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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-36-2

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Leseprobe aus Heft 4/2017

Tokarczuk, Olga

»Ich gehöre zu den modernen Nomaden«.
Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Literatur als Welterfahrung


BERNHARD HARTMANN: Vor siebenundzwanzig Jahren, am 12. November 1989, fand im niederschlesischen Kreisau die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, bei der es zur berühmt gewordenen Umarmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Ministerpräsidenten der ersten frei gewählten polnischen Regierung, Tadeusz Mazowiecki, kam. Ein wichtiger Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, der zugleich für die Hoffnung und die Euphorie steht, die in der Zeit nach dem Mauerfall aufkamen. Man träumte – zumindest im Westen – vom »Ende der Geschichte« und hoffte, die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu bannen und in eine Zukunft ohne große Konflikte zu gehen. Wie erinnerst du dich an diese Zeit?

OLGA TOKARCZUK: Ich habe 1989 angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben, und hätte mir keinen besseren Zeitpunkt dafür vorstellen können. Es schien, als heitere Europa sich auf, als wüchse es zusammen und schüttele endlich die Alpträume der Geschichte ab. Ich dachte, auch in Polen würde man sich nun dem zuwenden können, was Literatur eigentlich ausmacht. Meine Generation – darunter inzwischen bekannte Autoren wie Andrzej Stasiuk, Paweł Huelle oder Natasza Goerke – entdeckte damals das Private neu für die Literatur. Dieses Gefühl der Befreiung von gesellschaftlichen und politischen Pflichten war für uns unglaublich belebend. Wir konnten uns beispielsweise mit Feminismus und Ökologie befassen, unseren Ort in der Welt und unsere Körperlichkeit erkunden. Jetzt, wo die Zeiten unruhiger werden, geraten diese Themen erneut an den Rand. Ich hätte nie gedacht, daß die Literatur sich keine drei Jahrzehnte später wieder mit Politik befassen muß, die Schriftsteller wieder politisch werden, alles wieder politisch wird, jede Erzählung, jeder Roman, jedes Thema.

HARTMANN: Der politische Wandel in Polen ist symptomatisch für den Stimmungswandel, der in ganz Europa zu beobachten ist. Die Idee der europäischen Einigung überzeugt nur noch wenige, in immer mehr Ländern wächst der Wunsch, sich ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen. Sind wir überfordert damit, europäisch zu denken? War es zu viel Europa in zu kurzer Zeit – zumal für die einstigen Ostblockländer, die ihre hart erkämpfte Souveränität nicht gleich wieder an eine oft als technokratisch empfundene Institution abgeben möchten?

TOKARCZUK: Für mich ist der Beitritt Polens zur EU einer der glücklichsten Momente der polnischen Geschichte. Ich kann mir Polens Zukunft auch nur innerhalb dieser großen Gemeinschaft vorstellen, deren östlichen Rand wir derzeit bilden. Doch momentan weiß niemand, was kommen wird. Auch ich kann und will keine Diagnosen stellen oder Prognosen abgeben, das ist nicht mein Metier, ich bin Schriftstellerin. Aber ich glaube, es sind vor allem zwei Gründe, die diese Verunsicherung und Angst hervorrufen. Das eine ist die Flut von Informationen, die heute jeder einzelne von uns verarbeiten muß. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mensch nicht mehr in der Lage, alles mit seinen Sinnen und seinem Verstand zu verarbeiten. Zugleich haben die großen Wertsysteme und Erzählungen, die früher klare Weltbilder vermittelten, an Bedeutung verloren, und die Medien bringen keine Ordnung ins Chaos, sondern vergrößern es noch. Das andere ist der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus, der einerseits Enklaven des Friedens und Wohlstands schafft, andererseits aber auch Ghettos, in denen die ungeheure Zahl der Ausgeschlossenen lebt. Die Mechanismen dieser Ausgrenzung sind schwer zu durchschauen und zu kontrollieren. Wir begreifen nicht, wie neoliberale Wirtschaft und Politik funktionieren, und das führt zu einer Erosion der Demokratie. Die Folge ist das Aufkommen populistischer Strömungen, das wir derzeit überall in der Welt beobachten.

HARTMANN: Nun arbeitest du in deinen Romanen auch mit dem Mittel der Fragmentarisierung, der Leser muß sich aus unzähligen Mosaikstücken und Mini-Erzählungen selbst ein Gesamtbild schaffen. In deinem letzten Roman, »Ksie˛ gi Jakubowe« (Die Bücher Jakob), spielen Grenzüberschreitungen verschiedenster Art eine Rolle, schon der Untertitel deutet darauf hin: »Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei Religionen, die kleinen nicht mitgezählt «. Am Beispiel der Sekte des Jakob Frank und ihrer Reise durch das Polen und Europa des 18. Jahrhunderts zeigst du, wie individuelle und kulturelle Identitäten sich auflösen und wandeln. Und du entwirfst ein Bild Polens in dieser Zeit, das der – nicht zuletzt durch Autoren wie Henryk Sienkiewicz – verbreiteten Vorstellung von ethnischer und religiöser Homogenität diametral entgegensteht. Du zeigst einen Vielvölkerstaat, in dem neben christlichen auch jüdische und osmanische Einflüsse wirksam sind. Das ist natürlich eine Provokation für alle, die in nationalen oder ethnischen Kategorien denken. Hast du beim Schreiben bewußt versucht, ein Gegenmodell zu vereinheitlichenden, vereinfachenden Darstellungen nationaler Identität zu schaffen?

TOKARCZUK: Als ich »Ksie˛ gi Jakubowe« zu schreiben begann, dachte ich, ich schriebe für eine nicht allzu große Gruppe literarisch versierter und historisch interessierter Leser, und rechnete mit einer Auflage von höchstens zwei- oder dreitausend Exemplaren. Inzwischen wurden 150 000 Exemplare verkauft, das Buch wurde breit diskutiert und es gab zahlreiche Besprechungen. In der Tat revidiert das Buch in gewisser Weise eine verbreitete naive Sicht auf die polnische Geschichte. Kurz gesagt, handelt »Ksie˛ gi Jakubowe« davon, wie die modernen Gesellschaften in Europa entstanden, in diesem Fall in Mitteleuropa, in Polen. Ein zentrales Moment in diesem Entstehungsprozeß war immer die Auseinandersetzung, das Verhandeln mit Fremden, die zur Mehrheitskultur hinzukommen und anders sind. Das führt natürlich unweigerlich zu Spannungen, die daher rühren, daß wir einerseits das Fremde fürchten, es andererseits aber auch eine gewisse Faszination ausübt.

HARTMANN: Ist es Zufall, daß dieses Fremde in »Ksie˛ gi Jakubowe« vor allem durch die jüdischen Sektierer um Jakob Frank verkörpert wird?

TOKARCZUK: Das Verhältnis zu den Juden steht in Europa sinnbildlich für das Verhältnis zum Fremden. Salopp könnte man sagen, die Juden sind die Fremden vom Dienst. Mal passen sie uns in den Kram, denn sie steigern das wirtschaftliche Niveau und ihre Kultur ist in vielerlei Hinsicht nützlich, und mal nicht, dann haßt man sie. In der europäischen Geschichte schwingt das Pendel hin und her. Mein Buch nimmt die Mechanismen des Umgangs mit dem Fremden unter die Lupe, vom Assimilationsdruck bis zu unterschiedlichen Autonomiekonzepten. In ihm sehen wir die Welt vor allem mit den Augen von Außenseitern, die sich einer Mehrheitsgesellschaft anschließen möchten und fragen: Was sind die Bedingungen, was läßt sich gemeinsam aushandeln? Die Ergebnisse solcher Prozesse können unterschiedlich, oft auch tragisch ausfallen, hier endet es damit, daß die Fremden aufgenommen werden, dafür aber alles aufgeben, was ihre Identität ausmacht.

HARTMANN: In der polnischen Rezeption steht dieser Aspekt im Hintergrund. Die Debatte kreist vor allem um die Darstellung der polnischen Wirklichkeit zur Zeit der Handlung.

TOKARCZUK: Weil ich eine Geschichte erzähle, die historisch bedeutsam ist, über die aber lange nicht gesprochen wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Rzeczpospolita, die polnisch-litauische Adelsrepublik, ein mächtiges Königreich, das aber schon erste Zerfallserscheinungen zeigt. Eine Gruppe armer jüdischer Kaufleute um Jakob Frank, deren Auslegung des jüdischen Glaubens sie zu Häretikern macht, möchte sich in die polnische Gesellschaft eingliedern und konvertiert zum Katholizismus, insgesamt etwa 15 000 Menschen. Die katholische Kirche nimmt sie auf, begegnet ihnen aber mit Mißtrauen. Ihr jüdisches Umfeld wendet sich von ihnen ab. Das Buch zeigt, wie die Frankisten in der polnischen Gesellschaft aufgehen – um den Preis der Aufgabe ihres alten Glaubens – und wie sie das im 19. und 20. Jahrhundert einflußreiche polnische Bürgertum mitbegründen und prägen. Bestimmte Glaubenselemente und Denkweisen der Frankisten sind in der polnischen Kultur und Literatur bis heute erkennbar. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle mehr, wer vor zweihundert Jahren einheimisch und wer fremd war.

HARTMANN: Hast du eine Idee, warum vor dir niemand dieses Thema aufgegriffen hat?

TOKARCZUK: Diese Geschichte paßt nicht ins nationale Selbstbild, darum wurde sie vergessen oder verdrängt. Aber nicht nur von den Polen. Die orthodoxen Juden haben sie verdrängt, weil die Frankisten in ihren Augen Abtrünnige und Verräter waren. Und auch die Frankisten selbst und ihre Nachkommen wollten nicht an ihre jüdischen Wurzeln erinnert werden, weil sie auf totale Assimilation setzten.

HARTMANN: Und die Debatten? Wolltest du eine Diskussion anstoßen oder warst du überrascht von manchen Reaktionen?

TOKARCZUK: Als ich das Buch schrieb, war ich politisch völlig unbefangen, ich bin herumgereist, habe in Bibliotheken recherchiert, Quellen studiert, mit Historikern gesprochen. Aber als das Buch vor gut zwei Jahren erschien, kam es in eine ganz andere Zeit. Wir haben inzwischen eine Regierung, die ihre Politik an einem Verständnis der polnischen Geschichte und Identität ausrichtet, in dem die Nation als homogenes Gebilde mit einer langen heroischen Vergangenheit erscheint und alles ausgeblendet wird, was ethnische Minderheiten und überhaupt die Heterogenität unserer Gesellschaft betrifft. Mein Buch dekonstruiert in gewisser Weise jenes nationale Bild. Ich erzähle von dieser Zeit aus Sicht der Provinz und der Peripherie. Weil das Buch aber inhaltlich wenig Angriffsfläche bietet, haben sich die Angriffe aus dem nationalkonservativen Lager großenteils auf meine Person gerichtet.

HARTMANN: Vor zwei Jahren ist in einer Anthologie mit Texten zur Flüchtlingsthematik deine Erzählung »Die Grenze« erschienen. Auch diese vor fast zwanzig Jahren entstandene Erzählung klingt heute merkwürdig aktuell. Weißt du noch, was dich seinerzeit dazu gebracht hat, diesen Text zu schreiben?

TOKARCZUK: Ich erinnere mich, daß ich »Die Grenze« in meinem Haus in Krajanów geschrieben und mich beim Schrei ben ziemlich amüsiert habe. Der Text greift einen im polnischen Denken fest verwurzelten Topos auf, dem zufolge wir die östliche Grenze der europäischen Zivilisation bilden und das christliche Europa gegen Angriffe verteidigen. Ich habe mir eine postapokalyptische Welt vorgestellt, in der alle zivilisatorischen Werte in Vergessenheit geraten sind und die Überlebenden versuchen, aus den Trümmern der Überlieferung eine neue Ordnung zu schaffen, während von jenseits der Grenze immer wieder die Barbaren andrängen und zurückgeschlagen werden müssen. Der Grenzfluß Pruth markierte einst tatsächlich eine Grenze des christlichen Europa, auf der anderen Seite lag das Osmanische Reich, lag der Islam. Damals habe ich die Erzählung als Groteske betrachtet, als literarischen Scherz. Ich hätte nicht gedacht, daß uns das Thema Jahre später unmittelbar betrifft. Als ich gefragt wurde, ob ich bei einem Buchprojekt zugunsten einer polnischen Flüchtlingshilfeorganisation mitmachen würde, wollte ich eigentlich einen neuen Text schreiben. Doch dann fand ich im Computer diese noch unveröffentlichte Erzählung, die plötzlich eine ganz neue Bedeutung gewann.
[…]

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

SINN UND FORM 4/2017, S. 447-457, hier S. 447-451.