.

Mitte April bis Anfang Mai waren die schwersten, aber auch schönsten Wochen im durchwachsenen Kiefernhochwald. Ich schnitt die tiefen, senkrechten Tropfrinnen ins noch wintertrockene Holz. Die zwei Zentimeter starke U-Klinge, am unteren Stielende eines Hammers befestigt, mußte ich oben ansetzen und einen knappen halben Meter unter starkem Druck nach unten ziehen, damit fürs ganze Jahr ein ausreichend tiefer Ablaufkanal entstand. Am unteren Ende der Tropfrinne schlug ich den Topfhalter an. Fünftausend Tropfrinnen in vierzehn Tagen. Im ersten Frühjahr schmerzte mir nach einer Woche der Brustkorb. Husten war kaum möglich. Jeder weitere Schnitt, jede neue Tropfrinne löste rasende Schmerzen aus. Als würde sie sich auch in mich eingraben. Lungenentzündung? Niemand da, mit dem ich darüber sprechen konnte. Wir etwa fünfzehn Harzer des Forstbetriebs waren um die Stadt Brandenburg verstreut. Der Harzmeister kam alle vierzehn Tage vorbei. Er brachte Werkzeug, Arbeitsschutzhandschuhe und das Mückengift »Mückin«. Zum Glück ging ich nicht zum Arzt. Die Blamage! War nur Muskelkater, den alle Neulinge durchstehen mußten.

Wenn jedoch die Kohlmeisenhähnchen, auch Schlossermeisen genannt, ihr ständig gleiches Lied wie auf silbernen Ambossen weithin pinkerten, dann ahnte ich, warum ich in den Wald gegangen war.

Als ob ich unter hohen Kiefernkronen durch eine riesige Halle, einen seltsamen Dom lief, in dem fröhlich gearbeitet wurde. Das Klingeln der silbernen Ambosse anderer, weiter entfernt singender Schlossermeisen klang wie ein Echo auf den »Vorarbeiter«, der ganz in meiner Nähe sein »Hämmerchen« schwang. Erste Buchfinkenmännchen prügelten sich im Waldgras.

Der gelbe unsichtbare Vogel Bülow, der Pirol, in den Baumwipfeln, in der Ferne der Kuckuck und im weiß blühenden Schlehengebüsch die Nachtigall beendeten diese schönste Zeit des Jahres im Wald. Die Nachtigall und andere Bodenbrüter brachten die Mücken mit, oder war es umgekehrt? Myriaden von Mücken – von denen leben diese begnadeten Sänger. Deshalb sind sie da. Sie leben von den Mücken, die von uns leben. Die Mücken schienen am fremden Geruch von Mückin interessiert, aber auch verwirrt. Sie waren die besten Antreiber. Solange ich mich bewegte, stachen sie nicht, mit oder ohne Mückin. Wenn ich eine Pause einlegen, die Hobelklinge reinigen und schärfen mußte und mir Notizen zu Gedichten und für das Tagebuch machte, suchte ich mir stets einen Sonnenflecken. Mücken mögen keine Sonne. Hatte ich schnell herausgefunden. Aber an schwülen Tagen, unter bedecktem Himmel, waren die Mücken besonders aggressiv. Flogen einem zu zehnt auf einmal ins Gesicht und auf andere unbedeckte Hautstellen. Summten nicht lange, sondern stachen sofort zu. Ausgerechnet an solch einem Tag hatte ich das Mückin vergessen! Ich brüllte und schlug mir mit den steifen ledernen Handschuhen ins Gesicht. Immer wieder. Mit dem Rad zehn Kilometer nach Hause und wieder zurück fahren? Dann war der halbe Tag vorbei. Das Harz lief an solchen Tagen am besten.

Im Hochsommer lösten andere Blutsauger, die kleinen flinken Bremsen, das ersterbende Mückenvolk ab. Im Verein mit Blind- und Rinderbremsen. Und alle sind von unerforschten Parasiten befallen, die sich gern im menschlichen Körper austoben. Man weiß und ignoriert es. Ich vertraute meinen Freßzellen im Blut und blieb im Wald.

Die sich wie Stubenfliegen gebenden Wadenstecher und kleine, überall hinkriechende Gnitzen machten den Bremsen bald Konkurrenz. Im Herbst die Hirschlausfliegen. Werfen nach der Landung die Flügel ab. Jucken im Bart und Nackenhaar, sind aber nicht zu fassen. Wie aus flachem Leder mit Widerhaken gemacht, ich kratzte über sie hinweg. Erst abends in der Wanne schwammen sie mit dem Seifenwasser davon.

Wie die Mücken begannen sich auch die Baumschädlinge zu regen. Die Bäume mußten nun ihre etwa achtzig Harzkanälchen pro Quadratmeter Splintholz unter der Rinde und Bastschicht gefüllt halten. Auch gegen mich, den Harzer. Ich war der größte Waldschädling.

Zecken und Milben hatte ich fast das ganze Jahr als treue Gefährten bei mir. Was war schlimmer, die stehende, fast unerträgliche, dehydrierende Hitze im Hochsommer unter den knisternden, Terpentin verströmenden Wipfeln des Kiefernhochwalds oder der beißende Frost in kalten Wintern? Je nach Höhe der Harzlachte stand oder kniete ich im Winter beim Glätten der Rinde vorm Baum. Feuer machen und es unterhalten war Romantik. Keine Zeit. Leistungslohn. Der Rücken schwitzte. Trotz dicker Schafwollsocken und Einlagen in den Filzstiefeln kroch der Frost in die unbewegten Zehen. Auf, auf, einen Hundertmeterlauf über den Waldweg. Aber nicht zu schnell, weil die Lunge sonst schmerzte. In den kurzen Eßpausen tunkte ich die hartgefrorenen Klappstullen in den Becher mit heißem Tee aus der Thermospulle. In solch einem Winter las ich abends in der Zeitung die Zehnzeilennotiz von einem erfrorenen Waldarbeiter in Polen. Kann nur ein Harzer gewesen sein, schoß es mir durch den Kopf. Als man ihn endlich suchte, war er wohl schon steif. Natürlich hatte ich für alle Fälle Streichhölzer, eine Axt und Kohleanzünder dabei, damit das Entfachen schneller ging.

Von all dem wußte ich nichts, als ich im Wald zu arbeiten begann. Waren es die glitzernden Harztropfen in der Frühlingssonne? Der klagende Ruf des vom Schnabel bis zur Schwanzspitze einen halben Meter langen Schwarzspechts? Ich wollte, ich mußte das machen. Wald. Im Wald arbeiten. Waldarbeiter. Das wollte ich sein!

Wir mußten als einzige Forstarbeiter allein im Wald zurechtkommen. Die Anteile, die der einzelne für eine Gruppe erbrachte, waren in einer mit jungem Unterwuchs bestandenen Harzung schlecht überprüfbar und kaum abzurechnen. Es hatte zu oft Streit gegeben.

Fünfzig Pfennig bekam ich pro Kilogramm Harz. Um in der Saison etwa tausend Mark im Monat zu verdienen, damit es zur Überbrückung des geringeren Lohns im Winter reichte, mußte ich jeden Tag tausend hundertjährige Kiefern anreißen. Das waren fünftausend Kiefern pro Woche. Im Sekundentakt rechts und links der Tropfrinne zwei halbzentimetertiefe und unterarmlange Schnitte. Direkt ins helle, lebende Splintholz. Dort durchtrennte ich die Harzkanälchen. Das zähe, noch glasklare Harz tropfte dann einige Stunden über den Riß und die Tropfrinne in den Auffangtopf, bis der Baum die Wunde durch Kristallisieren des Harzes schloß.

Dann den nächsten Baum im Unterwuchs finden, anreißen, Reizmittel aufsprühen, Regenwasser aus den Töpfen kippen, das Tropfblech säubern, damit nichts danebenfließt, volle Töpfe gegen leere wechseln und so weiter und so weiter. Wenn die Klinge an einem eingewachsenen Aststumpf brach, war man erst mal entsetzt. Dann so richtig durchfluchen. Eine neue Klinge einschrauben, schleifen, feilen – manchmal schnitt sie erst nach einer Woche oder vierzehn Tagen wieder richtig. Vielleicht gar nicht. Als es in den letzten DDR-Jahren keinen Schwedenstahl mehr für die staatliche Forstwirtschaft gab, schnitten die noch mal so dicken Klingen schlechter. Wir machten trotzdem weiter.

Bezahlt bekam ich nur das abgelieferte Harz. Wegegeld, Erschwernis- und Reparaturzuschläge, Regenstunden? Pfennigbeträge. Augenwischerei. Bei Regen konnte man nicht harzen. Wasser spülte das frische, leichte Harz aus dem Sammeltopf. Pech, wenn es unmittelbar nach getaner Arbeit regnete. Der Tag war verloren. Die zwei, drei Regenstunden monatlich mit einem niedrigen Lohnsatz ersetzten den Verlust nicht mal annähernd.

Der Kiefernhochwald steht im Havelländischen Flußauengebiet zumeist auf einer sogenannten Dunke. Ein großer, kaum merklich ansteigender Sandhügel, der von tiefergelegenen Erlenbrüchen und Weidenmooren umgeben ist. Das Fenn. Meine Kiefernharzung, in der ich am längsten von 1983 bis 1990 gearbeitet hatte, wurde ebenfalls durch solch ein Fenn begrenzt. Die Pelze. Ein sprechender Name.

Als ich das Abenteuer Harzung begann, stolperte ich aus der halbdunklen Fabrikhalle in den lichtdurchfluteten Wald. Mein nun täglicher Kampf ums Überleben in der Einsamkeit fiel mir leichter als vielen anderen, die den Job bald wieder aufgaben. Vielleicht, weil ich mich daran erinnerte, daß der Mensch wohl viele Tausende von Jahren im Hochwald und den angrenzenden Sümpfen zu Hause war? Alles wiederholt sich, wenn auch auf einer anderen Ebene. Ich fuhr ja nach Feierabend mit dem Rad in unsere ferngeheizte »Platte«, ins »Steintälchen « zurück. Drei fünfstöckige Mehrfamilienhäuser aus Beton, in der Vorstadt an einem Havelsee.

Am Tage wurde ich schnell wieder zum Jäger und Sammler. Das Harz, durch die ständige Bewegung zu Teer in die Haut eingekneteter Balsam, ließ sich abends nicht einfach mit Wasser und Seife entfernen. Diese Kruste mußte mit Margarine eingerieben und dann mühsam abgepolkt werden. Vielleicht hatte Siegfried in Wahrheit auch so in frischem Kiefernbalsam gebadet?

Im Winter mußte ich die fünftausend Bäume auf die Sommersaison vorbereiten. Mit der Axt und einem Bügelschaber glättete ich die schrundige, am Stammfuß bis zu dreißig Zentimeter dicke Borke. Erst dann konnte ich im Sommer mit der einen Zentimeter langen, U-förmigen Klinge des Harzhobels die Splintschicht des Kiefernstamms erreichen. Um das zu schaffen, durfte die Borke auf der Arbeitslachte nur zwei bis drei Millimeter dick sein. Haute ich wie in den ersten Wintern den Bügelschaber stellenweise bis zur empfindlichen Bastschicht über dem Splintholz durch, bildeten sich im Frühjahr scheußlich schmierige Harzgallen. Die Hobelklinge rutschte aus. Das Harz lief aus jener Rutschbahn auf den Stamm und verhärtete ihn noch zusätzlich. Es war zum Heulen. Der Zeitpunkt, an dem die meisten Neulinge den Wald wieder verließen.

Ließ ich aber zur Sicherheit im Winter zuviel Rinde stehen, rutschte die Klinge auf der brüchigen Borke auch weg oder erreichte das Splintholz nur mit der Spitze. Es bildete sich zwar eine U-förmige Ablaufrinne, das Harz versickerte aber in der Borke und verhärtete später die restlichen Arbeitsflächen. Das provozierte ebenfalls häßliche Harzgallen und fast glashartes Holz.

Das Glätten der Borke, Röten genannt, war eine schwere, schlecht bezahlte und doch filigran auszuführende Arbeit. Die Fluktuation in der Harzung war hoch. Dreißig Prozent Abgang etwa, jährlich. Nach drei Jahren gehörte ich schon zu  den »alten Hasen«.

Mitte April 1990 waren wir Harzer rund um die Stadt Brandenburg noch guter Dinge. Auf meiner ersten Harzung wuchsen schon wieder kleine, hüfthohe Kiefern. Die Füchsin hatte ihren Bau wieder bezogen. Der Ameisenhaufen mit den winzigen Harzbröckchen zwischen den Kiefernnadeln war wieder aufgebaut. Die Kiefer mit dem Seeadlerhorst war stehengeblieben. Sie brüteten noch. Ich sah nur den Schwanz der Majestät über den Nestrand ragen, während der scheue Partner hoch über uns kreiste, den Bodenfeind anzeigend.

»Kennt ihr mich denn nicht mehr?«

Ende Mai 1990, nach vier Rissen, also vier Wochen, kam der Harzmeister zu meiner Pelzeharzung raus. Er sagte mir mit ernster Miene, was er den anderen auch schon gesagt hatte – die Harzung wurde wegen der anstehenden Währungsunion eingestellt: »Eine Tonne Kolophonium und andere Harzspaltprodukte aus  Sibirien, dem Balkan, den Subtropen und Tropen importiert kostet 250,– DM. Die Union haben wir ab dem ersten Juli. Die Produktion von Harz bei uns kostet pro Tonne 1000,– DM. Haben wir ausgerechnet.«

Mir wurden die Knie weich. Ich setzte mich an den Fuß jenes Stammes, an dem ich meinen letzten Riß tat. Als letztes sollten wir die Harztöpfe ausleeren und mitsamt den eisernen Topfhaltern aus dem Wald schaffen. Wir würden beim jeweiligen Förster für Wegebau, Holzeinschlag und Kulturpflege eingesetzt. Motorsägen, Arbeitsschutzkleidung und anderes Werkzeug sollten wir selbst kaufen und pflegen. Wie angeblich in der Bundesrepublik so üblich. Ich ging auf die fünfzig zu und es wurde von Entlassungen gemunkelt. Der Harvestar, eine schwedische Baumfällmaschine, würde kommen.

Ganz ungelegen kam mir die Wende im Wald nicht. In den vergangenen beiden Jahren hatten sich die Hexenschüsse vermehrt. Irgendwann müßte ich sowieso raus. In der Zeitung entdeckte ich ein Nachtwächterangebot. Endlich Zeit zum Schreiben. Tagebuchfragmente auf der »Erika« abtippen und vervollständigen.

Nach einem Jahr war der Großhandelsbetrieb abgewickelt. Dubiose Wachschützer mit Waffenscheinen und Schäferhunden bissen uns vier Nachtwächter, im normalen Schichtbetrieb arbeitend, im wahrsten Sinn des Wortes raus. Wilder Osten.

Etwas von meinen Tagebüchern aus jenem seltsamen, kaum bekannten Beruf habe ich in jenen Nächten im Pförtnerhäuschen immerhin fertigbekommen. Im sogenannten Schreibtischfach schliefen meine direkt im Wald, im Rhythmus der Arbeit und im Laufen entstandenen Gedichte bis heute. Wie auch meine Tagebuchaufzeichnungen. Die Notizen dazu machte ich mir mit einem Bleistiftstummel auf Zetteln aus meiner Jackentasche. Im Wald geschah eigentlich immer irgend etwas Aufschreibenswertes. Ich war dort auch nie wirklich allein. Wie an diesem für mich merkwürdigen Tag, ein halbes Jahr vor der politischen Wende Ostdeutschlands, die auch die Welt veränderte. Und den Wald.

Da ich alles noch so erinnerte, als würde ich es jetzt erleben, habe ich es auch so auf- und fertiggeschrieben.
(…)

SINN UND FORM 5/2020, S. 597-613, hier S. 597-602