Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-47-8

Printausgabe bestellen

[€ 8,00]

PDF-Ausgabe kaufenPDF-Download für Abonnenten

Sie haben noch kein digitales Abo abgeschlossen?
Mit einem digitalen Abo erhalten Sie Zugriff auf das PDF-Download-Archiv aller Ausgaben von 2019 bis heute.
Digital-Abo • 45 €/Jahr
Mit einem gültigen Print-Abo:
Digital-Zusatzabo • 10 €/Jahr

Leseprobe aus Heft 3/2019

Lethen, Helmut

Unter dem Pflaster die Kanalisation.
War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?


Unter dem Pflaster ist die Kanalisation – mit diesem Titel visiere ich kein verborgenes Terrain an, kein unterirdisches System, durch das die Abfälle des oberirdischen Systems der sozialen oder moralischen Hygiene zuliebe abgeführt wurden. Im 20. Jahrhundert lag die finstere Kanalisation aufgedeckt vor uns, was auch eine Leistung der Avantgarden war. Dort befand sich keine geheime Tiefenstruktur mit Plantagen verbotener Drogen und versteckten Waffenlagern. Nein, das 20. Jahrhundert hatte den Vorteil, daß es im Scheinwerferlicht technisch hochmoderner Apparate den moralischen Untergrund und die Schauplätze des Gemetzels ausleuchtete, die auf niedrigerem technischen Niveau auch im 17. Jahrhundert, aus dem die Avantgarden viele Inspirationen empfangen hatten, schon ins Licht gerückt worden waren.

I. Neolithische Kindheit

Im heißen Sommer 2018 konnte man im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die fabelhafte Ausstellung »Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930« besichtigen. Der Katalog beginnt mit einer Kritik der Avantgarde forschung. Sie habe nach dem Zweiten Weltkrieg die »radikalsten Elemente der Avantgarde« neutralisieren müssen, um sie »für den neuen westlich bürgerlichen Kanon reklamieren zu können«. Man denkt oft, die Demokratie sei ein »Allesfresser« (Heiner Müller). Das ist nur insofern wahr, als sie Brisantes in der Regel ausscheidet.

»Neutralisiert« wurden in der Nachkriegsrezeption krasse Merkmale der Avantgarden wie ihre Abwertung des Humanen, ihre Feier des teuflischen Chaos, ihr Einsatz der Sprache als Desinfektionsmittel der Moral, ihr faschismusaffiner Biologismus und ihre Verachtung demokratischer Tugenden, wie der Balance oder des Austauschs, das heißt ihre Liebe zum Absturz in Zonen, in denen Gefahr die Berührung mit dem Realen garantieren sollte. Orte archaischer »Naturvölker «, Stierkampfarenen, Schlachthöfe, Schauplätze der Revolution, Boxringe, Schützengräben oder Bordelle und Psychiatrien – waren solche mit Vorliebe aufgesuchte oder imaginierte Zonen. Wahrscheinlich hätte man sich darauf einigen können, daß, wie Heiner Müller einmal bemerkte, hinter den Kulissen der Demokratie eine stabile Sphäre »des Bösen, also eine gewisse Menge an Bestialität, eine gewisse Menge von Gewalt« versteckt sei, die der Avantgardist aufspüren müsse, um ihren ästhetischen Reiz mit Erkenntnisgewinn oder Vergiftungswillen auszustellen.

Die historischen Avantgarden zerlegten jedenfalls die Grundfesten einer aus ihrer Sicht schwachen, das heißt humanistisch gefärbten Anthropologie, die die Natur des Menschen als demokratiekompatibel begreifen wollte. Der einzelne als Individuum und moralische Größe wurde von ihnen demontiert. 1931 schrieb Carl Einstein, der den Begriff der »Neolithischen Kindheit« geprägt hat: »Der Mensch war nicht mehr ein stabiler Typus sondern ein Bündel schwer überschaubarer Vorgänge, die man allzulange verheimlicht hatte, um das Ebenbild Gottes intakt zu halten.« Diese Kränkung hatten im 19. Jahrhundert schon der Darwinismus, der Marxismus und die Psychoanalyse dem humanistischen Menschenbild zugefügt. Jetzt wendet man die aus dieser Verletzung resultierende Wut gegen den »Liberalismus«, ein diffuses, aber allgegenwärtiges Feindbild der Avantgarden. Dieser habe, so Einstein, die »Fähigkeit zum Notwendigen« eingebüßt. Es gelte nun, aus dem »trüb wogenden Schlamm« einem »neuen gewaltsamen Geschick« zum Durchbruch zu verhelfen. Ernst Bloch ergänzt 1935: Der Relativismus der Liberalen habe eine »allgemeine Müdigkeit« erzeugt, so daß jetzt die antihumanen archaischen Bestände wie »Magma der Vorzeit« durch die dünne Eisdecke der Zivilisation brechen können.

Die Bannflüche gegen den Liberalismus klingen verdächtig nach Parolen der Konservativen Revolution. Bekanntlich waren die Avantgardisten in Frankreich und Italien enger mit den faschistischen Bewegungen verbunden als in Deutschland, George Sorels revolutionärer Mythos hat aber auch viele Intellektuelle in Deutschland angesteckt. Waren die Avantgardisten durch ihren biologistischen Bildraum grundsätzlich anschlußfähig an faschistische Strömungen? Eigentlich nicht, meint der Kurator der Berliner Ausstellung, Tom Holert, obwohl »die Ideologien des Imperialismus und Faschismus in doktrinärer Unverfrorenheit mit biologistischen Theoremen und Sprachbildern ausgestattet waren«. Hätte man den Vitalismus besser in dem geschützten Raum der Kunstautonomie des Surrealismus eingehegt, statt ihn in den politischen Raum auszuwildern? Oder anders gefragt: War die historische Avantgarde so etwas wie die ästhetische Auswilderung lebensgefährlicher Strömungen? Wurde in ihr die menschliche Scham im Ofen des Bösen verbrannt?

Jedenfalls hatten die Kuratoren der Berliner Ausstellung große Mühe mit Werken, die keine »kritische Figuration« der Gegenwart leisten, sondern sich in einen »faschistischen Kosmos« eingliedern lassen, in dem »das Volk in einem monumentalen und nach allen Seiten hin phobischen Volkskörper verschmilzt«. Carl Einstein ist frei von diesem Verdacht. Immerhin war er Sozialist und Spanien kämpfer, auf der Flucht vor den Nazis beging er 1940 Selbstmord; das macht es schwer, die finsteren Dimensionen seines Denkens um 1930 wahrzunehmen. Die Kuratoren neutralisieren radikale Elemente der Avantgarde, oder genauer: Sie spalten eine politisch gefährliche Avantgarde von einer Spielavantgarde ab. Damit gerät die Wirklichkeit der Entscheidungen auf die moralisch diskreditierte Seite.

Das weist auf ein Dilemma der Avantgardeforschung hin: Einerseits verbündet sie sich mit den wilden Attacken gegen den Liberalismus, natürlich nur als ästhetisch reizvolles Unternehmen; andererseits benutzt sie dessen Grundwerte zur Abgrenzung gegen politisch tabuisierte Bewegungen.

II. Das Aussetzen der Evolution

Als Marcel Mauss 1938 in einem Vortrag die Entwicklung der Fundamental-Kategorie »Person« von der Maskerade der ausgefüllten Rolle in heiligen Vorzeit-Dramen zur individuellen Figur mit moralischem Wert verfolgte, schloß er nicht aus, daß diese Entwicklung auch rückgängig gemacht werden könnte: »Wir haben große Güter zu verteidigen«, warnt er am Schluß seines Vortrags, »mit uns kann die Idee (des Individuums, HL) verschwinden«. Die Avantgardisten hatten sie bereits weitgehend eliminiert. Eines ihrer Spiele im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Stufenleiter der Herausbildung der »Person « im moralischen Verstande bis in die Zeit der »Masken-Zivilisation« hinabzusteigen, in der sich der Mensch in Ritualen seine Person erstellt.

Das Konzept der Evolution hatte aus der Vorgeschichte eine hinter uns liegende Zeitspanne gemacht, einen Raum in Australien oder Südafrika, wo lebende Fossilien der Steinzeit, die »Wilden«, zu finden waren. Die Avantgardisten liebäugelten mit der Idee, die Stufenfolge der Zivilisation außer Kraft zu setzen, die Barbarei schien ihnen als Endpunkt der Entwicklungsgeschichte nicht unwahrscheinlich. Zumindest erschien ihnen dieser Zustand als ästhetisch reizvoll.

1933 entdeckte der Fotograf Brassai in den Graffiti auf Pariser Fabrikmauern Gesten von Menschen, die einst auf Höhlenwände gemalt hatten. Er glaubte, in ihnen den Sieg der Ethnologie über die Geschichte des Fortschritts zu erkennen, aber auch den Triumph der Fotografie über das normale Sehvermögen. 1933 schrieb er: »Allein durch das Eliminieren des Faktors Zeit führen lebendige Analogien zu schwindelerregenden Annäherungen durch alle Zeitalter hindurch. Im Lichte der Ethnografie (…) wird die Steinzeit zu einem Geisteszustand«. Unter den Automatismen des modernen Lebens habe die Steinzeit »überlebt«. Sie war ein Jungbrunnen, eine »Neolithische Kindheit«, wie Einstein fand.

Es geht Avantgardisten wie Brassai nicht um die Rekonstruktion eines linearen Progresses der Kulturen, sondern um die Eliminierung des Faktors Zeit, wie Maria Stravinaki im Kommentar zur Ausstellung erläutert, um die schwindelerregende Präsenz der Vorzeit. Darum konnten Avantgardisten die dreißiger Jahre mit der Steinzeit identifizieren. Hat man erst einmal den Evolutionismus verabschiedet, zeigen sich Analogien zwischen den vermeintlich »Zivilisierten« und den »Primitiven«. Dunkel, rätselhaft und nur bruchstückhaft erschlossen, bot sich die Vorgeschichte als offener Horizont an, ohne spezifischen Ursprung, mit ungenauen Anfängen, ohne organische Abfolge: »Niemandes Herkunft und niemandes Erzeuger«. Daran wird erkennbar, wie sich die Verdikte der Konservativen Revolution, die im Wortlaut ähnlich klingen wie die oben zitierten Aussprüche der Avantgardisten, von diesen unterscheiden. Vertreter der Konservativen Revolution dringen in den von der Avantgarde hergestellten Hohlraum der Herkunftslosigkeit ein, besetzen ihn mit Mythen des Ursprungs, Genealogien des Blutes, Heldenliedern der Nation und der Gewißheit der Identität eines Volkes. Je genauer man den Anfang eines »Ursprungs« untersucht, desto mehr zerstreut er sich in viele Anfänge, die sich im historisch dunkeln verlieren. Diesen desillusionierenden Blick haben die Konservativ-Revolutionären nie riskiert.
[…]

SINN UND FORM 3/2019, S.382-390, hier S. 382-385