Leseprobe aus Heft 4/2017
Vesper, Guntram
May aus Ernstthal
Vergangene Woche kam ich auf der Suche nach Fundstücken in »mein« Antiquariat in der Gotmarstraße in Göttingen. »Haben Sie etwas Neues?« fragte ich Peter Pretzsch. »Nicht aus Ihrem Spektrum.« (Sollte heißen Malik-Verlag, Georg Heym, Benn und Arno Schmidt, alles Erstausgaben.) Doch dann, nachgeschoben: »Ein bißchen Karl May.« »Radebeuler Ausgaben?« »Ja.«
Die Karl-May-Bücher stehen bei Pretzsch ganz oben im Regal (Erschwerung für Diebe), also stieg ich auf einen Hocker, zog einen der neuen Bände heraus und nahm ihn mit nach unten: »Zepter und Hammer«, Druck in Fraktur, gut erhalten. »Wieviel?«, fragte ich. »Zwölf Euro, steht aber auch drin.«
1. bis 20. Tausend, 1926 erschienen. Wunderbar weißes Papier, die altdeutsche Drucktype leicht durchgeschlagen, man konnte das mit den Fingerkuppen fühlen.
In der Stille einer eisigen Januarnacht geht es los mit der Lektüre: Ein Graf läßt in seinem Wildgehege fahrende Zigeuner kampieren, er hat es auf eine bildschöne Siebzehnjährige aus der Sippe abgesehen. Für die sich aber auch ihr Stiefbruder interessiert, als Findelkind bei der Gruppe aufgewachsen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Rivalen, dem Jungen wird eine Falle gestellt, er wird in ein Verlies des Grafen verschleppt und von einem Unbekannten befreit. Wenn das nicht viel verspricht!
Und schon steht über dem nächsten Kapitel »Am Nil«, man reibt sich die Augen. In der Folge erleben wir über Hunderte von Seiten mit, wie der Geflohene nicht nur auf tausend Umwegen zum Admiral des Sultans aufsteigt, sondern als mächtiger Mann in die deutsche Heimat zurückkehrt und den adligen Feind, der gerade einen Staatsstreich plant, vernichtet.
Neid, Intrige, übermächtige Gegner; das alles beschreibt, darin badet förmlich ein siebenunddreißigjähriger aus dem Dienst gejagter Volksschullehrer, der nach acht Jahren Arbeitshaus und Zuchthaus bei seinen Eltern in der wahrhaft engen Kleinstadt Ernstthal, heute Hohenstein-Ernstthal, untergekommen ist und erst einmal sehen muß, wie es weitergeht. Er schreibt, und schreibend zieht er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf, Seite für Seite, Buch für Buch. Als er sich zwanzig Jahre später endlich freigeschrieben hat, wirklich freigeschrieben, scheinbar freigeschrieben, wer weiß, es gibt den falschen Doktortitel, die hundert Prozesse, die problematische Scheidung, hat er auch Winnetou und Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar und Kara Ben Nemsi erfunden.
Wer diese Gestalten Karl Mays als Junge kennengelernt hat, in der Frohburger Kindheit traten für mich noch der findige Robinson, der tapfere Lettow-Vorbeck, Gorkis unheimliche Mutter und der rätselhafte Pawel Kortschagin dazu, der kommt von ihrem Schöpfer ein Leben lang nicht wirklich los und unterliegt bei jeder neuen Begegnung trotz aller Aufschneiderei und Deutschtümelei dem Zauber seiner schier grenzenlosen Phantasie, sobald er eines der dunkelgrünen Bücher aus Radebeul aufschlägt.
In ganz seltenen Fällen belohnt Karl May alias Kara Ben Nemsi alias Old Shatterhand sogar über die Schilderung seiner Abenteuer hinaus. Auf dem Flohmarkt in Seesen am Harz, bei meinem einzigen Besuch dort, zehn Jahre ist das her, entdeckte ich einen Radebeuler Band ohne Rücken, Vorsatz und Titelblatt, das Deckelbild bis zur Unkenntlichkeit abgewetzt, nur durch schnelles Blättern bis zur Bogenmarkierung alle sechzehn Seiten wies das Relikt sich als »Weihnacht« aus. »Wird weggeschmissen«, sagte der Händler, »nehmen Sie’s mit, wenn Sie wollen.« Abends zu Hause fand ich mitten im Buch, genau dort, wo die Handlung aus dem Erzgebirge von Kontinent zu Kontinent in den Wilden Westen überspringt, fünf alte DM-Scheine, zweihundertfünfundvierzig Mark. Danke, Karl May!
SINN UND FORM 4/2017, S. 550-551