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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-33-1

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Leseprobe aus Heft 1/2017

Vogel, Debora

Denk-Räume im literarischen Schaffen von Debora Vogel. Eine Vorbemerkung von Anna Maja Misiak


Es gibt enorm viel Raum in der Welt: unnötigen,
unbeholfenen Raum.
O, die flachen langsamen Räume, langweilig wie
ein großer mit Lauge gescheuerter Bretterfußboden,
wie die runde Landschaft eines Kalendersonntags
mit Menschen, die für etliche Stunden ihr Schicksal
irgendwo verlegt haben. Und die bummeln.

Debora Vogel, Akazien blühen

 

Die 1900 in Bursztyn bei Lemberg geborene Schriftstellerin Debora Vogel gestand ihren Brieffreunden immer wieder ihre Sehnsucht »nach dem Fahren«. Es zog sie »besonders in große Städte, aus jenen Städten heraus, in denen der süße Duft der Kartoffelblumen herrscht«. Sie war in moderne Metropolen verliebt und bestens mit deren Esprit vertraut: In Wien verbrachte sie die Kriegsjahre als Gymnasiastin, in Berlin und Stockholm weilte sie 1926 mehrere Monate; nach Paris machte sie regelmäßig Ausflüge, um in »diese Welt der Farben« einzutauchen und Künstlerfreunde zu treffen; New York erlebte sie persönlich als die »Essenz aller Städte«. Viele ihrer Freunde und Angehörigen lebten in großen Kulturstädten, und so konnte Vogel, ständigem Geldmangel zum Trotz, ihr Fernweh ausleben. Ihre Heimat für eine der genannten Metropolen aufzugeben, kam für sie jedoch nie in Frage. Die für ihr Werk nötige schöpferische Kraft bezog sie aus Lemberg, dieser, so Joseph Roth, kleinen Filiale der großen Welt.

Trotz seiner peripheren Lage war Lemberg in der Zwischenkriegszeit eines der wichtigsten geistigen Zentren Polens. Wissenschaftler um Stefan Banach und Hugo Steinhaus leisteten in Form der Funktionalanalysis einen genialen Beitrag zur Mathematik. Während ihrer stundenlangen Gespräche im Café Szkocka formulierten sie Fragen, von denen einige bis heute unbeantwortet sind. An der Jan-Kazimierz-Universität gründete Kazimierz Twardowski die logisch-philosophische Lemberg-Warschau-Schule. Unter seiner Ägide wirkten u. a. der Semantiker Alfred Tarski, der Literaturwissenschaftler Roman Ingarden und der Logiker Kazimierz Ajdukiewicz. Der herausragende Literaturhistoriker und Philosoph Juliusz Kleiner leitete die Polonistik; aus Krakau kam der Philosoph, Maler, Dichter und Theoretiker neuer Kunstrichtungen (Formismus, Strefismus) Leon Chwistek, um den Lehrstuhl für mathematische Logik zu übernehmen. Debora Vogel, die ihr Studium in Lemberg und Krakau mit einer Dissertation über den Erkenntniswert der Kunst bei Hegel abschloß, besuchte Twardowskis Vorlesungen, nahm an Seminaren von Ajdukiewicz und Kleiner teil und las Chwisteks Schriften zur Wahrnehmung der Realität sowie zu künstlerischen Wirklichkeitskonzepten. Mit dessen intellektuellem Hauptgegner, dem nicht minder vielfältig begabten Stanisław Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy, führte sie Anfang der dreißiger Jahre in Zakopane Streitgespräche über Inhalt und Form in der Kunst.

Lembergs liberale und intellektuelle Kulturwelt der Jahrhundertwende verdankte sich der Autonomie, die Galizien 1867 durch die k.u.k. Monarchie gewährt worden war. Die Vielfalt der dort beheimateten Nationen verursachte zwar Spannungen, erwies sich aber auch als intellektuell befruchtend. Neben Polen, Juden und Ukrainern lebten in Lemberg Armenier, Deutsche und Tataren und pflegten ihre Sprache, Konfession und Kultur. Für Unterhaltung sorgten fünfzehn Kinos. Kunst und Kultur konnte man in der Philharmonie und in der Oper, im polnischen, jüdischen und ukrainischen Theater sowie in etwa zwanzig Museen genießen. Die zahlreichen Bibliotheken, Buchhandlungen und Antiquariate waren ein Paradies für Bücherliebhaber.

Mütterlicherseits stammte Debora Vogel aus einer etablierten Buchdrucker- und Herausgeberfamilie. Zwei Onkel waren wichtige intellektuelle Bezugspersonen: Marcus Ehrenpreis, Schriftsteller, Mitarbeiter von Theodor Herzl und ab 1914 Rabbiner in Stockholm, sowie David Malz, Jurist, Übersetzer und zionistischer Aktivist. Vogels Eltern waren Lehrer und wirkten beide als Schulleiter in Bursztyn; in Lemberg führten sie gemeinsam das jüdische Waisenhaus, in dem Vogel in den dreißiger Jahren neben ihrer Unterrichtstätigkeit im Hebräischen Lehrerseminar als Erzieherin arbeitete.

In ihrer freien Zeit nahm sie aktiv am intellektuellen Leben Lembergs teil, hielt öffentliche Vorträge und war Mitglied mehrerer Vereine. Rachel Korn, Rachel Auerbach, Ber Schnaper, Mendl Neugröschl und sie bildeten die Avantgarde der jungen jiddischen Dichtung in Galizien. Im Frühjahr 1929 organisierten sie einen Kongreß der jiddischen Schriftsteller, und im Herbst wandten sie sich mit Leseabenden und der neuen Kulturzeitschrift »tsushtayer« (Beitrag, Beisteuer) an die Öffentlichkeit. Chone Shmeruk, der nach Kriegsausbruch in Lemberg war und Vogels Vorlesungen über jiddische Literatur besuchte, erinnerte sich an das Selbstbewußtsein, das in diesem Kreis herrschte. Für diese jungen Schriftsteller, so Shmeruk, war Wien eine Filiale von Lemberg, nicht umgekehrt.

Im »tsushtayer« war Vogel für den Kunstteil zuständig. Sie stellte Künstlerfreunde vor, vor allem die Avantgardisten der Künstlergruppe Artes, die in Paris an Fernand Légers Académie moderne studiert und von dort die neuesten Ismen sowie die Neue Sachlichkeit nach Lemberg gebracht hatten. Sie präsentierte Bilder und Kurzbiographien von Emil Kunke, Frederic Taubes, Maksymilian Feuerring, Fryderyk Kleinmann, Aleksander Riemer, Henryk Streng und Otto Hahn. In Bruno Schulz erkannte sie die literarisch-künstlerische Doppelbegabung; seine poetische Prosa zeichnete sich für sie durch groteske Übertreibungen, Entstellungen und Verzerrungen aller Proportionen aus. Ihre guten Beziehungen zu Warschauer Künstlerkreisen ebneten ihm den Weg zu seinem Debüt »Sklepy cynamonowe« ("Die Zimtläden«, 1934). Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sie bis in die jüngste Vergangenheit meist bloß als Muse des Schriftstellers galt und der Erfolg seines Buches ihre Prosa »Akacje kwitną« (poln. 1936, jidd. »akatsies blien« 1935, dt. »Akazien blühen« 2016) in den Schatten stellte. Schulz bezeichnete ihre Montagen als originäre literarische Leistung, betonte aber auch den Unterschied zwischen ihrer und seiner literarischen Welt; sie sei sehr anspruchsvoll, ihr Bruch mit konventionellen Formen ziehe dem Publikum den Boden unter den Füßen weg. In der Tat bekannte sich die Dichterin zum Konstruktivismus, die eigenwillige Wirklichkeit ihrer Gedichte und Prosa basierte auf Raumkonzepten der künstlerischen Avantgarde. Bewußt ließ sie den Raum mal kugelförmig, farbig und elastisch, mal erdrückend flach erscheinen. Doch waren es keine rein rhetorischen Experimente; die sich ständig verändernden Formen zielten darauf ab, existentielle Sehnsüchte und Ängste zu vermitteln.

Oft spürte Vogel dem Leben dort nach, wo Menschen um den Raum ringen, ihn verwandeln und neue geometrische Ordnungen einrichten. Dem Bau einer Bahnstation oder eines Brückenpfeilers widmete sie konstruktivistische Montagen. Die Welt der Ingenieure kannte sie aus nächster Nähe, war sie doch seit 1931 mit dem Ingenieur Schulim Barenblüth (1896 –1942) verheiratet, dessen Wiederaufbau einer durch Hochwasser zerstörten Brücke ihr gleichfalls Stoff lieferte. Eine Ingenieurin war auch ihre geliebte Cousine Judith Malz (1900 –1929), die als Führerin der Jugendbewegung Haschomer Hazair um 1919 nach Palästina ging, um die Kibbuzim aufzubauen, dann aber an der Technischen Universität Wien studierte und bei der Ersten Wiener Eisenbahn-Gesellschaft eine Stelle fand.

Vogel betrachtete das Bauen im Sinne der Bauhaus-Künstler nicht nur als technische Angelegenheit, sondern im Zusammenhang mit seinen sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Dimensionen. Zusätzliche Inspiration empfing sie von den Forschungen der Moskauer Kunsthochschule zu emotionalen Raumdynamiken, von dem in Łódź tätigen Maler Władysław Strzemiński, der mit dem Unismus eine extreme Spielart des Konstruktivismus schuf, sowie der Bildhauerin Katarzyna Kobro, der Hauptvertreterin der konstruktivistischen Raumkunst.

In Vogels schlichten Versen und monotonen Rhythmen entsteht eine Welt voller Spannungen, in der Bewegungen fortwährend erstarren. Erlesenen Metaphern zieht sie einfache Vergleiche vor, konfrontiert das Gehobene mit dem Trivialen. An Cyprian Kamil Norwids poetologische Betrachtungen über die Stille als Essenz jeder Dichtung anknüpfend, bezeichnete Vogel abgedroschene, farblose, langweilige und unpersönliche Wendungen als »weiße Wörter« und erklärte sie zum tragenden Element ihrer Wortkunst. Norwid beeinflußte Vogel nicht nur als Philosoph und Kunsttheoretiker, er faszinierte sie auch als beispielhafter künstlerischer Einzelgänger, als Maler, Bildhauer und seiner idée fixe folgender Dichter, der die bildende und die Wortkunst in seiner Person vereinte. Sein Schaffen läßt sich nicht leicht einem literarischen Stil zuordnen. Erst drei Jahrzehnte nach seinem Tod wurde er wiederentdeckt.

Der Entdecker und Förderer Norwids, Zenon Przesmycki (genannt Miriam), setzte sich in der zwischen 1901 und 1907 von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Chimera« für eine elitäre Kunst ein, die über jeder Propaganda steht und keine Kompromisse eingeht. Auch der verkannte französische Schriftsteller Villiers de L’Isle-Adam war in den ersten Nummern präsent, und es ist wohl kein Zufall, daß Vogel sich in ihrem Essay über das Wohnen ausgerechnet auf den Verfasser der »Eva der Zukunft« beruft. Die »intellektuelle Sinnlichkeit«, von der sie im Kontext der neuartigen Phantastik der geometrischen Linie spricht, ist ein Schlüsselbegriff ihrer eigenen Poetik und führt zu einer »Lyrik kühler Statik und geometrischer Ornamentik«, wie sie im Vorwort ihres Bandes »togfiguren« ("Tagfiguren«, 1930) ausführt. Vogels geometrisierende Weltschilderungen waren ein Versuch, Verfahren der modernen Malerei auf das Schreiben zu übertragen. In ihrem zweiten Gedichtband »manekinen« ("Schneiderpuppen«, 1934) sind die Texte wieder schlicht und monoton, werden aber durch explizite Bezüge zur Malerei (u. a. de Chirico, Utrillo und Max Ernst) und synästhetische Beschreibungen anschaulicher. In dem Zyklus »Schundballaden« fließt die reale Welt in Form geschickt verfremdeter Zitate ein: Vogel montiert Fragmente von Schlagern, Plakaten, Anzeigen, Tangotexten und aus Brechts »Dreigroschenoper«. Im letzten Zyklus des Bandes, »Legenden des 20. Jahrhunderts«, reagiert sie polemisch-ironisch auf das Weltgeschehen.

In Vogels Texten bewegt man sich meist in städtischen Räumen. Eine wichtige Rolle spielen Fabriken, in denen sich die neue Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft manifestiert: Der Lebensrhythmus wird von Maschinen bestimmt und folgt immer weniger biologischen Rhythmen. Die Dichterin verzichtet jedoch auf detaillierte Beschreibungen mechanischer, etwa vom Fließband diktierter Bewegungen, durch welche die Menschen ihrer Lebenskraft beraubt und zu Puppen degradiert werden. Die entfremdete »einsame Masse« schildert sie in einem Raum »flacher« Stille, in dem sich die nüchternen, monotonen Bewegungen verwandeln. Man weiß auf einmal nicht mehr, was mit den überflüssigen Händen und Füßen zu tun ist. Man geht auf die Straße und bleibt dort allein inmitten der Menschenmasse, die durch Warenhäuser strömt, sich vor den Vitrinen der Autosalons aufhält und in Kinos und Bars nach dem wahren Glück sucht, um das eigene Leben zu vergessen. Debora Vogel verbindet die marxistische Auffassung vom Individuum als gesellschaftlichem Produkt mit der hegelianischen vom Menschen als Geschäftsträger des Schicksals. Ihre Texte zeigen sowohl die abstumpfende Arbeitslosigkeit als auch die sinnentleerte, durch Hyperproduktion bestimmte Konsumwirklichkeit.

In dem hier erstmals abgedruckten Essay über die soziale und psychische Bedeutung der Wohnung stellt sie den bewohnten Raum in den Kontext eines Kampfes und beleuchtet Aspekte des Ringens um die neue Architektur: Lebensräume für den Neuen Menschen zu schaffen war ein zentrales künstlerisches Anliegen der klassischen Avantgarden. Vogel verwebt Stimmen und Ideen ihrer Zeit zu einem dichten Gedankengeflecht. Simultaneität, Transparenz und Rasterung des Raumes, Funktionalität und Stofflichkeit der Dinge beschäftigten Kunstschaffende in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum standen der Mensch und seine »Gehirnhygiene« (Bruno Taut), seine gebesserte Moral und stärkere geistige Beweglichkeit (Mies van der Rohe), seine reizbaren »modernen« Nerven (Adolf Loos) und die Verkümmerung der Emotion in überfüllten, normierten, geschlossenen Räumen.

Als Kunstkritikerin wußte Debora Vogel, daß manche Zeitgenossen die moderne Architektur als Erzieherin zu einer neuen Geistigkeit verstanden. Paul Scheerbart veröffentlichte 1914 sein utopisches Werk »Glasarchitektur«, in dem er zur Auflösung der klassischen Struktur der Großstädte, zum Ausbruch aus geschlossenen Räumen aufrief. Die Kultur sah er als organischen Sproß der Architektur an. Um also die Kultur auf ein höheres Niveau zu bringen, müßten die Menschen erst ihre Architektur neu gestalten, was nur dann möglich sei, wenn man die Wohnräume öffne: Ersetzte man die Wände durch Glas, so entstünde auch eine neue, offene (Glas-)Kultur. Scheerbarts Phantasien wurden eifrig gelesen und weitergeführt, unter anderem von Walter Benjamin. In seiner Miniatur »Spurlos wohnen« übte er scharfe Kritik an der Gemütlichkeit bürgerlicher Interieurs, wo überall Spuren der Bewohner zu finden seien. In möblierten Zimmern werde einem das Leben bis zum Ersticken vorgeschrieben. Man werde selber zu einem »möblierten Herren«, der ganz von fremden Gewohnheiten bestimmt sei. Die neue Architektur, in der man nicht so leicht eine Spur hinterlassen könne, weckte zumindest die Hoffnung auf einen Bruch mit dieser Kultur. Umgeben von klaren Flächen und einfachen geometrischen Formen sollten sich die Menschen im Raum selbst neu (er)finden.

Eine Vision des vollständigen Abbaus architektonischer Barrieren, etwa von Wänden, die zum Abbau gesellschaftlichen Mißtrauens führen sollte, formulierte Adolf Behne in seinem Buch mit dem programmatischen Titel »Neues Wohnen, neues Bauen« (1927). Der Weg zu einem ganzheitlichen Bauen führte für ihn über die Schlichtheit, die er mit Offenheit und Solidarität kurzschloß. 1929 erschien »Befreites Wohnen« von Siegfried Giedion, ein weiteres Plädoyer für eine offene, solidarische Gesellschaft. Die Avantgardisten der Zwischenkriegszeit suchten nach Möglichkeiten, Grenzen zu verschieben oder gar aufzuheben. Formendurchbrechend, leicht, beweglich und gemeinschaftsstiftend sollten Denken und Leben sein. Leere, Licht und Transparenz sollten bürgerlicher Behaglichkeit wie auch den Gefahren einer anonymen Massengesellschaft entgegenwirken. Entworfen und gebaut wurden Gemeinschafts- und Sozialwohnungen mit funktionalen Räumen sowie Wohnquartiere in gesunder Umgebung.

Es war klar, daß darin ein revolutionäres Potential steckte: Wohnen sei immer aktiv und beeinflusse unser Leben, behauptete der von Vogel zitierte Ludwig Neundörfer in seinem Buch »So wollen wir wohnen« (1931). Verrät die Ausstattung einer Proletarierwohnung »das Schielen nach Bürgerlichkeit«, so ist das intellektuelle Streben nach Schlichtheit eine Abgrenzung von der bürgerlichen Denk- und Lebensweise. Die schmale Schicht der Geistesarbeiter, die während der Weltwirtschaftskrise um ihre Existenz fürchten mußte, galt als eigentlicher Vermittler dieses Neuen Wohnens. Der Intellektuelle, so Neundörfer, kann sich oft nur mühsam behaupten und wird, zumal zu Beginn seiner Laufbahn, meist nur dürftig entlohnt. Anders als beim Proletarier ist sein Lebensweg aber nicht determiniert, er empfindet die Einengung durch den gegebenen Status nicht so stark wie ein Arbeiter und kann offener denken. Die Gestaltung seiner Wohnung wird also zu einem offenen Werk, sachlich, klar und strukturiert. Sachlichkeit entsteht, wo alles Unnötige verschwindet, wo das Denken sich an den Hauptsachen orientiert. Sachlich denken heißt aber, in jeder Disziplin sozial zu denken (Behne).

Urbanismus war für Debora Vogel der Inbegriff des modernen Lebens in seiner ganzen Komplexität. Die Natur außerhalb der Städte empfand sie als Leere, Stille und unberührbare, ja sogar menschenfeindliche Ferne. Montierte man dagegen Berge, Meere, Flüsse, Bäume, Früchte und Gräser in die urbanen Räume, würden daraus frische und berauschende Metaphern des Schicksals. Merkwürdigerweise wirken in Vogels Universum alle Dinge belebt bis auf die Menschen, die ausdruckslos und marionettenhaft zwischen Erwachen und Zubettgehen nichts zu tun wissen als zu warten. Es gibt weder Schutz noch Geborgenheit, nur den monotonen Rhythmus der Wiederholung, matt und süß wie das Leben.

Wer sich in Vogels Gedankenräumen zu Hause fühlen möchte, muß diesen stumpfen, stillen Rhythmus akzeptieren und in der scheinbaren Banalität das gesellschaftskritische Potential subversiver, grenzsprengender Kräfte erblicken. Denn Vogel stellt uns die Statik als höchstes Stadium der Dynamik vor, verwandelt Abgedroschenes in intellektuelle Kunst und betitelt ihre Antikriegsgedichte, seltsam genug, »Blühende Kartoffel 1939« oder »Berge im Jahr 1939«. Ob und wo sie diese Proteste gegen einen Krieg veröffentlicht hat, zu dessen Opfer sie samt Mann, Sohn und Mutter 1942 im Lemberger Ghetto wurde, ist bisher nicht bekannt.

SINN UND FORM 1/2017, S. 111-116