Leseprobe aus Heft 4/2016
Joubert, Joseph
»Ich glätte nicht meine Sätze, sondern meine Gedanken«. Aus den Notizbüchern
Vorbemerkung
»Er schrieb nie ein Buch«, so Maurice Blanchot über Joseph Joubert, »er traf lediglich Vorbereitungen, eins zu schreiben.« Ein Leben lang hat Joubert an seinen Aufzeichnungen in den »Carnets« gearbeitet, beinahe jeden Tag. Die Notate sind keine Zeugnisse einer aufregenden Existenz, Jouberts Leben war eher unspektakulär. Am 7. Mai 1754 in Montignac-le-Comte geboren, schickt man ihn mit vierzehn nach Toulouse, wo er die Rechte studieren soll, aber schon nach wenigen Wochen gibt er wieder auf und tritt einem Orden bei. 1778 geht er nach Paris, wo er mit einigen literarischen Größen seiner Zeit in Berührung kommt, darunter Louis de Fontanes und Diderot, dessen Sekretär er wird. 1790, nach der Revolution, ist er Friedensrichter in der heimischen Dordogne, bald danach, und auch das nur für kurze Zeit, Oberaufseher über die Universitäten Frankreichs. Er heiratet eine wohlhabende Frau und zieht sich aufs Land zurück, wo er sich der Erziehung seines Sohnes widmet und schreibt. Neben zahlreichen Briefen sind es Aufzeichnungen über die Kunst, das Schrei ben, über Fragen der Ethik, der Politik, des Glaubens und vieles mehr. »Im Eifer des Schaffens«, schrieb sein Schüler Mathieu Moré, der spätere Ministerpräsident Frankreichs, »verliebt er sich in eine Formulierung, die in ihm tausend verschiedene Eindrücke wachruft; seine Imagination erhitzt sich dadurch und hebt ihn in die höchsten Sphären, stürzt ihn in Träumereien, denen er nur entrinnt, indem er die Vorhänge zuzieht, Kräutertee trinkt, seine Tür verriegelt und stumm bleibt, bis die Einsamkeit und Stille seine Fähigkeit, sich zu freuen, wieder hergestellt haben.«
Jouberts Notate sind weder so streng noch so schematisch wie die Reflexionen La Rochefoucaulds oder Chamforts. George Poulet nannte Joubert denn auch den poetischsten unter den französischen Moralisten. Immer wieder wurde er gedrängt, seine Gedanken zu publizieren. Er mochte nicht. Für sein denkendes Umherschweifen kam eine Veröffentlichung offenbar immer zu früh. Über seine Publikationsunlust ist viel gerätselt worden. Erst vierzehn Jahre nach seinem Tod 1824 wurde Joubert zu einem publizierten Autor, doch dabei wurde sein Werk auch verfälscht.
Besorgt haben dies seine Freunde, allen voran sein Schüler Chateaubriand, der bei der Herausgabe der Joubertschen Aufzeichnungen einen kapitalen Fehler beging. Er riß nämlich die Notizen, Lesefrüchte, Essays en miniature, Bonmots, Einzelsätze, Fragmente, Kritiken, Skizzen und Aphorismen aus der zeitlichen Folge, in der sie entstanden waren, und gruppierte sie nach Themen. Ausgerechnet Joubert, der in eine permanente Suche verwickelt war, sich darum auch gelegentlich wiederholte und immer wieder bei früheren Notizen und bei den Klassikern ansetzte, war nun auf eine Serie von rubrifizierten Aphorismen reduziert.
Auch diese sind eindrücklich. Aber weit eindrücklicher ist der Einblick in sein Denken, wie es sich in der französischen vollständigen Ausgabe seiner Aufzeichnungen präsentiert. Ein Denken, das sich in Schüben voranarbeitet, sich Gewißheiten und Fragen wie kleine Bretter auslegt, über die es fortschreitend zu weiteren Erkenntnissen und Zweifeln gelangen kann. Das Offene, allzeit Tastende, manchmal Banale und dann wieder Helle, das hier oft dicht nebeneinander steht, trägt zwar in vielem den Stempel seiner Zeit, ragt aber auch auf vertrackte Weise in die Moderne. Auffallend ist beispielsweise, wie oft Joubert der Verlockung einer Pointe widerstehen kann. Oder wie er eine Überlegung plötzlich abbricht und diese fragmentarisch festhält, gleichsam probeweise, oft mit dem anschließenden Vermerk, er werde darauf zurückkommen. Es zeigt sich ein schreibendes Ich im Wirbel seiner fortgesetzten Bemühungen um Präzisierung, um Einkreisung des Gegenstandes. Um das Selbstgespräch in Gang zu halten und sich die notwendige Luft zu verschaffen, setzt Joubert fiktive Gesprächspartner ein, zitiert Gegenstimmen, läßt Sätze unvermittelt enden − hier finden sich frühe Spuren eines prismatischen Denkens, das immer wieder überrascht. Joubert ist einer der großen Vergessenen der französischen Literatur, »un auteur sans livre, un écrivain sans écriture« (Blanchot).
Martin Zingg
1783
Oft liebt und lobt man unsere guten Eigenschaften nur darum, weil unsere Mängel deren Glanz mäßigen.
Ein mißtrauischer Jüngling läuft Gefahr, eines Tages hinterlistig zu werden.
Erinnern wir uns daran. – Woran denn? − Daß es nicht die Sonne am Himmel ist, die wir sehen, sondern jene auf dem Grunde unserer Retina.
Einem weisen Menschen kann man gut sagen, »Sie sind verrückt«. Einem geistvollen Menschen kann man gut sagen, »Sie sind ein Narr«. Aber wie einem Narr sagen, daß er ein Narr ist, und einem Verrückten, daß er verrückt ist?
Man sollte, was man fühlt, erst nach einer langen Erholung der Seele schreiben: Man muß nicht ausdrücken, wie man sich fühlt, sondern wie man sich erinnert. Ich werde sagen, warum.
Wenn in einer Nation ein Individuum geboren wird, das einen großen Gedanken fassen kann, wird ein anderes geboren, das fähig ist, diesen zu verstehen und zu bewundern.
1787
Jedes Werk von Geist, ob episch oder lehrhaft, ist zu lang, wenn es nicht innerhalb eines Tages gelesen werden kann.
Das Entscheidende ist nicht, daß es in einem Werk viele Wahrheiten gibt, sondern daß darin keine einzige Wahrheit verletzt wird.
1791
Wir bitten Sie, alles zu empfangen, was Sie uns geben wollen!
Korrekt ist man nur, indem man korrigiert.
Durch die Erinnerung erhebt man sich gegen die Zeit, durch das Vergessen folgt man ihrem Gang.
»Es ist nicht der Autor, der den Fehler begangen hat, es ist die Zeit«, sagte Aristarch, als er von den Schönheiten der alten Schriften sprach, für welche die nachfolgenden Generationen nicht mehr empfindlich sein können. Womit er zu Recht behauptete, daß nicht die Speisen und deren Geschmack sich verändert haben, sondern die Vorlieben.
Beklagen Sie sie wie Abwesende, nicht wie Verlorene.
1793
Unterrichten heißt zweimal lernen.
Möge der Himmel den Bösen verzeihen, nachdem er sie bestraft hat.
Um zu leben, braucht man wenig Leben. Um zu lieben, braucht man viel.
1795
In der Politik muß man der Opposition stets einen Knochen zum Nagen lassen. Gehen Sie weit und vollenden Sie nicht.
Anmerkung. Das Paradoxe drückt meistens ein wahres Verhältnis aus, dessen Gegenteil ebenso wahr ist.
1796
Die Alten kannten die Anatomie nur aus dem Krieg. Alles, was sie darüber wußten, hatten sie auf den Schlachtfeldern gelernt.
Die Notiz ist besser als das Buch.
Ich werde den Träumen einen Tempel errichten.
Condorcet. Es ist wahr, daß er nur allgemein bekannte Sachen sagt, aber er scheint sie erst zu sagen, nachdem er lange darüber nachgedacht hat, und das ist es, was ihn auszeichnet.
Wenige Menschen sind der Erfahrung würdig. Die meisten lassen sich von ihr korrumpieren.
Eine Regierung nur für Nörgler.
Gott ist der Ort, wo ich mich nicht an das übrige erinnere.
1797
Die große Zahl der Bücher nimmt einem die Lust daran und tötet das Vergnügen.
Liebende. Wer nicht deren Schwächen hat, kann nicht deren Kräfte haben.
Die Einbildungskraft hat mehr Entdeckungen gemacht als das Auge.
»Es ist mir recht«, sagt er, »daß man mir die Stücke schneidet, aber ich will nicht, daß man sie mir vorkaut.«
Werk, das nach Sonne riecht, Werk, das nach Kerze riecht.
Denk daran, deine Tinte gären zu lassen.
[…]
Aus dem Französischen von Martin Zingg
SINN UND FORM 4/2016, S. 509-517, hier S. 506-509