Leseprobe aus Heft 6/2016
Stoessel, Marleen
Mythos Georgien?
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem »panischen Schlaf« verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: »Mythos Georgien«, die Elogen und Superlative, die Projektionen und Klischees, die uns jeder Reiseführer, jede Reisewerbung bietet. Mythos ist immer Erzählung, Legende, ihre besungene, gefilterte Wahrheit und ebenso ihre verzerrte, historisch vielfach entstellte Wahrheit, die Lüge. Von beiden Arten hat dieses uralte Land, dessen westlicher Saum am Schwarzen Meer einst Kolchis hieß – Sehnsuchtsort der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies –, übergenug. Das Alter und die Sprache, die keiner der großen bekannten Sprachfamilien angehört, tragen dazu bei. Mehr konsonantisch als vokalisch, wirkt ihr Klang wie aus Holz und kaukasischem Mineral gemeißelt, dem Auge aber präsentiert sich ihre runde, ornamental geschwungene Schrift wie in Gold geprägt, oder wie das einstmals aus den Wassern »gevlieste« Gold.
Dort, in Batumi, direkt am Ufer des Schwarzen Meers, ragt heute ein neun Meter hohes Kunstwerk empor, eine kinetische Skulptur der Künstlerin Tamara Kvesitadze, »Man and Woman« genannt. Zwei aus vielen schmalen Aluminiumringen bestehende Figuren, männlich und weiblich, bewegen sich allabendlich aufeinander zu, verschmelzen miteinander und entfernen sich wieder. Allegorien all jener Differenzen, die unser Eigensein und Anderssein bezeichnen, ob geschlechtlich, ethnisch, kulturell. »Ali und Nino« werden sie im Volksmund genannt, nach dem berühmten Roman von Kurban Said, der die Geschichte einer Liebe zwischen der georgischen, europäisch-christlich erzogenen Nino und Ali, dem muslimischen Sohn aus vornehmem aserbaidschanischen Haus in Baku, erzählt. Eine Liebe, die alle kulturellen Kluften zu überbrücken scheint und doch an ihnen scheitert.
Ihr Verfasser stellt einen eigenen Mythos dar, dessen Webmuster aus seinen drei Namen gebildet ist: Zwei Pseudonyme, Kurban Said und Essad Bey, überblenden seinen eigentlichen Namen Lev Nussimbaum, als der er 1905 in Baku geboren wurde, als Sohn eines aus Tiflis stammenden jüdischen Ölbarons und einer russisch-jüdischen Revolutionärin und Stalin-Vertrauten, die Selbstmord beging, als Lev gerade sechs Jahre alt war. Revolution und russische Okkupation vertrieben Vater und Sohn aus dem Land, nach abenteuerlicher Flucht quer durch die benachbarten Länder landeten sie 1920 in Berlin. Dort konvertierte der Gymnasiast Lev zum Islam, nannte sich von da ab Essad Bey, später dann, als weitere Tarnung gegenüber den Nationalsozialisten, auch Kurban Said. Mehrere Dutzend Bücher hat der mit 36 Jahren schwerkrank und verarmt in Positano verstorbene Nussimbaum hinterlassen, darunter auch Biographien Mohammeds und Stalins. Eine Gedenktafel mit seinem Porträt erinnert gegenüber dem Berliner Literaturhaus an den heute weitgehend Vergessenen. Hundert Jahre später folgte der amerikanische Journalist Tom Reiss den Spuren, man könnte auch sagen: der einzigartigen Schelmengeschichte dieses Autors, der sich selbst zum Mythos stilisiert hatte, und es gelang Reiss in seinem höchst spannenden Buch »Der Orientalist«, Lev Nussimbaums Geheimnis weitgehend zu lüften.
Nicht zuletzt der Roman »Ali und Nino« war es, der vor über zwanzig Jahren meine Sehnsucht nach diesen Ländern jenseits des Schwarzen Meeres weckte, der mir Ansätze für mein Verstehen fremder, muslimischer Sitten und Ehrbegriffe vermittelte und mir desto schärfer die westliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten, dem »Orient« vor Augen führte. In meinen Literaturlexika suche ich bis heute Roman und Namen des Autors vergebens, obgleich doch gerade in der Auseinandersetzung mit dem seinerzeit von Edward Said kritisch ins Feld geführten Begriff des »Orientalismus« Lev Nussimbaums ebenso ironische wie ernstgemeinte Maskerade erhellend ist. Dem Erstaunen über diese Leerstelle sekundiert die Tatsache, daß es erst Navid Kermani mit seiner Paulskirchenrede gelang, das mit westlich-aufklärerischer Arroganz verdrängte Bild der uralten islamischen und arabischen Kulturen wiederzuerwecken. Als gäbe es dort nur primitive, brutale Völker und Stämme und nicht Gelehrte wie Avicenna, Kultur- und Dichterheroen wie Hafis, Al Ghazali oder Rumi, letztere auch Angehörige der Sufis, die freilich bis heute, so wie früher alle unorthodoxen Strömungen in den monotheistischen Religionen, verfolgt werden.
Diese tief dem Mythos »Orient« eingelagerten Schätze, die es auch im Westen neu zu heben gilt – sie wären heute gleichsam das »Goldene Vlies«. Und förmlich wie ein Vlies am eurasischen Körper zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich auch das kleine georgische Land, am nordwestlichen Ende beschnitten um das abtrünnige Abchasien und tief und wund eingerissen in der nördlichen Mitte durch das zwar autonome, aber de facto besetzte Südossetien, von den Russen scharf an seinen Grenzen bewacht.
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Vliesähnlich – das Wurzelwerk der Metapher reicht weit – auch die im nächtlichen Anflug in warmen Lichtern blinkende, sich längs des Flusses Mtkwari dehnende Stadt, die bis heute als eine der schönsten des näheren Ostens gilt: Tiflis oder, in der Sprache ihrer Bewohner heute: Tbilisi. Von heißen Schwefelquellen, die in alten osmanischen, kuppelgedeckten Anlagen noch als Heil- und Wellnessquellen sprudeln, hat die Stadt ihren Namen.
Nun lag sie vor mir im Sonnendunst, in dem ich nach einer kurzen Ankunftsnacht erwachte. Geweckt wie jeden Morgen von der absteigenden Melodie eines Ausrufers, der, wenn ich ans Fenster stürzte, grad mit seinen Tüten um die Ecke bog. Erst kürzlich erschloß sich mir sein Ruf, den ich mir rein phonetisch notiert hatte: Mazoni malaco! "Mazoni« für Joghurt und »malaco« russisch für Milch, ebenso wie den letzten noch chiffrierten Rest »Zchneti«, der den Ruf rhythmisch skandierte: Joghurt und Milch, frisch aus den Bergen, wo auf holprigen Wegen Kühe und Schafe den Autos gelassen die Vorfahrt nehmen. Und aufwärts steigend, in gleißende Weite, dehnte sich vor mir das Panorama der Stadt: darin die zahlreichen Türme der orthodoxen Kirchen, manche funkelnd in der Sonne, und jenseits des Flusses der wulstige Bau der neu errichteten Sameba-Kathedrale und der dem Berliner Reichstag nachempfundene kuppelgekrönte Präsidentenpalast.
Tief unter meiner Terrasse aber die Altstadt. In ihr schlägt das Herz der Stadt, in ihr wachte ich auf, dort bin ich stundenlang durch die staubige Hitze zwischen den verfallenden, windschiefen, zerrütteten Häusern gelaufen, wo nur einzelne schmiedeeiserne Gitter und Balkone – jene typischen, mit ihren holzgeschnitzten, etwas venezianisch anmutenden Loggien – und die Reste von Ornamenten und Dekor an einstige Pracht erinnern. Ein schweres Erdbeben hat 2002 den Verfall weiter befördert, dessen »Poesie« angesichts der Verwüstung, die kaum eine schützende Maßnahme aufzuhalten scheint, nur noch stellenweise zu finden ist. Es ist wie bei den alten Fresken, die ich in den vielen uralten Kreuzbasiliken sah: Sind sie zu ramponiert, beschädigt, verblaßt, bleibt nur noch wenig von ihrer Aura – leichtere Beschädigungen freilich wecken im Betrachter jene Imagination einer Schönheit, die in solcher Vollkommenheit vielleicht nie bestand.
Ein Bild des Verfalls, verfallender Schönheit, das mein Traum-Erinnerungsbild auf eigentümliche Weise grundiert: Als stünde die Zeit wie in jener »panischen« Mittags-Hitzestunde still, als hielte sie den Atem an, erzeugte eine scheinhafte Leere, ein Vakuum, in dem die Zeichen jüngster und vergangener, ja auch uralter Geschichte ein Muster von Hoffnung und Bedrohung zugleich ergeben, ein Nachbild, in dem die Trümmer und Reste dieser Geschichte sich zu einer Konstellation der Möglichkeiten fügen, von denen – und wie sie ergriffen werden – mir das zukünftige Schicksal dieser Stadt, dieses Landes und seiner Menschen abzuhängen scheint.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 779-789, hier S. 779-782